Der russisch-englische Eisenbahnstreit und die geplante Verbindung der sibirisch-ostchinesischen Eisenbahn mit Port Arthur und Ta-lien-wan

Der russisch-englische Eisenbahnstreit - Karte

Durch den am 15./27. März d. J. zwischen der russischen und chinesischen Regierung abgeschlossenen Vertrag sind bekanntlich die im Süden der Halbinsel Liau-tung befindlichen eisfreien chinesischen Häfen Port Arthur (Lüi-schun-kau) und Ta-lien-wan, vorläufig auf einen Zeitraum von 25 Jahren, Russland in Pacht gegeben worden.

Gleichzeitig erwarb Russland das Recht, die genannten Häfen durch eine Bahn an der Westküste der Halbinsel Liau-tung, über Niutschwang, Mukden und Kirin, mit einer Station der zur Zeit im Bau begriffenen chinesischen Ostbahn (Als Ausgangspunkt für die Verbindungsbahn mit Port Arthur und Ta-lien-wan ist die Station Hulantschen (auch Hulan) der sibirisch-ostchinesischen Einsenbahn vorgeschlagen.) zu verbinden, in den grösseren Städten der Mandschurei Handelsniederlassungen und in den mineralreichen Gebieten Bergwerks-Unternehmungen zu begründen. Nach den zwischen der chinesischen Regierung und der russisch-chinesischen Bank am 27. Aug./8. Sept. 1896 getroffenen Vereinbarungen wird die chinesische Ostbahn, im Anschluss an die Transbaikal- und Süd-Ussuri-Eisenbahn, von der Westgrenze der Provinz Hei-lung-kiang nach der Ostgrenze der Provinz Kirin, von russischen Ingenieuren nach der Normalspur der sibirischen Eisenbahn gebaut, unter Oberaufsicht des russischen Finanzministeriums gestellt und von chinesischen und russischen Beamten verwaltet. Durch Vertragsbestimmungen sind Russland im Bau und Betriebe der chinesischen Ostbahn aussergewöhnliche Vorrechte eingeräumt, die nach Inbetriebsetzung der Bahn allmählich erweitert werden und die sog. chinesische Ostbahn thatsächlich in eine russische umgestalten dürften. Es unterliegt keinem Zweifel, dass die genannten chinesischen Häfen nach Ablauf des Pachtvertrages endgiltig in russischen Besitz übergehen werden, weil alle Bestrebungen Russlands dahin gerichtet sind, das grosse Gebiet der Mandschurei durch Handelsniederlassungen, Bergwerksunternehmungen und Bahnbauten allmählich zu russifiziren. In Kirin, dem Zentrum der östlichen Mandschurei, ist im Einverständniss mit China eine russische Garnison errichtet, die russisch-chinesische Bank hat in Port Arthur eine Handelsniederlassung eröffnet und steht im Begriff, auch in den grösseren Städten der Mandschurei ähnliche Unternehmungen zu gründen.

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Zur Ausbeutung der Mineralschätze haben sich in Russland Gesellschaften gebildet, die demnächst ihre Thäugkeit in der Mandschurei begirmen dürften.

Die Verhandlungen, die Russland mit China wegen der Bahnbauten in der Mandschurei führte, haben bekanntlich den Einspruch Englands hervorgerufen und zu lebhaften Erörterungen im englischen Unterhause Veranlassung gegeben. Insbesondere handelte es sich bei diesen Debatten um die Baubewilligung der Linie Schanhaikwan – Chun-ho-so – Niutschwang.

Der russisch-englische Eisenbahnstreit

Die Eisenbahn Tien-tsin – Schanhaikwan – Chun-ho-so (344,15 km) wurde im Auftrage der chinesischen Regierung von englischen Ingenieuren, unter theilweiser Benutzung einer bereits früher erbauten Strassenbahn, hergestellt. In der Nähe von Tien-tsin befinden sich die Kohlengruben von Kaiping, die von einer chinesischen Gesellschaft ausgebeutet werden. Diese Gesellschaft liess im Jahre 1878 von englischen Ingenieuren eine Strassenbahn zur Beförderung der Kohlen nach der Küste bauen. Aus der Strassenbahn entwickelte sich im Laufe der Zeit eine Eisenbahn für den Personen- und Güterverkehr von Kaiping nach Tongku (Etwa 2 km von Taku entfernt.), und unter theilweiser Benutzung dieser im Besitz der Bergbau-Gesellschaft befindlichen Eisenbahn wurde dann die Schienenverbindung von Peking über Tien-tsin (128,23 km) nach Schanhaikwan bezw. Chunho-so hergestellt.(Siehe auch Engineering No. 1689 v. 13. Mai 1898 und Archiv für Eisenbahnwesen. 1898. Heft 798 u. 799. – Eisenbahnen in China.) Die Fortsetzung der Linie von Schanhaikwan über Mukden nach Kirin, mit einer Abzweigung von Mukden nach Niutschwang, war bereits vor dem russisch-chinesischen Abkommen von China geplant. Englische Ingenieure erhielten den Auftrag, allgemeine Vor-Erhebungen zu veranstalten, die bald nach Inangriffnahme derselben auf Verfügung der chinesischen Regierung eingestellt wurden. Heute ist es bekannt, dass russischer Einfluss die Einstellung der von den Engländern veranstalteten Vorarbeiten bewirkt hat, weil Russland bereits damals wegen der Pachtung von Port Arthur und Ta-lien-wan mit der chinesischen Regierung in Unterhandlung stand und gleichzeitig den Bau der Verbindungsbahn von Port Arthur mit der sibirisch-ostchinesischen Eisenbahn über Niutschwang, Mukden und Kirin erstrebte.

Um dem russischen, auf alleinige Besitznahme Nordchinas gerichteten Bestreben entgegenzutreten, hat kürzlich England bei der chinesischen Regierung den Bahnbau nach Niutschwang für sich zu erzwingen gesucht, was Russland als ein Eindringen in sein Interessengebiet betrachtete und mit allen Mitteln zu verhindern strebte.

Die Weiterführung der Eisenbahn über Chun-ho-so nach Niutschwang ist vorläufig den Engländern nicht bewilligt worden. Man vermuthet, dass Russland selbst diesen Bahnbau erstrebt. Sollte sich das bewahrheiten, so dürfte die Eisenbahnfrage neue, ernste Verwickelungen zwischen England und Russland hervorrufen.

Durch die Verträge vom 27. Aug./8. Sept. 1896 und 15./27. März 1898 ist russischem Einfluss, Handel und Verkehr ein an Menschenmassen und wirthschaftlichen Hilfsquellen reiches Gebiet in China erschlossen, das vom Amur und Ussuri längs der Grenze Koreas sich bis zum Gelben Meere erstreckt.

Die nördliche Mandschurei, die in Zukunft von der grossen nordischen Verkehrslinie durchschnitten wird, ist dicht bevölkert, besitzt ein milderes Klima und grössere Fruchtbarkeit, als das Amurgebiet. Von grosser Bedeutung ist der Mineralreichthum der Mandschurei. Eisen-, Blei-, Silber- und Goldlagerstätten, Steinkohlen-, Schwefel- und Salpeterlager sind dort vorhanden und harren noch der Ausbeutung. Einzelne Flüsse enthalten Perlen. Steinsalz lagert in der Umgebung von Ninguta und an vielen Stellen der Provinz Hei-lung-kiang. In den fruchtreichen Gebieten wird Ackerbau und Viehzucht betrieben, es gedeihen alle Körnerfrüchte, im Süden reifen Weintrauben, Aepfel, Birnen, Pfirsiche, Pflaumen, auch wird die Seiden- und Baumwollenkultur stellenweise betrieben. An der zukünftigen Eisenbahn und in ihrem Zufuhrgebiet befinden sich Handels-Niederlassungen, Dörfer und dicht bevölkerte Städte, deren Bewohner sich lebhaft mit Handel und Handwerk beschäftigen (Beschreibung der Mandschurei. Herausgegeben vom russischen Finanzministerium unter Leitung von M. Posdnejew. Petersburg 1897 – Siehe auch „Zeitschrift für Architektur- und Ingenieurwesen“, Wochenausgabe No. 29 vom 22. Juli 1898 (Die chinesische Ostbahn).). Sobald erst die Verbindungsbahn nach den von Russland gepachteten Häfen hergestellt ist (Aus Petersburg wird berichtet, dass der Bau der Zweigbahn nach Port Arthur beschleunigt werden soll. Als Zeitpunkt der Betriebseröffnung ist das Jahr 1904 in Aussicht genommen.), wird bei dem guten Boden und günstigen Klima auch dieses Landstriches der Ackerbau sich weiter ausbreiten, neue Dörfer und Städte werden entstehen, der rastlose Erwerbssinn der Chinesen wird in den durch die Bahn erschlossenen Gebieten bald neue Marktplätze schaffen und die Handelsbeziehungen zwischen Russland und China immer mehr erweitern.

Port Arthur bildet als Handels- und Kriegshafen für Russland eine ausserordentlich werthvolle Erwerbung Die Rhede ist stets eisfrei und besitzt gute Ankerplätze für Schiffe grossen Tiefganges. Das künstliche Hafenbecken, das 1866 von französischen Ingenieuren im Auftrage der chinesischen Regierung hergestellt wurde, ist von allen Seiten mit Granitquadern eingefasst, mit Ladekrähnen und elektrischen Beleuchtungskörpern versehen und besitzt eine Wassertiefe von 27 Fuss unter Normalwasser. Mit dem Hafenbecken steht ein Trockendock in Verbindung, ein elektrischer Scheinwerfer ist imstande, einen Theil des Meeres zu beleuchten. Auf den steil abfallenden Hügeln östlich der Hafeneinfahrt erhebt sich ein Leuchtthurm, dessen Feuer etwa 30 km sichtbar ist. Im N.W. des Hafenbeckens befindet sich die Handelsstadt, die zurzeit etwa 10 000 Einwohner zählt, ein Theater, eine Post- und Telegraphenstation besitzt. In unmittelbarer Nähe der Stadt liegt das Torpedoarsenal und die Anstalt zur Herstellung von Schiessbaumwolle, innerhalb der Stadtmauer sind Militär-Kasernen und -Werkstätten errichtet, die durch Fernsprech-Leitungen mit einander verbunden sind. In der Umgebung von Port Arthur sind Kohlenlager aufgedeckt, die demnächst für Schiffahrts- und Eisenbahnzwecke ausgebeutet werden sollen.

Die natürlichen Vorzüge des Hafens veranlassten die chinesische Regierung, Port Arthur in eine Festung zu verwandeln, die von der Seeseite die Residenz und den Golf von Petschili beherrscht. Mit dem Ausbau des Hafens und mit der Umgestaltung der Festungswerke sind gegenwärtig russische Ingenieure beschäftigt.

Etwa 32 km nordöstlich von Port Arthur liegt der unbefestigte Hafen Ta-lien-wan, der durch seine weit ins Meer hineinragenden Vorgebirge Schiffen einen vorzüglichen Windschutz gewährt. Auf der Anhöhe befinden sich veraltete Befestigungen, am Hafen einige Fischer-Niederlassungen.

Die Halbinsel Liau-tung wird von Gebirgen durchzogen, deren Gipfel stellenweise 3000-3500 Fuss Höhe erreichen. Die Abwesenheit jeglicher Baumvegetation verleiht den Gebirgszügen einen wilden Charakter. Ueber den am Ufer befindlichen Hügelketten ziehen sich schlechte Strassen entlang, die Port Arthur und Ta-lien-wan nach Osten mit Wi-tschu am Jalu (koreanischer Grenzort), nach Westen mit dem mandschurischen Vertragshafen Jingtsze-kou bezw. Niutschwang verbinden und nördlich nach Mukden, nordwestlich, längs des Golfes von Liau-tung, nach Schanhaikwan abzweigen.

Von Mukden ist Port Arthur etwa 430 km, von Kirin 750 km, von Hulantschen, dem Ausgangspunkt der Zweigbahn nach Süden, etwa 1100 km, und von der Station Nikolskoje der Süd-Ussuri-Eisenbahn etwa 1300 km entfernt (Nähere Angaben über die Halbinsel Liao-tung, Port Arthur und Ta-lien-wan sind enthalten in der Zeitschrift „Russischer Invalide“ 1898, No. 10 u. ff.). Auf dem Wege der sibirisch-ostchinesischen Eisenbahn mit ihrer Verzweigung nach Süden wird Russland weiter nach China vordringen. Die Besitzergreifung des Stammlandes der chinesischen Dynastie wird allem Anscheine nach in ähnlicher Weise vollzogen werden, wie einst die Erwerbungen am Amur und Ussuri. Seit 1895 ist Russland unablässig bemüht, seine Militärmacht in Sibirien, am Amur und Ussuri zu verstärken und weiter auszubilden. Nach Vollendung der sibirisch-ostchinesischen Eisenbahn wird Russland in der Lage sein, die in den verschiedenen Provinzen zerstreuten Truppen schnell zu sammeln und durch neue Streitkrafie aus dem Innern des Reiches zu ergänzen.

Das Vordringen Russlands erinnert an einen Ausspruch des Grafen Murawjew Amursky, der die südliche Gebirgskette des grossen Chingan als natürliche Grenze zwischen Russland und China im Osten bezeichnete. Die Ereignisse der Gegenwart scheinen darauf hinzudeuten, dass Russland thatsächlich nach diesem Ziel strebt. –

Dieser Artikel erschien zuerst am 12.11.1898 in der deutsche Bauzeitung, er war gekennzeichnet mit „S.“.