Parlamente und Fraktionen

Von Dr. Cajus Moeller.
“Solch ein Ding möchte ich auch haben”, ist nach der Ansicht eines germanischen Nachbarvolks eine ständige deutsche Redensart. Auf jeden Fall scheint die Volksvertretung an der Hunte jetzt diesem Gedanken nachleben zu wollen. Der oldenburgische Landtag hat bisher ohne Fraktionsbildung existiert, und meines Erachtens könnte ihn die Beschäftigung mit der Erbfolgefrage seines Landes dafür ausreichend entschädigen.

Durch eine merkwürdige Ironie haben die späteren rednerischen Koryphäen des deutschen Reichstags: Bennigsen, Miquel und Windthorst gerade auf diesem Boden ihre parlamentarische Schulung erhalten. Im übrigen ist es nur recht und billig, daß auch die oldenburgischen Volksvertreter sich mit inneren Parteisorgen zu beschäftigen haben.

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Höchst idyllisch ging es auch in der schleswig-holsteinischen Landesversammlung zu, unbeschadet mehrerer hervorragender Kapazitäten. Man durfte dort Reden verlesen, und somit wäre nicht angegangen, was nach der Aussage bayrischer Abgeordneter im Zollparlament 1868 Freiherr Georg von Vincke dem Dr. Simson mit bezug auf einen südmainischen Neuling zugerufen hat: “Herr Präsident, der Gerl liest ja vor.” Dort an der Schlei hatte eines Tags ein auf Grund reichlicher Grogspenden von dem Elbort Blankenese zum Vertreter erkorener alter Schiffskapitän sich von einem befreundeten Schullehrer eine Darlegung der heimatlichen Ortsverhältnisse ausarbeiten lassen; nach langer Verzögerung setzte der stark humoristisch veranlagte und in der Jugend selbst seebefahrene Prãsident Jensen, der Vater Wilhelm Jensens, die Blankeneser Hafenfrage auf die Tagesordnung. Halb Blankenese befand sich auf der Tribüne, um den Triumph des beliebten Vertreters mitzugenießen. “Meine Herrens, die Blankeneser Hafenfrage”, begann dieser zuversichtlich. Er tat dann einen Griff in die Brusttasche und stieß den erstickten Schmerzensruf aus; “Ick hev em hüt nich bi mi”. Worauf er alsbald das Rednerpult und den Saal räumte; er ist dort ferner weder gehört, noch gesehen worden. Zur Feier des Tags hatte der Unglückliche seinen Sonntagsrock angezogen, das Manuskript aber in dem Alltagsgewand stecken lassen. Verhältnismäßig hochgebildet war dafür damals der Ton in der konstituieren den mecklenburgischen Landesversammlung, in der als gemäßigter Liberaler der alte Hochverräter Fritz Reuter saß und sich als eifriger Kompromißredner erwies; es war dort mindestens viel kultivierter als gleich nach 1850 in wiedergekehrten und noch immer den feudalen Glanz bewahrenden Landtag, wo in der ersten Freude des wiederhergestellten Rechts die Herren Landstände einander gelegentlich mit Tätlichkeiten bedroht haben sollen und jedenfalls die schmetternd auf den Tisch des Hauses gelegte männliche Rechte ein sehr beliebtes Argument bildete.

Gemütlicher lebte es sich somit wohl ohne Fraktionen, wie der selige Wilhelm v. Meyer- Arnswalde zu sagen pflegte: “Es geht auch so.” Keine der wirklichen Reichstagsfraktionen ist jemals so beliebt gewesen wie die formell gar nicht vorhandene “Fraktion Müller”, die Versammlung der diätenlosen Herren vor dem wohlbesetzten Reichstagsbüfett, dem “Stehwein”, wie ihn vor zwei Menschenaltern der zu Unrecht vergessene Münchner Maler und Novellist Friedrich Leutner taufte. Mit gutem Grund liegt in dem seit 20 Jahren provisorischen Kopenhagener Reichstagsgebäude das Frühstückszimmer gleich mitten zwischen Volksthing und Landsthing und wird der Kürze halber das Schnapsthing genannt. Auch in Deutschland war es ursprünglich in dieser Hinsicht zwangloser. Im Frankfurter Parlament hießen die Parteien überwiegend nach ihren Stammgasthöfen, und der einst mit der Hand einer schönen Witwe an Goethes thüringischen Großvater vergebene “Weidenbusch” vereinigte eine besonders stattliche Partei; auch in unserm Abgeordnetenhaus nannte man sich anfangs mehrfach nach den geselligen Hauptquartieren; aus den Tagen der neuen Aera ist alten Zeitungslesern noch eine Fraktion “Kellner” erinnerlich. Der Ausdruck “Fraktion” wird sogar auf diese Zeit zurückgeführt; süddeutsche Witzblätter verspotteten das Wort und wollten aus ihm philologisch korrekt auf die brüchige Beschaffenheit des Berliner Verfassungswesens schließen.

Das Fraktionsleben ist eigentlich aus England übernommen wie das Wort Klub, das etymologisch die später zum Stab verfeinerte Keule des Türhüters bedeutet. Man hat das nachher wohl hier und da auf den Terrorismus gewisser Fraktionshäupter ausdehnen wollen. Jenseits des Kanals, wo in der jetzt freilich schon stark abgewelkten klassischen Zeit des Parlamentarismus zwei große Parteien abwechselnd die Geschäfte des Landes leiteten und die Ministerposten unter ihre Führer verteilten, besitzt das weit mehr Sinn.

So weit ist es bei uns eben noch nicht. Chor der Landräte scholl es früher öfters von den Bänken der entschiedenen Reichstagsopposition, wenn die konservativen Abgeordneten einer Rede des Fürsten Bismarck begeisterten Beifall zollten.

Natürlich sollte damit auf die amtliche Abhängigkeit dieser Herren verwiesen werden. Anderseits war der beredteste Führer jener bürgerlichen Opposition, wenigstens zeitweilig, nicht eben durch Toleranz gegen die Fraktionsgenossen verrufen. Noch drastischer malt den Zustand das bekannte Wort aus der “freiheitlichsten” aller deutschen Parteien: “Wer sich nicht fügt, der fliegt.” Entsprechend verteilten hier und da die Parteiführer Mandate an Freunde, die der Wahlkreis nie gesehen hatte. Ein sehr geistvoller liberaler Publizist erhielt von einem jüngeren Parteigenossen einen sicheren Wahlkreis überwiesen, den er dann agitatorisch bereisen wollte. Zum Unglück oder vielmehr zum Glück wurde er krank, und der mitleidige Wahlkreis wählte ihn unbesehen mit starker Mehrheit. Als er nach dem Legislaturschluß Dank und Rechenschaft erstattet hatte, fiel er bei der Neuwahl klaftertief durch. Ein für das preußische Abgeordnetenhaus bestimmt gewesener Publizist von etwas radikalerer Tendenz hatte nicht das Heil, rechtzeitig zu erkranken, und erlag sofort dem persönlichen Mißfallen der Wähler.

Dem zur Indisziplin geneigten deutschen Wesen ist die parlamentarische Fraktionszucht sicher im allgemeinen gesund, aber sie besitzt doch sehr ihre Nachteile. Outsiders kommen heutzutage nicht mehr leicht auf, wie die parlamentarische Wirkungslosigkeit so begabter Redner wie Adolf Wagner und des Münchners M. G. Conrad bewiesen hat. Aber der größte Politiker des 19. Jahrhunderts, nicht nur in Deutschland, ist in seinen parlamentarischen Anfängen ein solcher Outsider gewesen und später auch als Parteimann stets geblieben; daß ihm die Kreuzzeitungsleute niemals völlig trauten, half Herrn von Bismarck mit auf den später für ihn so fruchtbar gewordenen Posten als Bundestagsgesandter in Frankfurt a. M.; man lobte ihn gewissermaßen weg. Heutzutage wäre dergleichen entschieden nicht mehr möglich. Die in das Parteileben eintretenden Begabungen müssen sich bescheiden, oder sie werden brachgelegt und das nächstemal nicht wieder gewählt; nicht bloß in den bisher genannten Fraktionen soll man davon ein Lied singen können. Die Folge davon ist dann gelegentlich wieder die Bildung neuer Unterfraktionen und Fraktiönchen; bei den “Deutschsozialen” z. B. zählt man annähernd so viele Gruppen wie Abgeordnete usw. Im Grunde regieren stets nur wenige Leute, und die Arbeit gelangt mehr und mehr an die Ausschüsse; geht es noch lange so weiter, dann erscheint am Horizont das Beispiel Altwürttemberg und Kurhannover, in welchen bis zuletzt ständisch regierten Ländern im 18. Jahrhundert nur noch der engere Landtagsausschuß zusammentrat. “Ich höre das Geklapper einer Mühle, doch sehe ich kein Mehl” zitierte als Mitglied einer koalierten Reichstagsmehrheit einmal Dr. Ludwig Bamberger; der geistvolle Skeptiker verzichtete bald nachher in einem völlig sicheren Kreis auf die Wiederwahl. Aber die Entwicklung geht ihren gewiesenen Weg, und wenn bekanntlich der Mensch im Leben alles probieren muß, weshalb soll nicht auch der oldenburgische Landtag das förmliche Fraktionswesen mit seinen Licht- und Schattenseiten kennen lernen.

Die Volksvertretungen im Deutschen Reich wie in den Einzelstaaten werden bleiben. Aber ihre Art kann sehr wechseln und wird es möglicherweise; wenn Cidher, der ewig junge, wiederkehrt, wird er vielleicht ganz andere deutsche Parlamente sehen als die heutigen. Ob er dazu gerade 500 Jahre brauchen wird, ist zweifelhaft; fünf bis sieben Menschenalter sind im Völkerleben des europäischen Festlandes mehrfach als die normale Dauer der Verfassungsformen bezeichnet worden.

Dieser Text erschien zuerst 1904 in Die Woche. Das Bild ist ein Beispielbild von Erich Westendarp auf Pixabay, der Originalartikel war nicht bebildert.