Volksbelustigungen

Die Volksbelustigungen sind voneinander verschieden, wie die Volkssprachen und die Volksdialekte.

Wollte man einem schlichten Mecklenburger oder Pommern zumuten, einem Hahnenkampf beizuwohnen und die Phasen eines solchen Gefechts mit Aufmerksamkeit oder Leidenschaft zu verfolgen, wie es in Südfrankreich oder Spanien Mode ist, so würde man wahrscheinlich auf einen sehr energischen und unverblümten Widerstand stoßen. In seiner Unterhaltung und in seinem Vergnügen muß, um ein Wort des großen Friedrich zu gebrauchen, „Jeder nach seiner Fasson selig werden“, und der große Humorist und Dichter Fritz Reuter drückte das noch drastischer aus. indem er sagte: „Wat den’ eenen sin Uhl is, is den annern sin Nachtigall“

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Andere Länder, andere Sitten!

Berliner Dampferpartien

Neben der Kremserpartie geht dem waschechten Berliner nichts über eine Dampferpartie. An der Jannowitzbrücke besteigt er mit Frau und Kindern den Dampfer, wählt sich sicher den besten Platz aus und bewegt sich nur in den Ausdrücken, die er von einem entfernten Verwandten übernommen hat der in der Marine diente. Er kritisiert den Maschinisten und den Steuermann, ja sein Urteil wagt sich sogar an den Kapitän „aber alles in Gemütlichkeit“.

Der Stelzenläufer
Englische Drahtseilkünstler
Fahrende Künstler

Der Berliner ist in seinen Volksbelustigungen alledem abhold, was er selbst in seiner drastischen und bilderreichen Sprache „Mumpitz“ nennt Er würde achselzuckend über den Stelzenläufer auf unserm Bild zur Tagesordnung übergehen in Paris dagegen nimmt ein solcher Künstler die gespannteste Aufmerksamkeit von jung und alt in Anspruch. Das Stelzen laufen ist allerdings in manchen Gegenden Frankreichs noch heute eine Art von Verkehrs- und Beförderungsmittel, und deswegen hat der Franzose für diese Uebung, die wir nur noch als Spielerei betrachten, ein gewisses Interesse.

Negertänze am englischen Badestrand

Andere Länder, andere Sitten! In englischen Seebadeorten finden sich häufig Negertrupps an, die ihre Tanzkunststücke produzieren. In England liebt man die Vertreter exotischer Nationen mehr als anderswo, die vielseitigen Handelsbeziehungen des Inselreichs haben das Verständnis für die Sitten anderer, namentlich „wilder“ Völkerschaften rege gehalten, und man vergißt bei den dunklen Herrschaften gern, daß man es hier gar nicht mit Kannibalen zu thun hat, sondern mit Leuten, deren Vorfahren seit langer Zeit mit europäischer Kulter vertraut sind, und man erfreut sich harmlos an den grotesken Sprüngen amerikanischer Neger, die Afrika meistens niemals gesehen haben.

Französische Athleten am Reck
Karusellfahren in Paris
Das grosse Rad

Bootfahren und Wassersport können vielleicht nirgends einen solchen Zuspruch finden, wie in London. Der Londoner, wie der Engländer ist Wassersportsman par excellence – das ist er schon seinem meerbeherrschenden Vaterland zuliebe – und nirgends findet man denn auch wassersportliche Veranstaltungen, die mit ähnlichem Enthusiasmus in Scene gesetzt sind, wie in England, speziell in London. Wo durchgeschleust werden muß, sammeln sich naturgemäß förmliche Karawanen von Wasserfahrzeugen, die von einem sachkundigen Publikum mit kritischem Blick gemustert werden.

Eselwettfahren in England

Die fahrenden Künstler mit ihren Wagen, die von müden Kleppern gezogen werden und die ganze Künstlertruppe beherbergen, sind wieder international. Man findet sie in der ganzen Welt, wo zahlende Menschen wohnen, sie führen den dressierten Pudel, der Kartenkunststücke machen kann, den Pony der das Alter einer jungen oder älteren Dame durch Kopfnicken anzeigt, und den Athleten, der zum Schrecken der Dorfherkulesse mit Zentnern spielt, mit sich.

Vergnügungsboote in der Schleuse

Ebenso international ist Karussellfahren. Ob es in horizontaler oder vertikaler Richtung vor sich geht, ist den Liebhabern, die sich gegen künstliche Seekrankheit gefeit wissen, übrigens ganz gleichgiltig; sie setzen sich ebenso gern auf das hölzerne Pferd, das übrigens Troja nicht erobert hat, wie sie sich einer Gondel des großen schwingenden oder rotierenden Rades anvertrauen. So sind die Volksbelustigungen verschieden, wie „die Geschmäcker“, und über diese soll man niemals streiten.

Dieser Artikel erschien zuerst am 05.07.1902 in Die Woche. Er war gekennzeichnet mit „R. C.“ und enthielt 10 Momentaufnahmen von Georg Busse, Berlin, Valla, Paris, Reinh. Thiele & Co., London, welche hier nachcoloriert dargestellt werden.