Wie alljährlich wurden auch in diesem Jahr etwa 90 Selektaner und etwa 140 Obersekundaner der Haupkadettenanstalt in Großlichterfelde bei Berlin in die Armee eingereiht, die auf diese Weise ungefähr ein Drittel ihres Bedarfs an Offizierersatz deckt.
Gewiß hat mancher der jungen Leute mit gemischen Gefühlen die Nachricht von seiner Zuteilung zu einem entfernten Grenzregiment erfahren, aber schließich können ja nicht alle in die großen Hauptstädte oder gar nach Berlin kommen. Als Trost mag ihnen dienen, daß die Aufgabe es Soldaten gerade an der Grenze besonders schwer und verantwortungsreich ist und ganze Männer erfordert. Außerdem ist dem jungen Mann während seiner langen Kadettenzeit der Geist des unbedingten Gehorsams so zur zweiten Natur geworden, daß er sich bald an die neuen Verhältnisse gewöhnt und der kleinen Garnison ihre vorteilhaften Seiten absieht. Die große Mehrzahl hat aber ihre Wünsche berücksichtigt gefunden, und die Militärschneider können gar nicht schnell genug arbeiten, um endlich den jungen Leutnant oder Fähnrich spiegelblank, geschniegelt und gebügelt aus ihren Werkstätten hervorgehen zu lassen.
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Die lange, lange Schulzeit ist ja nun endlich vorüber. Wer will es da dem jungen Mann verdenken, wenn er besonders gehoben in der neuen Würde daherschreitet und der nagelneue Säbel manchmal etwas vorschriftswidrig lang und laut hinterherrasselt? Und die Schule, die diese durch jungen Leute durchgemacht haben und die in ihrer fast zweihundertjährigen Einrichtung stets dem Herzen des Königs am nächsten gestanden hat, ist kein Kinderspiel, keine oberflächlich bildende Anstalt, sondern sie bereitet in ernster und umfassender Arbeit den Schüler von Jugend auf zu seinem Beruf vor. Vornehmlich der deutschen Sprache und Geschichte, dann aber auch den neueren Fremdsprachen ist die längste Zeit gewidmet.
Wenn der Geist nach angestrengter Arbeit ruhen will, so bietet sich dem Körper überall Gelegenheit zur Ausbildung und Erholung. Da ist zunächst der praktische Dienst, dessen Erlernung für den zukünftigen Soldaten unbedingt nötig ist und dessen glänzende Ergebnisse gelegentlich der Frühjahrs- und Herbstparade dem Allerhöchsten Kriegsherrn gezeigt werden: fast immer findet der Vorbeimarsch der Kadetten besonders lobende Erwähnung in der Kritik. Neben dem Exerzieren wird vor allen Dingen der Gymnastik große Aufmerksamkeit gewidmet. Ueberall auf den weiten Höfen und in dem schattigen Garten kann man die frischen, schlanken Gestalten an den Geräten sehen, wie sie die schwierigsten Uebungen ausführen. Bajonett-, Hieb- und Stichfechten, Klettern, Nehmen von Hindernissen und Sprungübungen in allen Höhen und Weiten das alles lernt der junge Mann spielend, bis schließlich im Sommer der allgemein bekannte „Korso“ vor auserlesenen Zuschauern eine glänzende Probe des erreichten Könnens vorführt.
Neben den rein dienstlichen Uebungen betreiben die Kadetten natürlich alle möglichen Sports, in erster Linie Tennis, Radfahren, Schwimmen und Rudern. Für Tennis und Radfahren bietet sich auf den Höfen vortreffliche Gelegenheit, besonders an Sonntagen für die Bedauernswerten, die keinen sogenannten „Urlaubsort“ in Berlin haben, bei dem sie im traulichen Familienkreis den Sonntag zubringen können. Zum Schwimmen und Rudern geht’s an den Teltower See; zehn schlanke Gigs laden zum Rudern ein.
Für die Ausbildung der Oberprimaner und Selektaner im Reiten besitzt die Hauptkadettenanstalt etwa fünfzig Dienstpferde. Zwei Kavallerieoffiziere leiten den Unterricht, der in gedeckten und offenen Reitbahnen, sowie auf dem Exernzierplatz vor der Südfront abgehalten wird.
Besonderes Interesse erfordert noch der geräumige Speisesaal, in dem täglich zu drei Mahlzeiten – Frühstück, Mittag- und Abendbrot – sich die sämtlichen zehn Kompagnien einfinden. Natürlich ist es keine Kleinigkeit, die neunhundertachtzig jungen Herrn satt zu bekommen; doch die frischen Gesichter bilden den besten Beweis, daß Speise und Trank nichts zu wünschen übriglassen.
P. Greff
Dieser Artikel erschien zuerst in der Ausgabe 15/1901 von Die Woche.