Vom Arbeiter zum Stahltrustpräsidenten

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Wir sind gewohnt, aus den Vereinigten Staaten von der Lebenslaufbahn begabter und vom Glück begünstigter Männer zu hören, die schnell von Stufe zu Stufe zu Reichtum, Macht und Einfluß emporgestiegen sind.

Unter den Dollarkönigen Nordamerikas haben nicht wenige mit nichts angefangen. Die Lebensgeschichte Carnegies ist bekannt. Edison hat als Zeitungsjunge angefangen. Mehr als ein Dutzend Milliardare haben ähnliche Schicksale hinter sich. In dem Leben der meisten unter ihnen spielt aber ohne Zweifel das Glück eine hervorragende Rolle. Namentlich erfolgreiche Spekulationen haben viel zu ihrem Aufsteigen beigetragen. Ist es ihnen doch tatsächlich weit schwerer gefallen, die ersten 10 000 Mark zu erwerben, als später, nachdem sie erst einmal eine Million in der Hand hatten, daraus 5 oder 10 Millionen zu machen.

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Sehr viel seltener sind in den Vereinigten Staaten die Fälle, in denen ein Mann von den untersten Posten an allmählich, nur auf Grund seiner beruflichen Tüchtigkeit, von Stufe zu Stufe emporstieg, bis er die höchste Stellung in seinem Beruf erreichte. Ein solcher Fall wird uns jetzt in der Person des neuen Stahltrustpräsidenten vor Augen gestellt. Denn James A. Farrell, der vor kurzem als Präsident an die Spitze des Stahltrusts gerufen worden ist, erhält zwar nicht das riesige Gehalt von jährlich 400 000 Mark, das der frühere Präsident, der Deutsch-Amerikaner Schwab, und nach ihm Mr. Corey bezog. Man hat ihm vielmehr „nur“ 200 000 Mark bewilligt; aber er wird ja wohl auch damit auskommen. Die Herabsetzung dieses Gehaltspostens geht hauptsächlich von der Überlegung aus, daß es tatsächlich unnötig ist, so ungeheure Gehälter zu zahlen, wie Schwab und Corey sie erhielten, und daß man einen hervorragend tüchtigen Mann, ja selbst den tüchtigsten in seinem ganzen Beruf, auch in Nordamerika für 200 000 Mark jährlich haben kann.

James A. Farell
James A. Farell

Der neue Stahltrustpräsident ist wesentlich älter, als Schwab es war. Eine hohe Gestalt mit scharfen und durchdringenden blauen Augen, über denen schon völlig weiß gewordenes Haar leuchtet – so stellt sich der neue Präsident äußerlich nicht mehr als Jüngling dar. Seine ruhige, bestimmte, stets gerade auf das Ziel losgehende Art und die unverkennbare Kraft, die aus seinem ganzen Wesen spricht, machen ihn aber für seinen Posten vielleicht geeigneter, als seine Vorgänger es waren. Er ist nicht mit der Plötzlichkeit in diese höchste Stelle seines Berufes emporgehoben worden wie seine Vorgänger. Gerade darum aber wird er sich für sein Amt noch besser eignen, da er alle Einzelheiten desselben weit besser und gründlicher kennen gelernt hat. 1863 geboren, mußte Farrell schon im Alter von 16 Jahren die Schule verlassen, um irgendeine Stellung anzunehmen, die ihm ermöglichen sollte, zu dem Unterhalt seiner Familie beizusteuern. Sein Vater, ein geborener Ire, der nach den Vereinigten Staaten ausgewandert war, besaß dort in New Haven eine kleine Reederei, hatte aber gegen Ende seines Lebens so beträchtliche Verluste erlitten, daß seine Familie dem Nichts gegenüberstand.

James A. Farrell, der älteste Sohn, hatte eine Anstellung in einer Drahtfabrik in New Haven gefunden. Wöchentlich erhielt er 4,65 Dollars, das heißt etwas über 18 Mark. Seine Arbeit bestand in der Überwachung einer Maschine, die den fertiggestellten Draht aufzuwickeln hatte. Allzu anstrengend war diese Arbeit nicht, da die Maschine eben fast automatisch arbeitete. Der junge Farrell, der über seine Tätigkeit viel nachdachte, fand bald heraus, daß einige der Spulräder länger waren als andere und daß sie nicht ganz gleichmäßig arbeiteten. Er beobachtete, daß der Draht sich nicht immer eng an die Spulen anlegte. Bei dem Versuch, den Grund dieser Erscheinung festzustellen, beschäftigte er sich eingehend mit seiner Maschine und nahm eine scheinbar geringfügige Veränderung vor, die die früheren Ungleichmäßigleiten und das schlechte Anlegen des Drahtes beseitigte. Nachdem Farrell sich zunächst zum Blockman aufgeschwungen hatte, ließ er sich auch in den übrigen Abteilungen des Drahtwerkes, in dem er beschäftigt war, verwenden. Insgesamt blieb er 9 Jahre lang dort und lernte so alle Einzelheiten der Arbeit gründlich kennen. Da die Fabrik jedoch zu den Anlagen alten Stils gehörte, die sich um Neuerungen nicht viel kümmerten, und auch in der Behandlung ihres Personals durchaus den Gewohnheiten früherer Zeiten huldigte, so sah er, daß er doch kaum Aussicht haben würde, etwa die Stelle eines „Superintendent Clerk“ (eines Abteilungsdirektors) zu erhalten; er entschloß sich daher, seine Vaterstadt zu verlassen und nach Pittsburgh zu gehen.

Damals befanden sich alle Fabrikanlagen der Eisen- und Stahlindustrie in Pittsburgh in lebhaftester Entwicklung. Man begann, die Abhängigkeit in der sich die amerikanische Stahlindustrie von den westeuropäischen Staaten, namentlich von England, befunden hatte, abzuschütteln und die eigene Kräfte zu regen. So war denn großer Bedarf an tüchtigen, umsichtigen, ihren Beruf gründlich beherrschenden Leuten, und wer wirklich gute Leistungen aufzuweisen hatte, konnte schnell emporkommen. Die Direktoren einer jeder Eisen- oder Stahlfabrik hielten Ausschau nach brauchbaren Leuten, die in höhere Stellungen befördert werden könnten, und so fiel denn das Auge des Direktors der Oliver Wire Company sehr bald auf den jungen Farrell, der innerhalb eines Jahres so schnell emporstieg, daß er stellvertretender Direktor wurde, worauf er eine Jugendliebe aus New Haven heimführte. Weiter studierte er eifrig alle Dinge, die mit den Herstellungsprozessen sowie mit den Absatzverhältnissen der Stahlfabrikation in Beziehungen standen, und konnte so bald wichtige Ratschläge geben. Da er ferner seinen Beruf aus eigener Erfahrung aufs genaueste kannte, so war er imstande, seine Befehle und Anordnungen in so präziser und sachverständiger Weise zu geben, daß er sie kaum jemals zu widerrufen brauchte. Und die Arbeiter befolgten seine Befehle lieber als die anderer Vorgesetzter, weil sie wußten, daß er von den untersten Stellungen an allmählich emporgestiegen war, was dem Amerikaner mit Recht besondere Hochachtung abnötigt.

Durch seine Studien lernte Farrell den Dingen besser auf den Grund zu schauen als viele Männer in ähnlichen Stellungen.

Als eines Tages ein Auftrag auf eine große Menge Draht von einer Telegraphengesellschaft erteilt wurde, die in Mittelamerika ihre Geschäfte betrieb, begnügte sich Farrell nicht damit, einfach die Anordnung zu geben, die gewünschte Menge Draht in der und der Stärke in der üblichen Weise herzustellen – sondern er überlegte sich, daß das tropische feuchte Klima Zentralamerikas an den Draht sicherlich andere Anforderungen stellen würde als das Klima der Umgebung Pittsburghs. Der Draht brauchte nicht darauf eingerichtet zu sein, daß er Frost aushielt, wie in den nördlichen Teilen der Vereinigten Staaten, aber er durfte nicht durch die Feuchtigkeit des heißen Klimas in Mittelamerika rostig werden. Tatsächlich fand Farrell, als er früher eingelaufene Briefe durchstöberte, daß aus Mittelamerika bereits Klagen über Mängel des Drahtes gekommen waren, die man sich nicht zu erklären gewußt hatte. Er fand bald heraus, daß eine kleine Abweichung in dem Prozeß der Abkühlung des Drahtes ihn erheblich besser vor der Gefahr des Verrostens schützen würde; zwar war dieser Draht nicht so widerstandsfähig gegen Frost – aber das bedeutete ja im vorliegenden Falle gar keinen Nachteil.

Bald wurde man auf Farrell auch außerhalb seiner Fabrik aufmerksam. Als eine neue Drahtfabrik mit großem Kapital und einer ausgedehnten Fabrikanlage geschaffen wurde (die Pittsburgh Wire Company), bot man ihm den Posten des Generaldirektors an. Er folgte diesem Rufe und zeigte schon durch die ersten Vorschläge, die er machte, wie gründlich er sich alle Einzelheiten zu überlegen pflegte und welch weiten Blick er hatte.

Die kaufmännischen Fähigkeiten, die Farrell im Einkauf und Verkauf, in der Behandlung der Kunden der Fabrik, in seinen finanziellen Ratschlägen zeigte, befestigten die Ansicht, daß er einer der tüchtigsten Männer sei, die in dem ganzen Beruf zu finden seien.

Als dann eine ganze Reihe von Fabriken zu der American Steel and Wire Company vereinigt wurden, ging auch die Pittsburgh Wire Company, die sich vortrefflich entwickelt hatte, in der neuen Firma auf, und Farrell wurde zum Generaldirektor der Exportabteilung ernannt. Nun siedelte er nach Newyork über, wo er in Brooklyn Wohnung nahm. Noch heute wohnt er dort, da er wenig Neigung zu haben scheint, in die Fifth Avenue, die Millionärstraße Newyorks, zu ziehen. Und nicht lange danach erhielt Farrell den gleichen Posten bei der United States Steel Products Export Company, die von dem Stahltrust (United States Steel Corporation) als Tochtergesellschaft gebildet worden war, um den gesamten Exporthandel des Trusts zu übernehmen.

Seither (es war im Jahre 1903) hat er diesen Posten vortrefflich ausgefüllt. Für viele Millionen hat der Stahltrust jährlich durch ihn in das Ausland verkauft; so hat er große Reisen in alle möglichen Länder in Europa, in Südamerika, in Ostasien zu machen gehabt. Als im Jahre 1907 die Wirtschaftskrisis auch den Stahltrust bedenklich mitnahm, hat er es durch die überaus geschickte Art, wie er seine Aufgaben erfüllte, verstanden, den Export des Stahltrusts in den Jahren des wirtschaftlichen Rückganges zu heben. Damals muß sich wohl Mr. Gary, der allmächtige Herrscher des Stahltrusts, nach dem die neue Stahlstadt am Südwestufer des Michigansees, nicht weit von den Toren Chilcagos, ihren Namen führt, gesagt haben, daß Farrell zu allen Stellungen innerhalb des Trusts berufen sei: auch zu der Stellung des obersten Generaldirektors, die er nun erhalten hat.

Dieser Artikel erschien zuerst in Reclams Universum Weltrundschau 25. September – 1. Oktober 1911, er war gekennzeichnet mit „E. S.“.