Moderne Luxusreisen zu Lande

Vor wenigen Tagen hat sich ein Ereignis vollzogen, das nicht nur für das zum Vergnügen reisende Publikum, sondern für den großen internationalen Verkehr von Bedeutung ist: am 1. Mai ging der erste Orientzug der Internationalen Schlafwagengesellschaft von Berlin nach Konstantinopel ab, so daß fortan die Hauptstadt des Deutschen Reichs mit dem Bosporus in direkter Verbindung steht.

Aus diesem Anlaß geben wir in knappen Linien eine Geschichte dieser Gesellschaft, die heute nach Ueberwindung großer Schwierigkeiten als eine gleichsam offizielle Einrichtung wohl das Anrecht auf allgemeine Beachtung erwiesen hat.

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Die mächtigen, luxuriösen Schlaf-, Speise-und Salonwagen bilden auf unsern Bahnhöfen schon längst eine gewohnte Erscheinung. Aber so manches Auge folgt ihnen noch immer mit gespannter Neugier, denn es umgiebt sie ein ganz besonderer Reiz: sie bringen einen Hauch mit wie von weiten Fernen und unbekannten Zonen; sie sind wie Fremdlinge, wie interessante Gäste, die in unser einförmiges, alltägliches Leben eine exotische Note hineintragen.

George Nagelmackers

Die Internationale Schlafwagen- und Expreßzüge-Gesellschaft bietet aber auch, abgesehen von dieser ihrer pittoresken Seite, ein Interesse dar für jeden, der den Aufschwung im Verkehrsleben aufmerksam verfolgt. An ihrem Werden, ihrer Entwicklung kann man ermessen, was seit den Zeiten der seligen Postkutsche aus unseren Verkehrseinrichtungen geworden und, auf der andern Seite, wie von jeher die Erleichterung in den Verbindungen dem Handel und Wandel zum Segen geworden ist.

Salon in moderem Luxuseisenbahnwagen

Jener schöpferische Mann, der vor siebenundzwanzig Jahren eine der bedeutendsten Verkehrseinrichtungen der modernen Welt aus dem Nichts schuf hatte er die Bedürfnisse seiner Zeit erkannt, oder schuf er erst unsere Bedürfnisse dadurch, daß er uns Gelegenheit gab, mächtige Entfernungen bequem zu überwinden ? Jedenfalls gab die Gründung der Internationalen Schlafwagengesellschaft den Anstoß zu einer vollständigen Umwälzung im gesamten europäischen Eisenbahnwesen, und den Vorteil davon hatte vor allem das reisende Publikum. Das war schließlich die Hauptsache.

George Nagelmackers, der Generaldirektor und Begründer der Schlafwagengesellschaft, ist Belgier. Er stammt aus Lüttich und genoß auch in dieser industriellen Empore Belgiens den ersten technischen Unterricht. Dann ging der junge Mann zur weiteren Ausbildung nach Amerika, wo er mit namenlosem Erstaunen sah, welche großartigen Fortschritte die Amerikaner schon damals in der Industrie des Beförderungswesens gemacht hatten. Nagelmackers kehrte mit zwei großen Gedanken heim. Er wollte dem alten Erdteil entweder Trambahnen schenken oder Eisenbahnschlafwagen. Er entschied sich zunächst für letztere. Seine eigene Familie war es, die das erste Kapital, eine halbe Million Franken, zusammenschoß, um ein Werk in Scene zu setzen, das die Staatsbahnen zwingen wollte, es als berechtigtes neues Glied bei sich aufzunehmen oder ihr eigenes Material zu verbessern. Das war zweifellos kühn genug. Aber Nagelmackers hatte neben dem Mut das Talent, selbst das Unmögliche möglich zumachen. Er fand außerdem vom ersten Tag der Verwirklichung seiner Ziele an einen Mitarbeiter in einem deutschen Landsmann, einem Rheinländer, Namens Schröder (Portr.), der gradeswegs von der Gewerbeschule in Köln zu ihm kam. Schröder wurde ebenso wie Nagelmackers selbst zu einem jener bedeutenden Organisatoren unserer Zeit, die, von der großen Menge kaum gekannt, mit Geschick und Klugheit den rechten Blick für die Bedürfnisse der Gegenwart verbinden.

Im Direktionsbureau der Schlaf- u. Luxuswagengesellschaft in Brüssel

Aus der gemeinsamen Thätigkeit dieser beiden Männer wuchs nach und nach jene Organisation hervor, die heute die ganze Welt kennt. 1873 rollten die ersten Schlafwagen auf der Strecke Aachen Berlin und später bis Ostende; dann verkehrten solche Wagen auch zwischen Köln und Paris. Nach der Wiener Weltausstellung von 1874 kam Wien-München hinzu, eine Linie, die bald bis Paris ausgedehnt wurde.

Allein das Publikum interessierte sich anfangs sehr wenig für die neue Einrichtung. Die Staatsbehörden hatten mit der Gesellschaft des Herrn Nagelmackers nur Versuchsverträge abgeschlossen. Die ersten Einnahmen waren außerordentlich gering. Da aber trat ein Ereignis von Bedeutung ein. König Leopold von Belgien, ein Monarch, der lebhaftes Interesse für große und der Zeit entsprechende Unternehmungen besitzt, stellte sich an die Spitze der Aktionäre der Schlafwagengesellschaft. Im Jahr 1876 wurde ihr Kapital auf 4 Millionen erhöht. 58 Wagen durchliefen in diesem Jahr bereits 4 868 077 Kilometer.

Der Gedanke der Schöpfung von Restaurationswagen datiert seit 1883; seit diesem Jahr nahm auch die Schlafwagengesellschaft den Namen an, den sie heute führt: „Compagnie Internationale des Wagon-lits et des Grands Express Européens“. Ueberhaupt bedeutete dies Jahr einen Wendepunkt für die Gesellschaft: die Regierungen betrauten sie mit der Beförderung von Poststücken in ihren Expreßzügen, und damit erhielt sie die Taufe des öffentlichen Vertrauens. Die großen Linien traten nunmehr in die Erscheinung. Paris-Konstantinopel kürzte die Fahrt um 30 Minuten ab; die Strecke Calais-Nizza-Rom wurde viel benutzt. Lissabon hätte schon seit 1884 mit Berlin und St. Petersburg über Madrid und Paris eine direkte Verbindung erhalten, wenn nicht die Cholera diesen Plan vereitelt hätte. Frankreich, Rumänien, Portugal, Oesterreich schlossen von 1885 bis 1891 weitreichende Verträge mit der Gesellschaft ab, der man immer mehr das Monopol des internationalen Verkehrsdienstes einräumte. Alle diese Verträge sind seitdem erneuert und verlängert worden; neue Verträge sind hinzugekommen.

Vom Mai 1896 ab sah Berlin endlich auch den Nordexpreßzug durch seine Mauern eilen; 1897 erhielt es den Nord-Süd Brenner Expreß; seit Dezember 1899 besteigt man in Berlin den Salonwagen, den man erst in Nizza oder Cannes wieder verläßt. Preußen, Bayern und Oesterreich schufen im Verein mit der Schlafwagengesellschaft den Luxuszug Ostende-Wien und darauf mit Fortsetzung bis Triest im Anschluß an die Dampfer des Oesterreichischen Lloyd. Auf dieselbe Weise wurde Aegypten mit Salon- und Schlafwagen belegt, die heute schon bis Luxor rollen. Und der Traum des Herrn Nagelmackers und seiner treuen Mitarbeiter ist es, den ersten Zug einzurichten, der Kairo mit dem Kap verbinden wird. Als am 4. Januar 1898 die Gesellschaft das Jubiläum ihres fünfundzwanzigjährigen Bestehens in Lüttich feierte und die Regierungen sich an diesem Ehrentag beteiligten, konnten die Herren Nagelmackers und Schröder mit Recht auf ihr Werk und die Verwirklichung ihrer Pläne stolz sein.

Jetzt war es ja auch nicht mehr die Schlafwagen- und Expreßzügegesellschaft allein, die ihrer Obhut und Verwaltung unterstellt war. Die Notwendigkeit der billigen und zuverlässigen Lieferung des Materials, die Notwendigkeit der Beschaffung von eigenen Ateliers zur Vervollkommnung in der Technik und den Bequemlichkeiten der Wagen erforderte eigene Anlagen und Werkstätten. Sie entstanden zuerst in St. Ouen dann kamen die Werkstätten von Marly oder Valenciennes und von St. Denis hinzu. Sie alle wurden 1892 zu einer eignen Gesellschaft vereinigt; diese Ateliers stellen einen Schlafwagen in sechs Monaten her und sind zur Zeit mit dem Bau von 122 Wagen im Wert von fast 8 Millionen beschäftigt.

Das zweite Werk der Gesellschaft, das 1894 zustande kam, nannte sich die Internationale Gesellschaft der großen Hotels. Wie die Gründung der eigenen Ateliers, so war auch die der eigenen Hotels eine richtige Folge der Geschäftsthätigkeit der Gesellschaft. In Nizza und Monte Carlo, in Lissabon und Kairo, in Konstantinopel und Therapia, in den Ardennen, Ostende und in Abbazia – überall erheben sich heute die prächtigen Hotelpaläste der Gesellschaft für ihre Reisenden, und zwar stets in einer mit künstlerischem Geschmack erwählten Umgebung. In Petersburg und in Moskau, selbst in Peking worden bald Hotels der Gesellschaft sich aufthun und abendländischen Komfort zu verbreiten suchen. Eine Musteranstalt von riesenhaften Dimensionen in diesem Genre erwartet die Besucher der Pariser Weltausstellung im Trocadero (vergl. Abb.). Und so wächst das Bereich der Internationalen Schlafwagengesellschaft von Jahr zu Jahr.

Das neue Trocaderohotel der Schlaf- und Luxuswagengesellschaft in Paris

Seit 1898 hat die Gesellschaft auch mit Rußland einen Generalvertrag abgeschlossen. Sie wird von Lissabon aus den sibirischen Zug in 15 Tagen nach Port Arthur oder in 20 Tagen von London nach Shanghai oder Japan führen. Schon jetzt rückt ein Luxuszug auf der sibirischen Bahn von Moskau bis Irkutsk vor und folgt, entsprechend den an Ort und Stelle durch René Nagelmackers, den begabten Sohn seines thatkräftigen Vaters, aufgenommenen Studien, etappenmäßig dem Bahnbau.

Linien der Internationelen Schlaf- und Luxuswagengesellschaft

Dann wird Berlin abermals, wie jetzt am 1. Mai d. J. einen neuen Abschnitt seiner Verkehrsentwicklung treten und der Berliner kann mit Stolz auf seine Stadtbahn blicken, über die hinweg der direkte Schienenweg bis nach Peking führt. Die Ausdehnung des Eisenbahnverkehrs hat noch lange nicht seinen Höhepunkt erreicht; je schneller aber und angenehmer der moderne Mensch von Ort zu Ort fliegt, desto enger knüpfen sich die Bande der einzelnen Nationen, desto weiter dehnt sich die Kultur aus.

Zum Schluß einige wertvolle Ziffern, die einen Begriff geben können, was für eine Arbeitslast und Umsicht die Leitung einer solchen riesenhaften Gesellschaft erfordert. Als Schlaf-, Speise- und Salonwagen rollen heute 921 Wagen durch Europa bis Constanza und Konstantinopel und Irkutsk im Osten, bis Aegypten im Süden. Das Fahrpersonal der Schlafwagengesellschaft als solches zählt 2600, das der großen Hotels 1800, das der Werkstätten 1850, zusammen also 6250 Menschen. Befördert wurden im vergangenen Geschäftsjahr 560 000 Personen; während der Fahrt wurden l 600 000 Mittagessen verabreicht. In Kilometern ausgedrückt, beherrscht die Gesellschaft heute 122 579 Kilometer, von denen auf die Direktion zu Brüssel, an deren Spitze Direktor Schröder verblieb, fast die Hälfte entfällt.

So also sieht jener kolossale Betrieb aus, der heute die langersehnte direkte Verbindung der Hauptstadt des Deutschen Reiches mit den Ufern des Bosporus herstellt.

Dieser Artikel von Alfred Ruhemann (Brüssel) erschien zuerst 1900 in Die Woche.