Die diesjährige Herbstmode will sich, wenigstens was Straßen- und Hauskleider anlangt, noch gar nicht recht entwickeln. Man trägt hier in Paris „pour totter“ und um die nötigen Besuche zu machen das, was der Sommer uns zurückgelassen hat.
Das paßt auch nicht schlecht für den kühlen, feuchten Herbst, denn selbst während der verflossenen „Hundstage“ schaurigen Angedenkens hat man hier weder der Boa noch dem kleinen Pelzvétement absolut „Valet“ gesagt und allerdings über den leichtesten, duftigsten Roben, die die Mode gleichsam dem ewig grauen Himmel zum Trotz für die „heiße Saison“ 1903 dekretiert hatte, Paletots und Kragen aus schwerstem Tuch und dickstem Pyrenäenstoff ausdauernd begünstigt. Das „Pariser“ Modebild bietet also augenblicklich noch wenig, eigentlich gar nichts Neues; einiges Leben herrscht in den Ateliers der großen Chiffonherrscher in bezug auf den bevorstehenden Besuch des Königspaars von Italien, für den meist Gesellschafts- und Theatertoiletten, für die Damen der „offiziellen“ Kreise bestimmt, vorbereitet werden.
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Die Welt aber, die hier die Mode macht (ich meine die in dieser Beziehung kompetente „Ganz“, nicht die „Kulissenwelt“), ist augenblicklich noch nicht in der Hauptstadt angelangt, sondern weilt auf dem Land; für sie ist der Oktober der Beginn der Schlußsaison, die alljährlich weiter ausgedehnt und von den Angehörigen des „Faubourg“ gern bis über Weihnachten hinaus verlängert wird. Die französische „Vie de Cháteau“, an der noch ein gut Teil der alten, echt französischen Eleganz hängt, übt auf die, die in ihre Intimität hineingezogen zu werden das Glück hatten, einen unwiderstehlichen Zauber aus, der allerdings vielfach von rein äußerlichen Umständen, von den großen Parks und seinen uralten Bäumen, von den Sälen und Galerien, in denen die Tradition von jahrhundertalten Geschlechtern erzählt, ausgeht. Diese alten Geschlechter genießen noch heute, mehr als die irgendeiner andern Nation, die Früchte, die die älteste ununterbrochene Zivilisation Europas über sie und ihre Heimstätten ausgeschüttet hat, und sind so in die Lage gesetzt, an eine Vergangenheit anzuknüpfen, die nicht nur ruhmreich und historisch bedeutend war. Sie erscheinen in der heutigen Zivilisation, die nur zu oft eine Hyperzivilisation ist, glänzend wie die Regenbogenstrahlen der geschmackvollen Lebensführung, die nun einmal hier daheim ist, und der Frankreich allerdings auch den Ruhm verdankt, jahrhundertelang die Kammerzofe und der Dekorateur des übrigen Europa gewesen zu sein. Daneben herrscht hier auf dem Land, in den „Cháteaux“, wie jedes anständige Herrenhaus, ob groß oder klein, im Gegensatz zu den „Fermes“ (Pachthöfen) genannt wird, noch Gastfreundschaft, eine Tugend, die in den Städten, namentlich in Paris, ausgestorben ist oder doch auszusterben droht. In Paris ist das Eßzimmer, selbst in hocheleganten, herrschaftlichen Wohnungen, immer das kleinste Gemach, von dem Architekten, der seine Landsleute genau kennt, in weiser Berechnung der Bedürfnisse so eingerichtet, daß Vater und Mutter und höchstens, so lange sie noch nicht der unvermeidlichen Pension oder Demipension einverleibt sind, die üblichen beiden Kinder in ihm Platz finden. Auf dem Land aber ist man zur Essenszeit noch willkommen, und gerade das Diner, das zwischen sieben und acht Uhr abends eingenommen wird, bildet sich, englischen Mustern folgend, immer mehr zu einer Vereinigung nicht nur der Familienmitglieder, sondern auch der von außen kommenden Gäste aus. Die englischen Gepflogenheiten haben da auch auf die Aeußerlichkeiten, auf Gedeck und Service und vor allen Dingen auf die Toilettenfrage eingewirkt.
Die im Cháteau anwesenden und zum Diner erscheinenden Herren legen, wenn sie nicht im „Dreß“ nach der Jagd erscheinen, ausnahmslos den Frack an; die Damen aber, ebenfalls nach englischem Muster, huldigen der dekolletierten Toilette, zu der sie, in leichtem Mißverständnis über die sie inspirierenden englischen Sitten, eigentümlicherweise, besonders wenn es sich um Jagddiners handelt, den großen eleganten Phantasiehut aufsetzen. Abb. 1 und 2 unserer Bilder zeigen derartige elegante Dinertoiletten aus gesticktem Seidenmusselin über farbigem Atlas; das Seidenmusselinüberkleid ist durchweg mit stilisierten Applikationen aus Atlas in der Farbe des Unterkleides garniert; um diese Applikationen legt sich, wie Abb. 2 besonders deutlich zeigt, ein Arrangement, das eine epochemachende Neuheit der Herbstmode zur Anschauung bringt – gewundene Draperien, Schleifen und Knoten aus Seidenmusselin, an den Befestigungsstellen und Hauptkonturen durch Metallfäden glänzend markiert.
In der Mitte der auf Abb. 2 ersichtichen Schleifen funkeln Brilland-, bezw.Straßknöpfe. Das rund ausgeschnitene Mieder zeigt die gleichen Applilalionen und den gleichen Steinschmuck.
Originell ist die plissierte Volantgarsierung nur bis zum Ellbogen reichenden Aermel, die in ihrer leichten Kreppzusammenstellung duftig gegen Seidenmusselin und Atlas abstechen. Die Coiffure – es ist der echte Dinerhut aus weißem Filz, Tüllruschen und großen Straußenfedern gibt die der jetzigen Dinermode aktuell eigentümliche Note, die in ihrem Ursprungsland England allerdings nur in Restaurants und besonders Hotels Anklang gefunden hat, hier aber jetzt als zum Diner völlig dazugehörig aufgefaßt wird. Abb. 3 zeigt ein entzückendes hellgrünes Voilekleid, dessen in vier verschieden breiten und verschieden mit dicker Seidenschnur gestickten Volants arrangierter, leicht schleppender Rock über ein Unterkleid aus starkem, gleichfarbigem Seidenrips fällt; die hoch zum Hals hin aufsteigende Bluse mit Schulterkragen zeigt die gleiche Seidenstickerei; Gürtel mit geknoteter Schleife aus grünem Seidenrips; vorn in scharfer Spitze geknickter Hut aus weichem, weißem Seidenfilz (dernier cri de Saison), mit grünen Federn garniert.
Abb. 4 zeigt an dem Schulterkragen der Toilette und über diesen vorn herabfallend ein originelles, neues Arrangement, an dem Schmuck und Passementerie sich vereinigen; die Kette aus Korallen ist effektvoll von größeren Perlen und Gehängen aus Muschelarbeit, die vielfach bei der Ausschmückung der Roben verwendet werden, durchsetzt und zu einem hübschen Ganzen zusammengestellt. An dem auf Abb. 4 deutlich sichtbaren Armband wiederholt sich dies Arrangement origineller Bijouterie. Eleganter als diese Art Schmuck, bei dem die Komplikation der Arbeit und Zusammenstellung vielfach den eigentlichen Wert und die früher alleingültige Gediegenheit ersetzen muß, ist auch heute noch die einfache schwere Riviére aus Brillanten, das hohe „collier de chien“ aus Opalen und Diamanten, vor allen Dingen aber die einreihige Kette aus recht egal großen, in der Form übereinstimmend ausgesuchten Perlen, die dem weiter oben beschriebenen Dinerkleid in seiner eleganten Einfachheit das rechte Cachet unnachahmlicher Eleganz verleiht.
Dieser Artikel erschien zuerst in Die Woche 42/1903, er war gekennzeichnet mit „Clementine“.