1905, von J. C. Heer. An die zwölfhundert Gäste aus allen Ländern, darunter eine steigende Zahl von Deutschen, vergessen in dem Hochtal von St. Moritz die Winterleiden der Niederung, Unbeständigkeit des Wetters, Nebel und Nässe und geben sich in erhöhtem Daseinsgefühl den Freuden eines Winters hin, der, gesättigt mit Stimmung und Poesie, ein vom November in den März andauerndes Schnee und Lichtfest ohnegleichen ist.
Im November schon bedecken sich die oberengadinischen Seen mit einem glatten Fenster halbmeterdicken Eises, das, solange kein Schnee darauf fällt, den überraschendsten Anblick gewährt. Dörfer und Berge beschauen sich darin wie in einem Spiegel, die Scheibe ist so glasklar und durchsichtig, daß man durch sie den in feinem Grau und Grün abgetönten Seegrund und die vermoderten Bäume sieht, die wie Totengerippe halb aufrecht aus dem Boden ragen. Wer wagt sich hinaus auf das Fenster, das die Schrecken der Tiefe nicht verbirgt? Zuerst die kecke Jugend, dann jedermann! Die Schlittschuhläufer ziehen die Striche, Bogen und Spiralen ihres Laufs, das Eissegel schwebt mit farbigem Wimpel über die Fläche, der Huf der Schlittenpferde schlägt die Funken daraus, um fliegende Buden herrscht festliches Volksleben. Rauchende Fackeln und rote Feuerscheine beleuchten das übermütige Spiel eines Eisballs, und wandernde Lichtpunkte venezianischer Campen deuten noch die Spuren einsamer Schwärmer an. Zwei Leuchten gleiten über die Seen. Wohin die eine sich wiegt, schmiegt sich in Einklang und Melodie die andere. Ein Liebespaar gaukelt durch die Sternennacht, denn Flirt und Liebesspiel gehören zum Winterleben von St. Moritz, es ist voller Novellen und Romane.
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Oft bereiten die hellen Sternennächte dem Schlittschuhlauf auf den engadinischen Seen ein plötzliches Ende. Aus den Höhen gleiten kristallinische Reifausscheidungen auf das Eis, kalte weiße Rosen wachsen darauf, ein fußhoher Bart zierlichster Gebilde entsteht, farnkrautähnliche Eisblumen von riesenhafter Größe bedecken die Gewässer von Ufer zu Ufer und blitzen wie Diamanten in der Morgensonne. Das heitere Spiel auf den Seen aber ist aus, und die Menschen, Engadiner und Gäste, wünschen sich den Schnee.
Wenn die Flocken im Hochtal fallen, kommen sie groß wie Schmetterlinge, dicht und schwer. In einer einzigen Nacht fällt manchmal ein halbmannshoher Schnee, und wenn die Sonne über die Berge ins Tal schaut, blickt sie in ein märchenhaften Reich von unberührter Pracht.
Die Dörfer sind darin fast versunken, nicht nur die Seen, auch die Flüsse verbergen sich unter der weißen Deck, und das Gebirge selbst verändert sein Bild. Der Schnee übt eine ausgleichende Macht, er adelt die kleinen Berge und erniedrigt die hohen, vor allem leidet er seine Kanten, unendlich weich und mollig liegen Tal und Berg.
Schnee – und nun erst erwacht bei Einheimischen und Fremden das volle Winterleben des Tals. Eine ungewohnt freudige Stimmung bemächtigt sich des sonst so ruhigen Engadiner Volksschlags, die Zeit der großen Geselligkeit ist da. Die Bewohner der Dörfer, Männer und Frauen, veranstalten die „Schlittedas“, die festlichen Ausfahrten und besuche bei den Bewohnern anderer Dörfer. Bei großen Mahlzeiten nach altem Brauch des Tals und bei einen Trunk edlen Deltliners pflegen sie das klangvolle romanische Lied. Sausende Schlitten und fröhliches Geklingel auf allen Straßen! Wie die Engadiner lieben namentlich jene Fremden, die nicht eigentliche Sportsleute sind, die Schlittenausfahrten, und um die Hospize der Pässe sammeln sich manchmal die Fuhrwerke der Ausflügler zuhauf.
Aber die Kälte? – Kalt sind im Engadin gewöhnlich nur der Abend, die Nacht, der Morgen, bis die Sonne kommt, die Zeit also, die man im Hotel verbringt.
Früh und blutrot sinkt die Wintersonne in das Felsentor des Maloja hinab und erfüllt das Tal von St. Moritz mit roter, durchsichtiger Glut, der Piz Langnard flammt, als wäre er nicht kalt, sondern durchströmt von innerem Feuer; die Glut vergeht und kommt wieder, doch in immer matteren Tönen, und allmählich steht die Alpenwelt in grünlicher Sterbensblässe und eherner Unbarmherzigkeit. Ueber die todestraurigen Gipfel steigt funkelhell der erste Stern. Das ist die Zeil, wo die Kälte grausam auf jene hereinbricht, die noch im Schlitten unterwegs sind. Die Leiber der Pferde bedecken sich über und über mit Reif, eine rauchende Dampfwolke steigt von ihnen empor, und was da zieht und wandert, gewährt einen sonderbar schemenhaften Anblick. Die zu zwei und zwei sitzenden Passagiere sind in Pelzmäntel und Stülpmützen gehüllt; wo zwischen Tüchern und Schleiern etwas Gesicht frei wird, hat sich das Eis an die Brauen und Wimpern und an den Schnurrbart gesetzt. Hinten auf dem Trittbrett des Schlittens steht, das Leitseil in den Händen und halb zur Eissäule erstarrt, der wetterharte, wildbärtige Lenker des Fuhrwerks. Der seltsam modulierte, fast traurig erklingende Ruf, mit dem er sein Pferd ermuntert, und das über dem Schnee verhallende Geschell der Tiere sind die einzigen Laute in der Stille, die vorher munteren Passagiere haben in der beklemmenden Kälte das Sprechen verlernt. Stumm sehnt sich jeder an sein Ziel.
Nun aber winken uns die elektrischen Lichter von St. Moritz tröstlich entgegen. Man kann sich keinen größeren Gegensatz denken als die Dämmerungsstimmung der Winternacht auf den Straßen des Hochgebirges und das Innere eines Hotels von St. Moritz. Eine Ueberfülle des Lichts flutet durch die schönen, weiten Räume, in der Wärme, die vom Vestibül zum Dach strömt, erwacht das halbschlummernde Herz, gierig saugen die Glieder die Milde ein, der Ausblick frischen Grüns und der Duft frischer Blumen zaubern uns ein Frühlingsmärchen vor. Musik und Lieder erklingen, eine lebensfreudige Gesellschaft, die Damen in prächtigen Toiletten, ergeht sich in Geplauder und Geflüster des Flirts, und unter den fröhlichen Kindern der Welt, die sich mit Spiel und tanz durch die Abende scherzen, vergisst man den Grimm der freien Natur.
Die tiefste Temperatur des Engadin bewegt sich meistens um 20 Grand unter Null, man erträgt die Kälte im Hochtal leichter als im feuchten Klima der Niederungen, das die Luft außerordentlich trocken ist. Und seit die Albulabahn die Gäste in wohlerwärmten Wagen bis nach St. Moritz führt, liegt eigentlich für niemanden mehr die Notwendigkeit vor, sich auch nur eine Stunde der Kälte preiszugeben, und man genießt vom engadinischen Winter nur seine herrliche Sonne.
Jeden Tag nämlich ergibt sich in St. Moritz ein wahres Wunder. In der zweiten Hälfte des Vormittags steigt die kleine, glühende Wintersonne über den schneeigen Rand des Gebirges hinab ins Tal. Das ist das Signal des Lebens im Dorf. Was gesunde Glieder hat, schwärmt ins Freie. In weißen Wollmützen und buntem Flanell, in den merkwürdigsten und auffälligsten Sportanzügen eilt das junge Volk auf die Straßen und Spielplätze.
In den Dachrinnen beginnen die Schmelzwasser zu knistern, der Sonnenschein überwallt das Tal so stark, daß das Tagesgestirn schärfer als im Sommer herniederbrennt, Mantel und Mütze unerträglich werden, das Spielvolk sich im Sportnegligé bewegt und Gesellschaften auf den gefrorenen Seen ihre Picknicks abhalten. Sommer im Winter! Ja, im Februar, wenn die Sonne schon wieder etwas mehr Kraft erlangt hat, ereignen sich oft Sonnenscheintemperaturen von 30 Grad über Null.
In diesem Leib und Seele mit Lebenskraft erfüllenden Lichtglanz entfalten sich die festlichsten Bilder der Sportswelt, die sich in St. Moritz zum Winterspiel Stelldichein gibt.
Sobald der Schnee die Augen der Seen geschlossen hat, bilden von den Hotelunternehmungen geschaffene künstliche Eisringe und Bahnen die Sammelstätten des Sports. Die Schlittschuhläufer entzücken die Zuschauer bald durch die Schmiegsamkeit ihrer Bewegungen, bald versetzen sie sie durch die Kühnheit der Sprünge in Erstaunen. Neben den Champions der Kunst entfalten Mädchen und Frauen die Reize der Bewegungsspiele mit exzentrischem Geschmack und ernten den stillen oder lauten Beifall der Zuschauer. Die Bälle des Krocket und Lawn-Tennis fliegen über das Eis, Damen und Herren schlagen mit gekrümmten Stäben das Hockey durch die Sonne oder treiben das Curling, ein Eiskegelspiel, bei dem es gilt, einen Stein von der Form und Größe einer Wärmflasche in möglichst wenigen Stößen über die geglättete Bahn an ein Ziel zu schieben. Sport, nichts als Sport, in der Sonne aufjubelnde Lebenslust!
Jauchzendes Leben herrscht auch auf den Schlittenbahnen! Ein besonders heiteres Bild gewährt das Treiben auf dem Village-run, der Dorfschlittenbahn, die sich als eine künstlich vereiste, steile Holzkehle in Windungen gegen das westliche Ende des St. Moritzersees hinunterzieht. Die Schlittler bedienen sich der Skeletons meterlanger, niedriger, leichtgepolsterter Schlitten, auf die sie sich bäuchlings legen. Aehnlich wie Frösche mit den Händen und Füßen rudernd und schwimmend, steuern sie die Fahrzeuge, die im Lauf wie Pfeile an die Eiswände der Kurve emporschießen, sich aber in dem Augenblick wieder in die Bahn wenden, da der Zuschauer ein Unglück befürchtet, und doch glücklich ans Ziel gelangen. Großartiger noch entwickelt sich der Sport bei den Bobsleighwettfahrten am Cresta-run, der von St. Moritz-Kulm in scharfen Kurven durch den Crestawald nach Celerina hinuntersteigt. Drei bis sechs verschiedene Gesellschaften beteiligen sich an dem Wettkampf, jede mit ihren besonderen Abzeichen, Rosen, Herzen oder andern Symbolen des Glücks, an Mütze und Kleid.
Sie benutzen die Bobsleigh, lange, niedrige Polsterschlitten, auf denen ein Dutzend Teilnehmer Raum haben.
Unter dieser großen Last schießen die Schlitten mit erschreckender Schnelligkeit zu Tal, wenn die Straße vereist ist, mit der Geschwindigkeit eines Expreßzugs. Der Vordermann winkt, wie automatisch folgt die Gesellschaft von Herren und Damen seinen Zeichen, neigt sich zur Führung des Schlittens nach links oder nach rechts, bremst, mit ausgestreckten Armen den Schnee streifend, oder treibt ihn, sich wie Jockeis vorneigend, zu erhöhter Eile. Sicher wenden sie das Fahrzeug in den scharfen Bogen, ja es gelingt ihnen sogar, den Schlitten vor einem plötzlich auftauchenden Hindernis durch starke, eiserne Haken, die mittels eines Hebelwerks in die Straße getrieben werden, in wenigen Augenblicken zu stellen, doch schlägt der Schlitten dabei Funken, stiebt der Schnee in Wolken empor. Für die Teilnehmer mag es angenehmer sein, ohne Hindernis durch das Ziel zu gehen, das am Ende der Bahn durch eine über den Weg gespannte, mit bunten Wimpeln behangene Schnur gekennzeichnet ist. Wie einer der Schlitten voll jubelnder Jugend heranschwirrt – knack, knack – geht ein Salve von photographischen Apparaten aller Systeme los.
Während die Gesellschaft stets neue Vergnügungen aussinnt, vergeht der bis in den März andauernde St. Moritzer Winter. Die Gesellschaft selbst besteht aber nicht nur aus glückverwöhnten, jungen Menschenkindern, die von der Durchlüftung und Durchsonnung des Leibes zu den Leckerbissen der Hoteltafel, von der Tafel ins Konzert oder auf den Maskenball, zu Tanz und Flirt, von Genuß zu Genuß hasten, sondern nicht wenig Gäste gehören zu den wirklich Erholungsbedürftigen, die sich durch geistige Ueberarbeitung oder sonstwie das sittliche Recht auf freudig-freie Tage errungen haben. Diese Gäste genießen wohl den Sonnensegen am tiefsten, der den Körper und Geist wie ein Jungbad erfrischt.
Dieser Text erschien zuerst 1905 in Die Woche.