Von Professor Dr. Hans Groß.
Moderne Forschung befaßt sich nur mit Tatsachen: diese wahrnehmen, sie untersuchen und verbinden, heißt forschen; eine Tatsache wahrzunehmen, ist Sache des glücklichen und geschulten Blickes, die sie als wichtig und einer Behandlung wert unter tausend gleichgültigen herausfindet; untersuchen kann sie, wer kritischen Verstand und die Fähigkeit besitzt, die einzelnen Erscheinungen und ihre Gründe zu sehen und zu erklären; erst das Verbinden wahrgenommener und untersuchter Tatsachen gibt Erklärung des Ganzen und die Möglichkeit wissenschaftlicher Verwertung. Diese Arbeit besorgt aber selten einer allein; vor vielen Jahren hat einmal einer etwas wahrgenommen und festgehalten; dann kommt ein anderer und untersucht es, und erst viel später taucht ein dritter auf, der das von andern Wahrgenommene und Untersuchte zusammenlegt, die Fäden zwischen ihnen findet und jetzt erst Werte aus der Verbindung der Tatsachen zu schaffen vermag. Wir Kriminalisten befinden uns deshalb heute in einer eigentümlichen Lage; unsere Wissenschaft beruhte bis vor kurzem fast bloß auf metaphysischer Grundlage – die „ordinären“ Erscheinungen des Lebens fanden kaum in zweiter Linie Beachtung. Heute ist das anders geworden: zum Teil beobachten wir die Tatsachen unserer Fragen selbst, zum größeren Teil nehmen wir aber die Beobachtung von Erscheinungen aus fremden Disziplinen in die unsere herüber, wo sie aus andern Gründen Beobachtung und Studium gefunden haben und nur Anpassung auf unsere Frage brauchen; Erklärung und Verwertung finden sie dann, wenn wir sie mit andern Beobachtungen und Feststellungen verbinden können. Beispiele hierfür gibt es unzählige, und wohin wir sehen und greifen, finden wir Stoff und Arbeit im reichlichsten Maß; sagen wir etwa, wir wollten eine Erklärung für die so seltsamen „Verbrechen der Masse“.
Es ist altbekannt, daß sich der einzelne anders benimmt als die große Menge, und zwar regelmäßig die Einzahl besser als die Mehrzahl. Der steirische Volksdichter Rosegger hat einmal in psychologisch unvergleichlich richtiger Weise gesagt: „Einer ist ein Mensch – einige sind Leute – viele sind Viecher“ mit andern Worten: einer allein handelt vielleicht völlig richtig, befindet er sich aber in großer Menge, so handeln alle zusammen so unrichtig, wie es der einzelne nie getan hätte. Dies prägt sich namentlich dann lebhaft aus, wenn die gemeinsame Handlung als Reaktion auf irgend einen kräftigen Affekt zutage tritt; Schreck, Zorn, Aerger, Wut, Angst und Furcht. Darauf hat schon Th. Hobbes vor mehr als 2 ½ Jahrhunderten hingewiesen, und Napoleon I. hat davon gewußt, als er sagte: „Les crimes collectifs n’engagent personne“; später sprach C. J. Weber von einer „contagion moral“, und die bedeutendsten Geister arbeiteten an dieser Frage: Tarde, Laschi, du Camp, Garnier, Delterew, Faldello, Michellet, Legouve, Bain, Taine, Lexis, Ferri, Despine, Martin, Pugliese, Bordier, Sergi, Tocqueville, Lacretelle, Holtzendorff, Friedmann, vornehmlich aber Scipio Fighele.
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Als Beispiele werden immer angeführt die oft unbegreiflichen, sinn- und zwecklosen Grausamkeiten, Zerstörungen und Wutausbrüche des erregten Pöbels bei Aufständen und Massenangriffen, dann das Benehmen der Leute bei großen Unfällen, bei denen sie in grenzenloser Aufregung sich und die anderen schädigen und Verbrechen über Verbrechen begehen; erinnern wir uns der entsetzlichen Vorgänge bei der Trauung von Louis XVI. und Napoleon I. bei den Bränden des Wiener Ringtheaters und vieler anderer Theater, des Pariser Basars, beim Gedränge auf dem Chodinkafeld bei Moskau usw., endlich der Vorgänge bei Brückenübergängen flüchtender Truppen Elbe, Beresina, Elster usw.).
Aeußerungen von Leuten, die bei derartigen Vorgängen beteiligt waren, sind bezeichnend genug; mehrere von den beim Wiener Ringtheaterbrand Eingeschlossenen erzählen, daß Männer einfach mit den Fäusten oder Operngläsern oder geschlossenen Taschenmessern auf die Köpfe der vor ihnen eingekeilt Stehenden losschlugen, obwohl sie sehen mußten, daß diese gern gewichen wären, wenn sie nur gekonnt hätten. Ein Bauer, der als gemeiner Kürassier auf österreichischer Seite die Schlacht bei Königgrätz mitgemacht hat, schilderte mir den Uebergang über die Elbbrücke, die damals von den preußischen Kartätschen noch nicht erreicht, wohl aber bedroht war. Als der Kürassier mit einigen seiner Leute zur Brücke kam, war sie gepreßt voll von den Leuten zweier flüchtender kroatischer Fußregimenter „Und nun haben wir uns durchgehauen, um hinüber zu kommen“, sagte der Mann kurz, und als ich meinte, wie sie denn auf die eigenen Leute einhauen konnten, bekam ich die staatsrechtlich bedeutsame Antwort: „Es waren ja so nur Kroaten!“ Dann erging er sich aber darüber, wie unsinnig das Vorgehen gewesen sei – er gab zu, daß sie alle viel besser vom Fleck gelommen wären, wenn sie nicht gedrängt und dreingehauen hätten, „da durch die Niedergehauenen nur der Weg noch mehr versperrt wurde und mit dem Balgen viel Zeit verloren ging“.
Sehen wir uns solche Vorfälle genau an, und suchen wir sie zu erklären, so müssen wir vor allem zugeben, daß mit der Lösung durch „sinnlose Angst, Verwirrung, Wut usw.“ keine Klärung gegeben ist; diese Affekte sind lediglich neben oder auch vor dem besprochenen Handeln vorhanden gewesen, aber sie begründen es nicht; denn es ist kein logischer Zusammenhang zwischen auch der sinnlosesten Angst und dem Bestreben, seinem in der gleichen bedrohlichen Lage befindlichen Nebenmenschen den Schädel einzuschlagen, also zweifelsohne ein Verbrechen zu begehen, das die Situation des Täters nicht bessert und ihm dabei die Entschuldigung des strafrechtlichen Notstandes nicht verschafft.
Am ersten könnte man noch meinen, die Handlungen exzedierender Pöbelhaufen damit erklärt zu haben, daß man die geringere Gefahr des Entdecktwerdens für den einzelnen in der Masse heranzieht. Der einzelne wagt vielleicht nicht ein bestimmtes Verbrochen zu begehen, weil er sich vor dem Ertapptwerden fürchtet – handelt er aber in der großen Menge, so ist die Wahrscheinlichkeit gering, daß gerade er als Täter überführt werden könnte. Das trifft aber nur für ganz bestimmte Taten zu und erklärt daher nichts; es wird sicher richtig sein, daß mancher gern einen Laden ausräumen würde und es nur nicht tut, weil er es allein nicht zuwege bringt und weiß, daß er wahrscheinlich ergriffen wird. Befindet er sich aber in erregter Menge, so plünder er gern mit und erwischt seinen Anteil – an das Ertappt- und Bestraftwerden ist in einem solchen Fall nicht gut zu denken. Aber wie gesagt; das Plündern ist bei solchen Vorgängen nur ein kleiner Teil des Ganzen, meistens der Schlußeffekt, und die genannten psychischen Erwägungen sind nicht ein Motiv, sondern nur ein Nichtaufkommenlassen der entsprechenden Hemmungvorstellung, d. i. Furcht vor der Strafe. Das psychologisch Schwierige und das Problem Bildende sind die andern hauptsächlichen Teile des Vorgangs, die sinnlosen Grausamkeiten, die zwecklosen Zerstörungen und Beschädigungen, Dinge, die einen Selbstzweck darzustellen scheinen und nicht zur Erreichung eines Vorteils geschehen. Also; warum begehen aufgeregte Pöbelmassen sinnlose Grausamkeiten und Zerstörungen – warum schlägt der in höchst gefährlichem Gedränge Befindliche seinem Vordermann, der auch nicht weichen kann, den Kopf ein – warum hauen flüchtende Reiter auf das den Weg versperrende Fußvolk ein, wodurch sie nur noch schwerer vorwärts kommen? Das ist mit Angst, Aufregung, Wut, Verzweiflung und ähnlichen Affekten nicht erklärbar. Begreiflich ist nur, daß sich alle die genannten Leute in Angst und Verzweiflung befanden, denn hierfür gibt die todesgefährliche Situation, in der sie waren, genugsam Erklärung – aber warum sie nicht bloß Zweckloses, sondern auch Zweckwidriges, bloß den andern Schädigendes tun, das bleibt offene Frage; der Affekt ist begründet durch die Sachlage, aber er begründet nicht die weiteren Vorgänge. Gerade diese Begründung wollen wir aber haben, denn die Seele des Makroanthropos, wie Schopenhauer den Menschen in seiner Vielheit nennt, diese Seele ist oft genug verbrecherisch, und deshalb interessiert sie den Kriminalisten.
Halten wir nun Umschau unter den verschiedenen Versuchen der letzten Zeit, mit denen man seltsame psychologische Vorgänge – alle noch normaler Natur klarlegen wollte, so finden wir bloß einen, der hier helfen könnte: es ist die Theorie vom sogenannten reflektoiden Handeln, das zwischen den eigentlichen Reflexbewegungen und dem vollbewußten Handeln zu stehen kommt.
Sprechen wir vom normalpsychologischen Tun des Menschen, also auch des Verbrechers, so haben wir vor allem alles außer acht zu lassen, was seelisch krankhaft, also psychopathisch ist; dann aber auch alle Zustände die den Gesunden treffen, ihn aber augenblicklich nicht verantwortlich machen: Schlaftrunkenheit, Rausch, Hypnose usw. Das alles rechnen wir nicht zu den eigentlich normalpsychologischen Vorgängen, wohl aber die so genannten Reflexbewegungen. Bei diesen unterscheiden wir wieder physiologische und psychologische; erstere sind jene Bewegungen im und am Körper, die völlig ohne unsern Willen vor sich gehen: Herzschlag, Pulsbewegung, Peristaltik des Darmes, Schweißabsonderung, Erröten und Erbleichen usw. Psychologische Reflexbewegungen nennen wir aber solche, die wirkliche Handlungen darstellen, die aber unwillkürlich geschehen; also zum Beispiel instinktive Abwehrbewegung gegen etwas unvorhergesehen und drohend Herannahendes, plötzliches Stehenbleiben bei Schreck oder Wahrnehmung von etwas Gefährlichem usw. Auf der Grenze zwischen beiden stehen Bewegungen, die ebensowohl willkürlich geschehen als auch unbewußt ablaufen können: Lidschlag, Schlingen vielleicht auch Husten, Gähnen usw.
Selbstverständlich werden die zuletzt genannten Bewegungen und die physiologischen Reflexbewegungen niemals Anlaß zu fremder Schädigung geben können; denkbar wäre es aber, daß dies bei psychologischen Reflexbewegungen der Fall ist, wenn man zum Beispiel durch eine Abwehrbewegung jemand unwillkürlich beschädigt und dafür zur Verantwortung gezogen werden soll. Das sind aber Ausnahmefälle, und jedenfalls ist der Sprung von diesen Reflexbewegungen bis zum vollbewußten und daher unverantwortlichen Tun ein viel zu großer, der Uebergang ist unvermittelt, und so hat sich die Notwendigkeit ergeben, zwischen beide noch das reflektoide Handeln, das reflexähnliche Vorgehen, einzuschieben.
Wir charakterisieren die fraglichen Vorgänge so, daß wir sagen: bei vollbewußtem, überlegtem Handeln sind alle in Frage kommenden Bewußtseinszentren angeregt und mitwirkend; bei Reflexbewegungen kommen gar keine Bewußtseinszentren in Tätigkeit, Außenreiz und Handlung sind direkt verbunden; beim reflektoiden Handeln sind aber die Bewußtseinszentren partiell angeregt, so daß zwar mit Bewußtsein, aber nur teilweisem gehandelt wird. Diese Vorgänge kennt jeder, es gehören vor allem jene hierher, in denen rein gewohnheitsmäßig, in der Zerstreuung, instinktiv gehandelt wird, in denen wir, ohne zu denken, nachahmen oder das tun, was man in zwar ähnlichen, aber doch anders gearteten Fällen öfter getan hat.
Sehen wir diese Vorgänge an, so kommen wir zur Ueberzeugung, daß sie alle auf das Gewohnheitsmäßige zurückzuführen sind, und daß das Prinzip der Gewohnheit der Ausgangspunkt für alles reflektoide Handeln ist. Machen wir nun gewohnheitsmäßig das Richtige, so hat dies nichts Merkwürdiges an sich, für uns wichtig ist der Vorgang erst, wenn man gewohnheitsmäßig etwas getan hat, was nur scheinbar entsprechend, in Wirklichkeit aber falsch oder schädlich angewendet war. Wenn einer des Morgens aufsteht, so weiß er, daß er sich zu waschen und anzukleiden hat; diesem „Reiz“ folgt er und wäscht und kleidet sich gewohnheitsmäßig an, er hat aber vielleicht die ganze Zeit an etwas anderes und keinen Augenblick an sein Waschen und Anziehen gedacht. Das ist ja ganz korrekt. Aber: das Kindermädchen geht mit dem Kind, dieses stolpert und fällt unverschuldet, es steht sofort auf und weint – schwupps erhält es einen gar nicht edukativ gemeinten Klapps. Der Vorgang ist so: das Kind hat etwas Unangenehmes getan, hierfür straft man es gewöhnlich; daß es dermalen ganz unschuldig ist, wird nicht erwogen, der Klapps wird reflektoid ausgelöst.
Von diesem harmlosen Klapps ausgehend, finden wir unzählige Beispiele, die weiterschreitend zeigen, daß man unzähligemal gewohnheitsmäßig das Entsprechende zu tun vermeint, aber reflektoid etwas Unpassendes Schädliches, Gefährliches begeht. Wir Kriminalisten kennen heute schon eine ansehnliche Reihe von Fällen, in denen Verbrechen der Sachbeschädigung, Brandstiftung, Körperverletzung, Totschlag und Mord begangen wurden lediglich handelnd auf reflektoidem Wege.
Wenden wir das jetzt auf die Massenverbrechen an, so brauchen wir bloß zwei Gesetze; das des reflektioden Handelns und das der Nachahmung. Dem aufgeregten, aufrührerischen Pöbel – dem im brennenden Theater in sinnloser Angst Vorwärtsdrängenden – dem vor den feindlichen Kugeln flüchtenden Soldaten – ihnen allen stellt sich irgendetwas, irgendjemand entgegen. Was einem im Weg ist, das beseitigt man, das hat man hundertmal schon gewohnheitsmäßig getan – reflektoid beseitigt man also auch diesmal Wegheben, Wegschieben ist unmöglich, also stößt, schlägt, haut man zu, zerstört, vernichtet, tötet. Der Zweite, der den Ersten das tun sieht, handelt auch reflektoid, aber verstärkt durch den Trieb der Nachahmung, der Dritte wird durch die zwei andern noch mehr aufgeregt und angetrieben, und so ist das entsetzliche Treiben erregter Massen in seiner Schrecklichkeit fertig.
Allerdings: die Entstehung solcher Greuelszenen wäre erklärt – aber wie weit können wir den einzelnen für das verantwortlich machen, was er als vielleicht sehr kleiner Teil des unfaßbaren Makroanthropos verbrochen hat? Darüber klar zu werden, gibt es noch schaffensfreudige Arbeit in Menge.
Dieser Artikel erschien zuerst in Die Woche 15/1904. Der Originalartikel war nicht bebildert, das hier eingebundene Bild ist ein Beispielbild von GraphicMama-team auf Pixabay.