Kinder und Affen

Die schlimmen Zeiten, da man jeden Schimpansen und Orang bereitwillig als seinen Urgroßvater anerkannte, sind glücklicherweise heute vorüber. Aber wie die Kundigen der Gegenwart über die Sache denken, das ist doch außerhalb der Fachkreise anscheinend noch recht wenig bekannt, wenn man nach den Aeußerungen urteilen darf, die man oft in Zoologischen Gärten zu hören bekommt.

Die Zusammenstellung von Menschenkind und Affenkind ruft ins Gedächtnis zurück, was in jeder Naturgeschichte längst mit andern Worten zu lesen steht: daß nämlich der junge Affe am menschenähnlichsten ist, mit zunehmendem Alter aber immer „tierischer“ wird. Namentlich Schädel und Gesichtsausdruck verändern sich bedeutend; der Hirnteil tritt immer mehr zurück, der Kieferteil immer mehr vor.

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Wie ist das zu verstehen? Es wird vielleicht verständlicher, wenn man an das Daunenkleid junger Fasanen und Enten erinnert, in dem nur geübte Kenner die verschiedenen Arten unterscheiden können, an die gemeinsame Fleckung der meisten Hirschkälber, die übereinstimmenden Larvenformen vieler Insekten und Krebstiere und andere ähnliche Thatsachen, auch aus dem Pflanzenreich. Naturgeschichtlich Verwandtes kommt eben mehr oder weniger ähnlich zur Welt und entfernt sich dann im Verlauf seiner Entwicklung mehr oder weniger weit voneinander.

Das bedeutet aber noch gar nichts für die Abstammung der einen Form von der andern. Im Gegenteil! Abgesehen von der rasch vor sich gehenden künstlichen Haustier- und Pflanzenzüchtung ist es von vornherein unwahrscheinlich, daß eine jetzt noch lebende Form die Stammform einer andern jetzt schon lebenden sein wird. Vielmehr werden die Tiere und Pflanzen der geologischen Gegenwart, der jetzigen Entwicklungsperiode unserer Erdoberfläche im allgemeinen von solchen abstammen, die früheren, vergangenen Erdperioden angehörten und jetzt nicht mehr existieren. Die heutigen Affengeschlechter sind aber geologisch nicht älter als wir. Wie ist dann unser Verwandtschaftsverhältnis zu ihnen aufzufassen?

Es mag hier eingeschaltet werden, daß es sich für die Naturforschung zunächst nur um den menschlichen Körper handelt und nicht um die unsterbliche Seele. Wenn man in die durch die verschiedenen Gesteinschichten mit ihren tierischen und pflanzlichen Versteinerungen vor uns aufgeschlagene Geschichte der Erdrinde hineinsieht, so drängt alles auf die Annahme einer allmählichen Entstehung, Veränderung und Vervollkommnung hin, und in die Kette dieser Gedanken und Untersuchungen muß unbedingt als letztes Glied auch die körperliche, die geologische und paläontologische Seite des Menschen einbezogen werden.

Kinder und Affen

Der Mensch ist, naturgeschichtlich betrachtet, der nächste und ein sehr naher Verwandter des Affen, namentlich der des halb so genannten Menschenaffen: Schimpanse, Gorilla, Orang Utan und Gibbon. Aber nicht so daß diese die niedere, die höhere Stufe sozusagen desselben Bildungsprinzips darstellten! Ganz im Gegenteil! Der Affe ist in vielen Beziehungen weiter gebildet, viel einseitiger an ein bestimmtes Baumleben angepaßt als der Mensch. Die gekrümmte Vorderhand des Affen ist mit ihren vier Fingern zwar ein ausgezeichneter Kletterhaken, als Ganzes aber vermöge des Schwachen, zurückgerückten, nur noch mangelhaft entgegenstellbaren Daumens nicht entfernt das feine, vielseitige Greifwerkzeug, wie unsere Hand. Aus der Affenhand kann niemals mehr eine Menschenhand werden, und diese letztere verdankt ihren unschätzbaren Vorzug der Vielseitigkeit eben dem Umstand, daß sie auf einer primitiveren, ursprünglicheren Entwicklungsstufe des Endstücks der Vordergliedmaßen verharrt hat, wie wir es schon bei den kletternden Beuteltieren finden. Diese Thatsache betonte neuerdings nach Gebühr der Heidelberger Anatom Klaatsch, der auf den jüngsten Anthropologenversammlungen viel von sich reden gemacht hat.

Nur ein Organ hat der Mensch weiter und immer weiter gebildet bis zu fast übermäßiger Vervollkommnung und Verfeinerung, d. i. Das gehirn- und Nervensystem. Der Mensch ist so recht eigentlich das Gehirntier; vermöge dieses übermächtigen Organs, dem als ausführende Kraft noch der in mancher Beziehung primitive, gerade deshalb aber nach Bau und Leistung so vielseitige Menschenkörper zur Verfügung steht, beherrscht er jetzt alle übrigen Lebewesen, modelt er immer mehr die ganze Erdrinde nach seinem Belieben.

Menschenkind und Affenkind: Sie stehn und sitzen auf unsern ergötzlichen Bildern so artig und einträchtig zusammen, und sie sind einander in vieler Beziehung so ähnlich. Denke jeder nur an die nach innen gewendeten Fußsöhlchen und an die bewegliche Großzehe seines Erstgeborenen, wenn er aus den Windeln gewickelt wurde! Und doch, wie verschieden ist beider Stammesherkunft oder Stammeszukunft. Der Affe wird nichts anderes mehr. Was der Mensch wird – wer will es sagen?

Dieser Artikel erschien zuerst am 02.08.1902 in Die Woche, er war gekennzeichnet mit „Z.“