Fremde in Berlin

Von Hans Ostwald. Alle möglichen Völkertypen, alle möglichen Erdbewohner treten jetzt das Pflaster vom Tiergarten bis zum Schloß und vom Bahnhof Friedrichstraße bis zum Potsdamerplatz.

Die halbe Welt ist „Unter den Linden“ und in ihrer Umgebung zu finden – nur die Berliner nicht. In den Straßenbahnen und in den Omnibussen sind zu gleicher Zeit die östlichen und die westlichen Idiome zu hören; kaum, daß drei Fahrgäste die gleiche Sprache sprechen. Vor den Theaterkassen drängen sie sich, die Museen und die Warenhäuser überschwemmen sie – viele Geschäfte, viele Unternehmungen existieren im Sommer nur von ihnen.

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Welcher Berliner ginge jetzt, in der Hundstagshitze, in die Theater? Im Kunstausstellungspark, im zoologischen Garten und im Grunewald ist doch eine andere Luft als im Parkett und im Foyer. Jetzt gehört Berlin den Fremden.

Einige Bilder aus ihren Berliner Tagen: Droschkenhalteplatz an einem großen Bahnhof. Von vorn bis hinten, von rechts bis links sind die Droschken in dichten Reihen aneinandergerückt. Die Pferde lassen die Köpfe hängen und duseln in der sommerlichen Hitze. Die Kutscher stehn in Gruppen beisammen – wenn’s geht, im Schatten. Andere sitzen auf dem Tritt ihrer Droschke – und die wilden Tauben können ungestört zwischen den Rädern und den Pferdehufen Futter aufpicken und verliebt herumstolzieren. Plötzlich kommt aus der Bahnhofshalle ein dumpfer Schall: „Aufsteigen!“

Wie die Kutscher alle laufen können! Den Pferden die Futtereimer abgenommen, die Decken zusammen gelegt. Alle starren nach dem Thor des Bahnhofsgebãudes, durch das „sie kommen“. Hier und da sieht sich auch ein Pferd um.

Droschkenhalteplatz am Stettiner Bahnhof – Die Fremden kommen

Zuerst kommen ein paar Gepäckträger mit gewaltigen Koffern und Packen. Dann einzelne bestaubte Reisende. Hinter ihnen strömt erst ein ganzer Schwarm heraus: in Staubmänteln, Reisemützen, mit Täschchen und Schachteln behangen und bepackt. Sie rufen die Nummer ihrer Droschke. Schleunigst verstaut der Kutscher die Riesenkoffer und Körbe – die Menschen dazu – und nun rasselt er hinein in die Stadt, in die Weltstadt Berlin.

Was, Berlin ist keine Weltstadt? Wer das nicht glaubt, der muß jetzt in den Straßen zwischen dem Rathaus und dem Reichstagsgebäude hin und her pendeln. Da findet er die halbe Welt – ja, sogar die ganze Welt.

In den Straßen, wo sonst nur die Dienstmädchen einherwandeln, in diesen Straßen, wo spazierende Gärten nichts seltenes sind, begegnen ihm Frauen in Kleidern aus den teuersten Stoffen. Große Brillanten in den Ohren, am Halse, an den Fingern, am Handgelenk – aber ohne Hut! Nur ein schwarzes Seidenspitzentuch um das runde, volle Gesicht. Das sieht eigentlich nicht schlecht aus. Manchem jungen Mädchen würde das besser stehen als irgend so ein aufgetakeltes Strohgeflecht mit Blumen, Blättern, Bändern, Federn, Spitzen, Seide und wer weiß was noch.

Aber natürlich: die Dame mit dem schwarzen Spitzentuch kommt ja von jenseits der Weichsel, vielleicht sogar von jenseits der Wolga. Und was von da kommt, ist ja nicht nachahmensreif.

Ja, wenn’s von jenseits des Kanals oder von jenseits des großen Teiches käme! Oder auch von jenseits des Rheins …

Vor dem Königlichen Schloss

Ueberdies, gerade aus England und aus Amerika scheint Berlin die meisten sommerlichen Besucher zu bekommen. Wahrscheinlich kommen viele die der Ausfall der Krönungsfeierlichkeiten aus London getrieben hat. Aber eigentlich ist das jeden Sommer zu beobachten, daß die englische Sprache vor allen andern fremden Sprachen in Berlin zu hören ist.

Die Angelsachsen finden auch am bequemsten. Eine Reihe von Hotels ist direkt auf ihren Geschmack zugeschnitten. Da fahren sie in einem fort vor. In Equipagen und Droschken. Die Männer mit den charakteristischen glatten Gesichtern, nur einen kleinen Schnurrbart über dem energischen Mund.

Die Frauen in einem eleganten vornehmen Reisechik, wie er eben nur den Amerikanern eigen ist, die ja die Hälfte ihres Lebens in Hotels, Waggons und Schiffen verbringen.

In einer American Bar

Ein Hotel hat es ihnen besonders bequem gemacht. Damit sie sich nicht allzusehr nach den heimatlichen Töpfen sehnen, hat es ihnen eine Bar im Hause eingerichtet. Wer die Trinkstten der Engländer und Amerikaner kennen lernen will, braucht nur in einem solchen Hotel einzukehren. Auf hohen Sesseln hocken sie da, ihren „Drink“ in der Hand. Allerlei interessante Gestalten.

Etwas ganz Typisches im Berliner Fremdenleben sind die Trupps der jungen Amerikanerinnen, die ohne männliche Begleitung, ohne älteren weiblichen Schutz den europäischen Kontinent durchqueren. Fünf, sechs, sieben, manchmal auch mehr, wandern sie von einem Museum ins andere, von einer Galerie zur andern. Alle gehen fußfrei, ein Reisetäschchen am Gürtel, einen rotgebundenen Führer in der Hand. sie finden sich ganz gut zurecht, ohne ältere Beaufsichtigung.

Auch aus Mexiko, Südamerika und den umliegenden Inseln kommen so manche nach den Sehenswürdigkeiten Berlins. Wer sie alle sehen will, der muß sich mittags vor dem Schloß aufstellen, wenn sie auf die einziehende Ablösung der Schloßwache oder auf die Ausfahrt des deutschen Kaisers warten. Das stille Mütterchen aus der Kleinstadt steht da neben der lebhaft sprechenden kreolischen Familie, der Turnverein aus Zossen neben dem Milliardär aus Brooklyn, der blonde Schwede neben dem dunklen Hochschüler aus Odessa. Um diese Zeit der aufziehenden Wache tritt die Massenhaftigkeit der Fremden in Berlin so recht zu Tage. Die ganzen Bürgersteige in der Nähe der Palais und Museen, der Universität und ihrer Nachbarschaft sind dicht besetzt von Menschen, die doch auch mal in Berlin gewesen sein wollen.

Eine ständige Erscheinung ist auch der russische Hochschüler. Mit seiner Uniform, seinem gestickten Kragen und der mit einem Emblem verzierten Mütze ist er stets in Begleitung seines Vaters am Vormittag Unter den Linden in einigen Exemplaren zu finden.

Auch das Paar auf der Hochzeitsreise ist keine Seltenheit. Es ist natürlich nur der Sehenswürdigkeiten wegen in Berlin. Aber – es geht wohl an allen Denkmälern und Bauten vorbei – jedoch nur vorbei. Wer wird es ihm übelnehmen, daß es so vertieft daherkommt und einander für die wichtigste Sehenswürdigkeit hält?

Berliner Album gefällig – Sämtliche Ansichten von Berlin
Im Pergamonmuseum
Auf der Hochzeitsreise

Eines der besuchtesten Museen ist jetzt das Pergamonmuseum so ein Stück Altertum, halb Orient, halb Griechenland mitten in Berlin. Das Mosaikstück findet oft mehr Bewunderer als alle Skulptur Aber wenn das eine mit Massenbewunderung prahlen könnte – die Plastik kann wohl zufrieden sein mit der Eindringlichkeit ihrer Betrachter. Einmal sah ich einen ausländischen Kunstjünger, wie er vor jedem Teil wohl an zehn Minuten sich in Verzückung versenkte

Jeder findet etwas in Berlin. was er bewundern kann Die deutsche Provinz durchwandert mit großer Vorliebe die Siegesallee, von der ja so viel gesprochen und geschrieben worden ist.

Da stehen die alten Damen aus der Kleinstadt vor den Marmorgruppen, ein Tuch über dem Arm, den verarbeiteten, gekrümmten Körper in altmodische Kleider gezwängt, und wandern mit ihrer Begleitung von einem Denkmal zum andern.

Ein Kunstenthusiast
In der Siegesallee

Hier, wo die kleinen Mädchen schon wie Damen en miniature in Spitzenkleidchen und Gamaschen und seidenen Handschuhen spazieren geführt werden, bereits ein Schirmichen zwischen den Fingern, damit der zarte Teint nicht von der Sonne gebräunt wird, von der guten Sonne, die hier durch die Laubbäume und auf die Büsche ebenso goldig scheint wie auf die Wolgasteppe und auf die Anden Nordamerikas – hier fallen die Fremden am meisten auf als das, was sie sind. Aber im allgemeinen wird der Tiergarten von den Fremden, wenigstens von denen, die für Berlin nur wenige Tage vorgesehen haben und sozusagen auf der Durchreise sind, nicht allzuviel besucht. Man geht vom Brandenburger Thor oder vom Potsdamer Platz wohl einige Schritte ins Grüne, die wohl gepflegten Wege entlang, aber deshalb ist man doch schließlich nicht nach Berlin gekommen; da lockt das großstädtische Leben in der Stadt doch mehr: das Treiben auf den Straßen und Plätzen, in den großen Restaurants und Cafés, die glänzenden Schauläden und prächtigen Auslagen in den Hauptstraßen u.s.w.

Russischer Hochschüler mit seinen Eltern
Adieu, Berlin

Wenn die Fremden dann noch das innere, arbeitende Berlin, einiges vom Westen, einiges von der Umgegend und einiges vom Nachtleben gekostet haben, dann sagen sie vielleicht mit einem achtungsvolleren Ton „Ade, Berlin!“, als sie es sich gedacht haben.

Das müssen sie doch zugeben: Berlin ist jetzt gar nicht mehr so übel. Es sieht wirklich aus, als wolle es Weltstadt werden. Oder vielleicht ist es das schon?

Dieser Artikel erschien zuerst am 19.07.1902 in Die Woche.