Studienreisen

1905, von Prof. Dr. Werner Sombart. Zu den neuen Erscheinungen unserer Zeit, die bekanntlich “im Zeichen des Verkehrs” steht, gehört die “Studienreise”. Das heißt; das Neue daran ist nicht eigentlich die Reise und ihr Zweck. “Studienreisen” hat es wohl zu allen Zeiten gegeben, wie es Reisen zu allen Zeiten gegeben hat, die sich nur einigermaßen über die allerniedrigste Kulturstufe erhoben hatten. Jede Reise eines Herodot, eines Marko Polo gehört hierher. Das Neue liegt vielmehr in zwei besonderen Merkmalen der modernen Studienreise. Das eine ist ihre Häufigkeit, die von Jahr zu Jahr größer wird. Unausgesetzt hört und liest man von Einzelpersonen oder Kommissionen, die “zu Studienzwecken” irgendwohin gereist sind. Deshalb ist auch die öffentliche Aufmerksamkeit auf sie hingelenkt worden.

Das zweite, was der Studienreise unserer Zeit charakteristisch ist, ist ihre “Kollektivität”, das heißt der Umstand, daß sie häufig von einer größeren Anzahl von Personen gemeinsam unternommen wird. Beides: Häufigkeit und Kollektivcharakter, ist natürlich ein Ergebnis unserer entwickelten Reisetechnik.

Das Reisen ist so leicht und bequem und verhältnismäßig billig geworden, daß es für immer mehr Menschen und auch mehr Zwecke lohnt, reisend Studien zu machen. – Im folgenden soll ein kleiner Beitrag zur Naturgeschichte der Studienreise im allgemeinen und der Kollektivstudienreise im besonderen geliefert werden.

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Zuvörderst muß jedoch festgestellt werden, daß heute unter dem Sammelnamen “Studienreisen” Dinge ganz heterogener Art zusammengefaßt werden, die unmöglich einer gemeinsamen Betrachtung auf knappem Raum unterzogen werden können. Man ist geneigt, jede Kollektivreise, wenn sie nicht gerade von einem Reisebureau inszeniert wird, als “Studienreise” anzusehen. So hört man von einer “Studienreise” sprechen in folgendem Fall: “die Association Génörale des Etudiants de Paris veranstaltet unter der Leitung des Professors Couchoud, ehemaligen Lektors an der Universität Göttingen, vom 1. bis 20. April eine Reise für die deutschen Dozenten und Studenten, die wünschen, auf nutzbringende Weise Paris und den Westen Frankreichs zu besuchen. Die Reise bietet außer einem Aufenthalt in Paris einen Ausflug nach der Normandie, nach der Betragne, nach Anjou, der Touraine und den Ufern der Loire. In den Universitätsstädten Paris, Caen und Rennes sind Empfänge der deutschen Studenten durch die französischen Studenten sowie gesellige Vereinigungen vorgesehen. Der Ferienausflug hat zugleich den Zweck, zwischen den Studenten beider Länder kameradschaftliche Beziehungen anzubahnen usw.” Hier handelt es sich natürlich um nichts anderes als eine “Vergnpgumgsreise” en masse.

Vielmehr wird auch die “Kollektivreise“ alle jene Arten aufweisen, die die verschiedenen Einzelreisen unterscheiden. Eine davon ist die “Studienreise”, das heißt jene, die den Zweck hat, irgendwelche Dinge in der Fremde zu “studieren“ das heißt “gründlich” kennen zu lernen. Gleichgültig bleibt es dabei, ob dieses Studium nur wissenschaftlicher Erkenntnis oder praktischen Zwecken dienen soll. Beides kann natürlich der Fall sein.

Im einzelnen kann die Studienreise sehr verschiedene Aufgaben haben und somit einen sehr verschiedenen Charakter tragen, je nach dem Beobachtungsfeld, auf dem die Studien gemacht werden sollen. Die wichtigsten Arten von Studienreisen sind danach wohl folgende;

1. Reisen zum Studium der Landesnatur: also der Geologie, der Geographie usw.

2. Reisen zum Studium bestimmter Völker oder Volksstämme im ganzen, ihrer Einrichtungen, Sitten und Gebräuche, ihrer Sprache u. dergl.

3. Reisen zum Studium technischer Verhältnisse: hierher gehört die Entsendung von Handwerkern oder Arbeitern auf Welt, oder spezielle Gewerbeausstellungen; die Bereisung von Städten durch Bausachverständige, um bestimmte Hausbauweisen kennen zu lernen oder um die Pflasterungssysteme, die Kanalisationsanlagen und Wasserleitungen zu studieren; die Reisen von Museumsbeamten, von Bibliotheksbeamten usw. zum Zweck, die Einrichtungen der Museen, der Bibliotheken usw. in der Fremde kennen zu lernen.

4. Reisen zum Studium öffentlicher Einrichtungen, also von staatlichen oder städtischen Organisationen, von Armenverwaltungen, Heeresorganisationen oder dergleichen.

5. Reisen zum Studium wirtschaftlicher oder sozialer Einrichtungen privater Natur. Hier kommen also in Betracht Reisen zum Zweck, „die Landwirtschaft“ oder „die Industrie“ eines Landes oder eines begrengrenzten Bezirks kennen zu lernen, Reisen zum Studium der Arbeiterverhälinisse insbesondere der Arbeiterorganisationen eines Landes, Rundreisen von Aerzten zum Studium der verschiedenen Badeorte und anderes mehr.

Will man sich über den Wert derartiger Studienreisen ein Urteil bilden, so wird man zunächst zu fragen haben, worin sich die Kollektivreise von einer Einzelreise unterscheidet, und welches die höhere Form darstellt.

Zweifellos hat die Kollektivreise vor manche Vorteile voraus; die größere Anzahl der Teilnehmer ermöglicht, ein Maximum von Sachkunst für die Vornahme der beabsichtigten Studien aufzubringen. Die Teilnehmer können ja nach ihrer “Spezialität” ausgesucht werden und sich somit bei ihren Studien vorteilhaft ergänzen. So kann der Techniker mit dem Verwaltungsbeamten, der spezielle Dezernent einer Verwaltungsabteilung mit dem Chef der gesamten Verwaltung sich verbinden; der landwirtschaftliche oder industrielle Techniker mit dem Nationalökonomen, der Botaniker mit dem Zoologen und Geologen. Und der eine kann dem andern brauchbare Winke und fruchtbare Anregungen geben. Zudem sehen unter Umständen 10 Augen mehr als 2 (nicht immer!).

Weiter: die reisende “Kommission” findet in vielen Fällen leichter offene Türen als der einzelne. Gar wenn sie einen offiziellen oder halboffiziellen Charakter trägt, so öffnen die Unternehmer meist willig die Tore ihrer Fabrik, sie erscheinen selbst oder beauftragen ihre Direktoren, der Studienkommission den Betrieb “nach allen Seiten hin” zu zeigen; die Behörden bereiten Material vor, lassen Vorträge halten, instruieren die Vorsteher und Direktoren, und was dergleichen mehr ist.

Diese Bevorzugung der Kollektivreisenden birgt nun aber auch ernste Gefahren in sich. Das Bemühen der Behörden, Unternehmer usw., den Fremden nach Möglichkeit bei ihren Studien behilflich zu sein, führt leicht unwillkürlich dazu, daß diese das Studienobjekt in einer Art von Sonntagsverfassung nur zu Gesicht bekommen. Auch wird es den führenden Gastgebern leichter, die Beobachter irrezuleiten dadurch, daß sie ihnen nur gerade das zeigen oder nur gerade über das Vortrag halten, von dem sie wünschen, daß es bekannt werde.

Handelt es sich darum, Zustände auf ihre “Güte” hin zu studieren, also zu dem Zweck, sich ein Werturteil zu bilden, so kann die liebenswürdige Aufnahme, die eine Studienkommission erfährt, deren Mitglieder leicht dazu veranlassen, ihr Urteil in einem günstigeren Sinn abzugeben, als es vielleicht ihrer wahren Meinung entspricht. Kommen nun gar (wie es meist der Fall ist) offizielle “Empfänge” dazu mit den obligaten, erlogenen Begrüßungs- und Dankesreden, mit Sekt und Austern, so kann es leicht geschehen, daß die Kommission ihre Spannkraft einbüßt und in einer Art von Rausch ihre Aufgabe erledigt. Es war dann am Ende alles “höchst interessant”, alle Einrichtungen waren “vortrefflich”, “und von der Liebenswürdigkeit ihrer Gastgeber konnten die Mitglieder gar nicht genug Rühmens machen”, wie es schließlich in dem offiziellen Reisebericht heißt. Mit andern Worten: die Herren sind tüchtig eingeseift worden.

Ein anderer Uebelstand, der mit Kollektivstndienreisen naturgemäß meist verbunden ist, ist der, daß sie meist sehr kurz sind. Eine Kommission von sechs oder zwölf Leuten kann nur in ganz seltenen Fällen ein Jahr oder länger sich in einem Land aufhalten. In der Regel handelt es sich um wenige Tage oder Wochen, in denen möglichst viel gesehen werden soll. Das beeinträchtigt begreiflicherweise die Gründlichkeit des Studiums.

Im übrigen werden wohl bei dem Entscheid der Frage nach dem Wert solcher Studienreisen für die Bildung des Urteils die gleichen Momente entscheidend sein müssen, gleichgültig ob es sich um Einzel oder Kollektivreisen handelt. Mit andern Worten: damit eine Studienreise ihren Zweck erfülle und eine gründliche Erkenntnis des zum Studium ausersehenen Objekts zutage fordere, muß eine Reihe von Bedingungen erfüllt sein, die wir in subjektive und objektive zerlegen können.

Die subjektiven Bedingungen, deren Erfüllung zum Gelingen der Expedition notwendig ist, sind die Qualitäten der Studienreisenden selbst. Dies müssen natürlich Männer sein, die wissen, was sie wollen, die ihre Sache von Grund aus verstehen, die aufs peinlichste vorbereitet sind, ehe sie die Reise antreten. Eingehendes Studium der einschlägigen Literatur muß zu Hause der Reise voraufgehen. Jeder Teilnehmer an der Studienreise muß, ehe er den Fuß in das Beobachtungsgebiet setzt, ganz genau wissen, was er dort zu lernen hat, worauf er sein Augenmerk vornehmlich richten muß usw. Das versteht sich im Grunde alles von selbst.

Aber die Studienreisenden müssen nicht nur fähig sein, “die Wahrheit” zu erforschen, sie müssen auch gewillt dazu sein.

Und daran fehlt’s meistens. Zwar wird nur in seltenen Fällen die bewußte Absicht vorliegen, die Studien in einseitiger und parteiischer Weise vorzunehmen. Aber unbewußt wird ein großer Teil der Leute, die Studienreisen unternehmen, die Dinge schief sehen und einen subjektiv gefärbten Bericht davon erstatten, weil ihnen die Unbefangenheit mangelte. Beispiel: wenn vor einigen Jahren eine Kommission von Großindustriellen und Beamten der Großindustrie, die als ausgesprochene Gegner der modernen Arbeiterorganisationen bekannt waren, nach England ging, um die dortigen Gewerkschaftsverhältnisse zu “studieren”, so lächelten sich die Auguren, die davon Kenntnis erhielten, verständnisvoll zu. Es war eine Komödie, wußte man von vornherein. Und der Bericht, den diese “Studienkommission” davon veröffentlicht hat, bestätigte diese Annahme aufs nachdrücklichste.

Die objektiven Bedingungen aber, an deren Erfüllung der Erfolg irgendeiner Studienreise geknüpft ist, liegen in der Natur des Studienobjekts.

Nicht jeder Zustand, nicht jeder Zusammenhang läßt sich auf einer “Studienreise” erforschen, ja in der Mehrzahl der Fälle wird sich diese Erkundungsmethode als unzulänglich erweisen. Worüber man sich von vornherein klar sein sollte (leider aber keineswegs immer klar ist), ist dieses: daß der Studienreisende nur zwei Quellen hat, aus denen er Erkenntnis schöpfen kann: 1. die eigene flüchtige Anschauung, 2. die Aussprache mit den orts- und sachkundigen Personen, deren er auf seiner Wanderung habhaft werden kann. Alles, was sich nicht mit Hilfe dieser beiden Erkenntnisquellen ermitteln läßt, ist für ihn unerforschbar; also z. B. alles, was nur durch liebevolles Sichversenken in den Gegenstand oder durch Massenbeobachtung oder durch eine über einen längeren Zeitraum fortgesetztes Studium sich ergründen läßt. Man kann, um ein Beispiel herauszugreifen, keine Studienreise zur Erforschung der Arbeiterverhältnisse eines Landes machen. Denn diese lassen sich nur erkennen mit Hilfe der Statistik, der geschichtlichen Forschung, des langen Umgangs mit Arbeitern usw.

Man wird also im allgemeinen sagen können, daß soweit das Studienobjekt in Frage kommt – eine Studienreise um so eher Erfolg verspricht, je mehr jenes durch bloße Anschauung oder Befragung erforschbar ist: die Organisation eines Krankenhauses wird eher auf einer Studienreise studiert werden können als die Organisation etwa einer Armenverwaltung. Dort kann man durch bloßes Schauen, ergänzt durch kurze Fragen, eine Menge in wenig Stunden lernen; hier bedarf es eingehender Studien der Ziffern, der Erfahrungen während langer Jahre, um sich ein Urteil zu bilden usw.

Ich glaube, ich mache am besten klar, was ich über den Erkennungswert von Studienreisen auszusagen habe, wenn ich an einem Beispiel exemplifiziere. Ich wähle dazu einen berühmten Fall, der vor einiger Zeit viel besprochen wurde die Studienreise der englischen Moselykommission nach den Vereinigten Staaten von Amerika. Ueber diese ist ein umfangreicher Bericht erschienen, bei dessen Anzeige ich in anderm Zusammenhang mein Urteil über die Verwendbarkeit derartiger Berichte als Quelle sozialwissenschaftlicher Erkenntnis abgegeben habe. Der Sachverhalt ist folgender;

“Ein englischer Industrieller A. Mosely, der dem alternden Britannien gern mit einem Zusatz von Amerikanismus auf die Beine helfen möchte, der insbesondere die englischen Arbeiter gern die gleichen Bahnen einschlagen sähe, auf denen (seiner Meinung nach) ihre amerikanischen Kollegen zu so vortrefflichen Ergebnissen gelangt sind, hat eine Expedition von englischen Gewerkschaftsführern ausgerüstet zur Erforschung des amerikanischen Kapitalismus. 23 Vertreter aller wichtigen Industrien Englands haben sich zu einer Rundtour durch die östlichen Staaten der Union zusammengefunden, haben ein bis anderthalb Monate lang ein paar Dutzend Städte (bis Chicago und Pittsburg ging westwärts die Fahrt) durchstreift und haben dabei, soweit die Festlichkeiten, denen die Kommission in hohem Grad ausgesetzt war, Zeit dazu ließen, Fabrikbetriebe besichtigt. Was sie erschaut und erhört haben bei dieser Tour, haben sie in einem stattlichen Band niedergelegt; teils in Form von zusammenhängenden Reise- und Stimmungsberichten, teils in Form von Antworten auf die 41 Fragen eines Fragebogens, den ihnen der Veranstalter der Expedition, Me. Mosely, mit auf den Weg gegeben hatte.

Man erkennt auf den ersten Blick, daß der Wert dieser Quelle nur ein beschränkter sein kann, aus subjektiven und objektiven Gründen.

Die Persönlichkeiten, die zur Teilnahme an der Expedition aufgefordert wurden, sind zunächst als solche bis zu einem gewissen Grad Partei: sie mußten den Wunsch haben, aus Amerika den Eindruck mitzubringen, daß die englischen Arbeiter von ihren amerikanischen Kollegen weniger zu lernen hätten als die englischen Unternehmer von den Yankeeunternehmern; daß die amerikanischen Arbeiter besser gestellt seien und doch nicht mehr leisteten als die englischen, daß also, wenn die englische Industrie von der Amerikas etwa überflügelt werden sollte, daran nicht die hohen Ansprüche der englischen Arbeiter, sondern andere Umstände schuld seien, u. a. auch die geringere Fähigkeit des englischen Unternehmertums.

Aber auch abgesehen von der natürlichen Befangenheit der Beobachter: die Art der Beobachtung selbst ist unvollkommen. Das ganze Unternehmen hat etwa den Charakter einer Seminarexkursion getragen, mit dem Unterschied freilich, daß sich der Ausflug auf zahlreiche Etablissements erstreckte, und daß es Fachleute waren, die daran teilnahmen.

Aber das Eilende, Flüchtige, Oberflächliche der Beobachtung war doch das gleiche wie bei jeder beliebigen Besichtigung einer Fabrik. Da wäre es denn Aufgabe des Leiters der Expedition gewesen, vor allem die Teilnehmer darüber aufzuklären, was sie bei ihrer Schau nicht in Erfahrung zu bringen vermöchten; worauf also auch ihr Augenmerk nicht zu richten wäre. Daran hat es leider gefehlt. Im Gegenteil: die meisten Fragen des Fragebogens sind ganz unsinnig.

Trotzdem wäre es ganz falsch, der Enquete alle Bedeutung abzusprechen, die im Gegenteil, wie mir scheint, sehr groß ist. Denn der Punkte, über die sie uns wie kaum eine zweite Quelle Aufschluß zu geben vermag, sind viele. Es sind dies alle jene Dinge, die ein geübtes Auge im Vorbeigehen mit Sicherheit wahrzunehmen vermag. Dahin rechne ich; die Beschaffenheit der Arbeitsräume, die Art und Menge der benutzten Maschinerie, die Methode der Arbeit, das Benehmen des Arbeiters bei der Arbeit, sein Verhältnis zum Werkmeister (allenfalls auch zum Unternehmer), die Qualität der Produkte u. a.”

Will man also, daß bei einer Studienreise wirklich “etwas herauskommt”, so wird man vorerst sorgfältig zu prüfen haben, ob das Studiengebiet seiner Natur nach einer Erforschung durch die in Frage stehende Methode zugänglich ist; sodann wird man sich genau Rechenschaft darüber geben müssen, was überhaupt in den Bereich des Erkennbaren für einen Studienreisenden fällt; dann sind die passenden Personen auszusuchen, ihnen ist eine umfassende Vorbereitung zur Pflicht zu machen, und es ist endlich dafür zu sorgen, daß die “Kommission” nun auch wirklich alles zu sehen bekommt, was sie zu sehen sich vorgenommen hat. Nach Möglichkeit zu meiden sind Festlichkeiten, zumal solche, die einen Kater hinterlassen. Denn dieser beeinträchtigt am nächsten Tag das Studium. Auch sollten derartige “Studien”-kommissionen sich bewußt bleiben, daß sie gekommen sind, etwas zu lernen, und um sich selbst zum Gegenstand der Befragung, der Beweihräucherung und des Abphotographiert werdens degradieren zu lassen. “Wie das denn wohl zuweilen kommen mag.”

Wie aber muß unser Urteil lauten, wenn wir nach der allgemeinen “Kulturbedeutung” der Studienreise und insonderheit der (meist halb oder ganz offiziellen) kollektiven Studienreise fragend? Nun ich denke, soweit es sich nur um Vermehrung unserer wissenschaftlichen Erkenntnis handelt, wird man die Nützlichkeit solcher Studienart nicht in Zweifel ziehen können. Nur vorausgesetzt, daß ihre Verwendung in methodisch einwandsfreier Weise erfolgt. Alsdann kann das vergleichende Studium für die Gewinnung neuer Einsichten nur nützlich sich erweisen. Anders wird man urteilen über die praktische Tragweite unserer Veranstaltungen. Hier kann man zweifelhaft sein, ob die Uebertragung bestimmter Einrichtungen und Gebräuche aus einem Land in das andere sehr zweckmäßig ist. Wer nur als Zuschauer dies Leben mitmacht, wird es immer bedauern, wenn er die bunte Mannigfaltigkeit des alten Kulturlebens einer egalisierenden Amerikanisierung weichen sieht. Und zu dieser verhelfen uns sicher am letzten Ende alle Studienreisen mit praktischem Endziel.

Dieser Artikel erschien zuerst 1905 in Die Woche.