Vor Weihnachten bei den Kadetten

In der Pause

Von W. Scheer, Oberleutnant am Kadettenhaus Plön.

Sachte, ganz sachte rieseln die weißen Flocken auf die Erde herab, und immer höher wächst die sammet weiche Decke. Wenn nicht aus den Fenstern des großen weißen Schlosses, hoch oben über der Stadt, heller Schein auf die Schneefläche fiele, müßte man glauben, das alte Schloß sei in dem Weiß der ersten Schneenacht verschwunden. Aber trotzdem die verbleichenden Sterne noch am Himmel stehen, regt es sich schon tüchtig in seinen Mauern.

Die Kadetten sitzen beim Frühstück, lebhafter als in einem Vogelhaus schwirren ihre hellen Stimmen durcheinander, und immer wieder vernimmt man die Worte: Schnee, Schneeballschlacht und Schlittenfahren. Als sie nach dem Frühstück auf ihre Stuben stürmen, ist eine große Schlacht am Nachmittag auf dem Hof zwischen beiden Kompagnien ausgemachte Sache. Keiner denkt mehr an die Klasse und das böse lateinische Extemporale, das am heutigen Morgen noch winkt, aber jeder malt sich schon aus, wen er am Nachmittag am meisten „waschen“ wird. Natürlich wird die eigene Kompagnie Sieger sein. Aber auch im Leben der Kadetten kommt es nicht immer, wie man denkt. „Die Obertertia wird heute Nachmittag eine Nachhilfe stunde im Lateinischen bei Herrn Professor Müller haben“, befiehlt der gestrenge Kompagniechef beim Mittagsappell. „Ihr scheint mit euren Gedanken“, fährt er fort, „schon wieder zu sehr bei dem Schnee und in den Weihnachtsferien zu sein. Es ist gar keine Aufmerksamkeit mehr im Unterricht vorhanden, ich habe heute der Lateinstunde beigewohnt und mich selbst davon überzeugt. Rücksichtslos bestrafe ich alle die mit Ferienverkürzung, die in einem der Hauptfächer eine 4 haben. Das merkt euch! Kompagnie kann abrücken! Danke sehr, meine Herren“, wendet er sich zu den Kompagnieoffizieren.

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Die Kompagnie rückt zum Essen auf den Eßsaal hinauf, und während der Mahlzeit vernimmt man, wenn man genau hinhört, einige ganz regelrechte Flüche. Aber das hilft nichts, man entschließt sich nach langem Hin und Her, die geplante Schlacht auf den andern Nachmittag zu verlegen. Am Nachmittag schwitzen die Obertertianer im Lateinischen ganz gehörig. Der Herr Kompagniechef wohnt der Stunde persönlich bei, und Notizbuch und Bleistift kommen kaum einen Augenblick zur Ruhe. Das beunruhigt die jungen Herren sichtlich, und so interessieren sie sich mehr für ihren Cäsar, als der Herr Professor und der Herr Hauptmann erwartet haben.

Draußen aber werden sie nur wenig vermißt. Die übrigen Kadetten haben sich mit ihren Schlitten auf dem Schloßberg eingefunden, und der Lärm ist zunächst so groß, daß ein vernünftiger Mensch sein eigen Wort nicht verstehen kann. „Dixter zuerst runterfahren“ Dixter ist ein alt eingebürgerter Kadettenausdruck und bedeutet, daß einer bei irgendeiner Sache der Erste sein will – „du, wir fahren zusammen“ – „Kerl, du hast ja meinen Schlitten“ – „nee, i wo, das is meiner“ – Leutnant, dürfen wir“ – so tönt es aus der dichten Schar in ohrenbetäubendem Geschrei durcheinander.

Bahn für zehn!
Bahn für zehn!

Mit Donnerstimme ruft nun der Erzieher plötzlich dazwischen: „Achtung!“ und sagt sehr bestimmt. „Ihr könnt jetzt anfangen; es wird aber nur auf der rechten Seite gefahren, die linke wird zum Heraufgehen benutzt. Sowie ich pfeife, stoppt jeder, so schnell er kann, ab Zusammenzufahren ist nicht erlaubt, ebenso darf nicht mit dem Kopf nach vorn gefahren werden! So, nun kann’s losgehen!“ Da saust auch schon der Erste den Berg hinunter und in kurzer Folge alle andern hinterher. „Bahni!“ tönt es fortwährend geradezu markerschütternd durch die Luft. „Bahni, Bahni – Bahni“ „Kerl, bist du dumm“, schreit ein anderer, „da liegen wir alle beide!“ „Ja, was kann ich dafür, fahr mich doch nicht an“, erwidert der andere, und so gibt es fortgesetzt kleine Streitigkeiten, die aber harmloser Natur sind. Wird es dem einen oder andern zu toll und er ist der stärkere, so steckt er schnell den Gegner in den Schnee und wäscht ihm gehörig den Kopf. Kommt dieser wieder recht zu sich und will sich wehren, so ist der andere sicher schon wieder den Berg hinauf oder hinunter. Um den gestrengen Herrn Erzieher steht eine kleine Schar und redet mit tausend Wünschen auf ihn ein. „Herr Leutnant, dürfen wir nicht zusammen, das geht doch so anständig?“ „Herr Leutnant, dürfen wir wirklich nicht im Liegen mit dem Kopf zuerst, Herr Leutnant, das war doch so doll anständig?“

Mit dem immer wiederkehrenden Wort „anständig“ bezeichnet der Kadett den höchsten Punkt seiner Gefühle! Aber trotz alledem läßt sich der Gestrenge nicht erweichen. Als es ihm schließlich zu toll wird, ruft er: „Jungens, nun laßt mich in Ruhe, ich will auch einmal fahren!“ und schnell hat der Herr Erzieher einen Schlitten erobert und saust nun mitten unter seinen Schutzbefohlenen den Berg hinunter. Als er gar die Vorüberfahrenden mit Schnee bewirft und erlaubt, daß auch er im Fahren geschneeballt wird, wollen der Jubel und das Hallo nicht enden. – Da, ein schriller Pfiff, und das Kommando „Hinaufrücken ertönt …

Arbeitsstunde
Arbeitsstunde

So kommt allmählich die letzte Stunde des Tages heran, und da entwickelt sich bei den kleinen Herren eine fieberhafte Tätigkeit. Alle Stuben duften nach einem eigentümlichen brennartigen Geruch. Jeder sitzt an seiner Weihnachtsarbeit für Mutter, Vater, Schwester oder Bruder. Wirkliche kleine Künstler haben sich hierbei entwickelt. So brennt der Fritz für den Vater einen Zigarrenschrank, der sich sehen lassen kann. Aber auch Kerbschnitzerei finden wir in reichem Maß vertreten, ja einzelne fördern sogar als Maler schon recht Gutes zutage.

Bei den Weihnachtsarbeiten
Bei den Weihnachtsarbeiten

Bei der Arbeit wird wenig gesprochen; jeder sucht nur fertig zu werden, denn in fünf Tagen ist die Ausstellung der Weihnachtsarbeiten und da ist es Ehrensache, das Beste zu zeigen, was man leisten kann. Plötzlich kommt der Erzieher! „Sitzen bleiben“, ruft er schon in der Tür, die zu seinem Zimmer führt. „Na, wie weit seid ihr denn? Muß ich mal wieder helfen? „Ach bitte hier, Herr Leutnant, bitte hier, bitte hier!“ schallt es von allen Seiten. „Ruhe,“ ist die Antwort, ich komme, solange die Zeit reicht, zu jedem. Bei Ihnen, Hans, bin ich gestern schon gewesen, also nun mal ein bißchen drangehalten, die Blume muß noch viel mehr Schatten haben auf der rechten Seite!“ Dann setzt er sich zu einem andern, der das Bild eines Rehbock in Oelfarben sehr hübsch auf einem Holzschild angelegt hat. Während er Palette und Pinsel in die Hand nimmt, sagt er; „Kurt, ich habe mir die Sache überlegt, den Rand des Schildes werden wir doch in rot anlegen und außen herum einen kleinen Goldstreifen ziehen, ich glaube, das wird gut aussehen, und Sie werden es leichter treffen als die braune Farbe. Einverstanden? „Jawohl, Herr Leutnant“, ist die Antwort.

„Herr Leutnant müssen nur so gut sein und den Rand anfangen.“ „Will ich tun, mein Junge“, erwidert der Erzieher, aber ich mache nur die Ecke hier oben, das andere malen Sie selbst. Holen Sie sich mal einen Schemel, und passen Sie auf wie ich die Farben mische.

Während Kurt nun eifrig der Arbeit seines Lehrmeisters folgt, schwirren von allen Seiten Fragen an diesen heran. „Herr Leutnant, darf ich den Tiefbrand anfangen, oder stört das jetzt?“ fragt einer. „Nein, fang nur an, ich rauche dagegen“, ist die Antwort. „Herr Leutnant, sind die Blätter so dunkel genug?“ fragt ein anderer und steht schon mit der hochgehaltenen Arbeit neben seinem Erzieher. Als dieser aufblickt, zuckt ein Lächeln um seine Lippen. „Menschenkind, ich glaube doch wirklich, Sie sind farbenblind. Das sieht ja schrecklich aus. Palo, helfen Sie dem Burkner mal, Sie sind ja beinah fertig! Sonst werden die Rosenblätter die reinen Kohlköpfe.“ Mit rotem Kopf sieht Burkner hilfeflehend zu seinem Stubenältesten, der auch wirklich die Rosenblätter vor dem Kohlkopfschicksal rettet. Bald darauf ist alles wieder in die Arbeit versenkt. „Na, Jungens,“ ruft der Erzieher dazwischen, „singt mal ein Weihnachtlied.“ Nach wenigen Augenblicken tönt das alte, liebe Weihnachtslied „O du fröhliche, o du selige, gnadenbringende Weihnachtszeit“ zweistimmig durch die Stube. Ordentlich etwas wie Weihe hat sich über die sonst so lebhaften Knabengesichter gelegt, und als plötzlich der schrille Ruf der Klingel andeutet, daß die Beschäftigungsstunde vorüber ist und es in einer Viertelstunde ins Bett geht, tönt ein allgemeines „o weh“ durchs Zimmer.

„Na, Jungens,“ sagt der Erzieher, „nun will ich euch mal etwas sagen: wer wirklich an seiner Weihnachtsarbeit ordentlich gearbeitet hat und in der Schule fleißig gewesen ist, der lasse einmal heute seine Arbeit auf seinem Schrank liegen. Ich habe gestern abend spät auf unserm Korridor den Niklas mit dem Christkind getroffen. Die erkundigten sich nach euch. Vielleicht sehen sie eure Arbeiten doch einmal an und helfen hie und da nach.“ – Die Großen lachen verschmitzt in sich hinein oder murmeln vor sich hin „Anständig“! Die Kleinen aber hängen mit großen Augen an den Lippen des Sprechers, gehen still an ihren Schrank und legen ihre Sachen oben hinauf dann ruft der schon auf der Schwelle stehende Erzieher: „Gute Nacht, Jungens“ und „Gu-te Nacht, Herr Leutnant“, schallt es einstimmig zurück. „Rechts um, ohne Tritt, Marsch!“ kommandiert der Stubenälteste und führt seine kleine Schar auf den Appellflur der Kompagnie. Dort treten die einzelnen Stuben nebeneinander an, und die Stubenältesten melden dem Kompagnieführer, dem ältesten Kadetten der Kompagnie, der Unteroffizier ist, ab. Die Türe eines Zimmers öffnet sich, und der Offizier vom Dienst betritt den Flur. „Still gestanden!“ befiehlt die Stimme des Kompagnieführers.

Mit einer Bewegung der Hand an die Mütze dankt der Offizier für die Meldung. „Ich mache darauf aufmerksam,“ sagt er in strengem aber wohlwollenden Ton, „daß ihr auf dem Schlafsaal nicht mehr sprechen dürft. Höre ich heute abend wie gestern wieder sprechen, so bringe ich dies unbedingt Herrn Hauptmann zu Meldung. Ihr wißt, die Ferienverkürzung läßt bei solchen Sachen nicht lange auf sich warten. Also, danach zu richten! – Rührt euch! Wir wollen beten.“ Langsam spricht der Kadett vom Dienst das Gebet des Herrn. Eine kurze Pause nach dem Amen: „Gute Nacht Kadetten“, ruft der Offizier vom Dienst, und wieder wie aus einem Mund hallt es zurück: „Gu -te – Nacht – Herr O-ber-leut-nant!“ Auf das Kommando „Kompagnie kann abrücken“ marschiert die Kompagnie geschlossen nach dem Schlafsaal.

In der Pause
In der Pause

Als nach einer halben Stunde der diensthabende Offizier leise durch die Bettreihen geht, liegt alles im tiefsten Schlummer.

Auf der Kadettenstube aber sitzt der Erzieher und malt und brennt bis spät in die Nacht hinein den Weihnachtsarbeiten seiner kleinen Zöglinge. Neben jede fertig gewordene Arbeit legt er zwei dickbäckige rote Weihnachtsäpfel. Als am nächsten Morgen die Kleinen zuerst auf die Stube stürmen, da triumphieren sie, daß sie ihrem Erzieher geglaubt haben, trotzdem die Großen sie auslachten.

Und in fünf Tagen werden sie das Muttern erzählen, und die wird nicht lachen.

Dieser Artikel erschien zuerst in Die Woche 51/1903.