Richard Strauss

Auf dem Programm eines vor kurzer Zeit im Saale der Singakademie zu Berlin veranstalteten Konzerts stand unter andern Nummern zu lesen: Sonate für Pianoforte h-moll op. 5 von Richard Strauß.

Gespannt horchte man auf, als der Konzertgeber begann; ein einfaches, schlichtes Thema mit dem bekannten klopfenden Rhythmus aus Beethovens Fünfter darin, dann zweites Thema, Durchführungsteil, aus dem hartnäckig immer wieder die vier pochenden Noten hervorstechen, und so fort, im strengen, gottesfürchtigen Sonatensatz. Hierauf ein sanftes Adagio, hübsch weich in E-dur – die Melodie eine Zwillingsschwester zu der Hornkantilene im Nocturne der Mendelssohnschen Sommernachtstraummusik. Und dann ein leichtfüßiges Scherzo – Mendelssohns Elfen huschten vorbei! – ein Trio: das Antlitz Franz Schuberts, des Liederreichen, grüßte daher! Und endlich das Finale – ja, wer war es da nur, der, altbekannt, herüberlugte! Richard Strauß? Der Dichter des „Heldenleben“, der eigenwillige, selbstherrliche Tonpoet, der in Klängen zu reden weiß, „gewaltig und nicht wie die Schriftgelehrten“? Ach nein! Der war damals noch gar nicht geboren, mochte zwar der Träger des Namens schon im Lichte wandeln.

Dies ist ein historischer Text, welcher nicht geändert wurde, um seine Authentizität nicht zu gefährden. Bitte beachten Sie, dass z. B. technische, wissenschaftliche oder juristische Aussagen überholt sein können. Farbige Bilder sind i. d. R. Beispielbilder oder nachcolorierte Bilder, welche ursprünglich in schwarz/weiß vorlagen. Bei diesen Bildern kann nicht von einer historisch korrekten Farbechtheit ausgegangen werden. Darüber hinaus gibt der Artikel die Sprache seiner Zeit wieder, unabhängig davon, ob diese heute als politisch oder inhaltlich korrekt eingestuft würde. Lokalgeschichte.de gibt die Texte (zu denen i. d. R. auch die Bildunterschriften gehören) unverändert wieder. Das bedeutet jedoch nicht, dass die darin erklärten Aussagen oder Ausdruckweisen von Lokalgeschichte.de inhaltlich geteilt werden.

Und noch manches andere Werk ist diesem Opus 5 gefolgt, dem keine persönliche Note eigen war, das noch erklang in der Sprache der „Schriftgelehrten“, manches Werk, aus dem auch der hellsichtigste Prophet noch keine Weissagung auf den künftigen Pfadfinder einer neuen musikalischen Kunst herauslesen konnte.

Richard Strauss

Das hat Richard Strauß mit der überwiegenden Mehrheit unserer großen Meister gemeinsam, daß er nicht wie ein Meteor aufgetaucht ist, der plötzlich aus dunkler Nacht seinen hellen Schein in die Welt wirft, sondern daß er normal und solid emporgewachsen ist, wie ein Baum, aus kräftiger, gesunder Wurzel heraus. Er kam nicht in die Versuchung, auf die höchsten Zinnen und Spitzen, die die Heroen vor ihm errichtet hatten, sein Haus zu bauen, wie so manche unserer jungen Feuerköpfe es immer wieder im blinden Unverstand anstreben; er sah sich vielmehr durch eine ernsthafte, solide musikalische Erziehung auf festen Grund und Boden gestellt. Alle Formen und Stilarten hatte er sich gewissenhaft zu eigen gemacht, er war ein „gediegener Musiker“ im gut konservativen Sinn geworden, als endlich die Ideen des großen Bayreuther Reformators und seines genialen Freundes auf sein Schaffen Einfluß gewonnen, worauf nun das Beste und Eigenste, was er in seiner Persönlichkeit trug, immer bestimmter, immer sieghafter in die Erscheinung trat.

Merkwürdig genug – oder eigentlich, wenn man den Lauf der Welt bedenkt, ganz selbstverständlich! – daß mit den ersten individuell gearteten Aeußerungen des jungen Künstlers auch allsogleich der Kampf begann. Die ersten Aufführungen seines „Don Juan“ und „Tod und Verklärung“, jener prächtigen Tondichtungen also, die heute Bürgerrecht in allen besseren Konzertprogrammen haben, trugen dem Autor neben andern „ermunternden“ Dingen verschiedener Art den geschmackvollen Titel eines musikalischen Anarchisten ein. Vor gut zehn bis zwölf Jahren war das.

Jedes neue Werk brachte dann neue Kämpfe, und auch heute noch sind ja die Meinungsverschiedenheiten über die Straußische Kunst keineswegs schon beigelegt.

Aber die Schar derer, die seiner Musik mit sympathischen Gefühlen lauschen, ist doch gewaltig gewachsen, und selbst die Gegner räumen ihm willig den bevorzugten Platz ein, der ihm unter den lebenden Komponisten gebührt.

Richard Strauß steht im 39. Lebensjahr, auf der Höhe der Lebens- und Schaffenskraft. Wird er einen Gipfel noch über „Also sprach Zarathustra“ und das „Heldenleben“ hinaus erklimmen? Oder wird das Bild, das wir von seiner Kunst besitzen, keine neue Nuance mehr gewinnen?

Vielleicht giebt schon die allernächste Zukunft eine Antwort auf diese Fragen; weiß man doch, daß auf Straußens Schreibtisch ein großes Chorwerk (das zweite aus seiner Feder) der Vollendung entgegenreift.

Wenn die Gunst des Geschicks es will, werden wir es in diesem Winter noch zu hören bekommen!

Dieser Artikel erschien zuerst am 01.11.1902 in Die Woche.