Zur Vollendung des Ulmer Münsterthurmes

Mit der Stadt Ulm und dem Württemberger Lande, die in diesen Tagen – 513 Jahre nach der am 30. Juni 1377 erfolgten Grundsteinlegung zum Münster – im rauschenden Festgepränge die Vollendung seines Hauptthurms und damit den äusseren Abschluss des Baues feiern, nimmt das gesammte deutsche Volk an diesem Ereignisse stillen, aber freudigen Antheil.

Nicht zum letzten die deutschen Architekten. Denn es ist ein Ehrentag deutscher Baukunst, an welchem die Blicke des Volkes mit bewundernder Anerkennung zu dem stolzen Werke empor schauen, welches die schöpferische Kraft mittelalterlicher Meister geplant und begonnen, das Geschick und die Kunst heutiger Meister aber zu einem glücklichem Ende geführt haben. Ein Tag, an welchem der Architekt, dessen Wirken und Schaffen bei der Mitwelt so oft stumpfer, verständnissloser Gleichgiltigkeit begegnet, sich dem Gefühle hingeben darf, dass dennoch seine Werke es sind, welche die Jahrhunderte überdauern und unter der Nachwelt stehen als allgemein verständliche Zeugen für das Wollen und Können des Zeitalters, in dem er gelebt!

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Aber nur eine derartige ideale Theilnahme können die Angehörigen des deutschen Baufachs der Vollendung des Ulmer Münsterthurms widmen: sie dürfen mit herzlicher Genugthuung auch einer besonderen, engen Beziehung zu diesem bedeutsamen Ereignisse sich rühmen.

Seit nahezu 50 Jahren sind die in den ersten Jahrzehnten des 16. Jahrh. unterbrochenen Bauarbeiten am Münster wieder aufgenommen worden. Mit geringen, fasst ausschliesslich in Württemberg selbst gesammelten Mitteln betrieben, waren sie bis vor 10 Jahren so langsam vorgeschritten, dass ein fast ebenso langer Zeitraum erforderlich schien, um zu dem gegenwärtig erreichten Ziel zu gelangen. Da ward, angesichts der bevor stehenden, durch die Beisteuer von ganz Deutschland ermöglichten Vollendung des Kölner Doms, in den Fachkreisen die Frage aufgeworfen, ob es nicht angemessen sei, die diesem Bauwerke gewidmete allgemeine Theilnahme nunmehr der Durchführung eines anderen, im Mittelalter nicht fertig gestellten, grossen nationalen Bauunternehmens zuzuwenden. Man hatte dabei zunächst das Strassburger Münster im Auge. Da jedoch einer auf die Vollendung desselben zu richtenden Bewegung zur Zeit noch manche Bedenken entgegen standen, so konnte es kaum zweifelhaft sein, für welches Baudenkmal man zunächst einzutreten habe.

Grundriss

Eine in diesem Blatte gegebene Anregung fiel auf fruchtbaren Boden.
[Deutsche Bauzeitung Jhrg. 80, S. 179. Weitere Mittheilungen das Ulmer Münster betreffend sind enthalten in: Jhrg. 80, S. 423 u. folgd. (Verhandlungen des Verbandstages in Wiesbaden), Jhrg. 81, S. 1 u. folgd. (Geschichte des Baues und seiner Wiederherstellung von H. Stier mit Grundriss, Durchschnitt und Ansichten), Jhrg. 82, S. 291 u. flgd. (Mittheilung über die Verstärkungs-Arbeiten mit Abbildungen), Jhrg. 84, 8. 257 (Erster Entwurf zu den neuen Thurmtheilen mit Abbild.), S. 437 (Vortrag von J. v. Egle auf dem Verbandstage in Stuttgart.)]

Die berufene Vertretung deutscher Baukunst, der Verband deutscher Architekten- und Ingenieur-Vereine, machte die Angelegenheit zu der seinigen und einstimmig fasste seine im September d. J. 1880 in Wiesbaden zusammen getretene General-Versammlung den Beschluss, dem deutschen Volke und den deutschen Regierungen die Beschaffung der zur Vollendung des Münsters in Ulm noch erforderlichen Mittel durch Veranstaltung einer allgemeinen deutschen Prämien-Kollekte zu empfehlen. – Es darf als feststehend betrachtet werden und ist von zuständiger Seite anerkannt worden, dass diese Empfehlung es war, welche die bis dahin bestehende Abneigung gegen die Genehmigung eines solchen Verfahrens besiegt und damit die Fortführung der Arbeiten in grösserem Umfange ermöglicht hat. Wenn wir an diese Vorgänge erinnerten, so geschah dies selbstverständlich nicht in der Absicht, jenes Eintreten des Verbandes D. Arch.- u. Ing.-V., mit welchem derselbe lediglich einer Pflicht genügte, für ihn als ein Verdienst in Anspruch zu nehmen. Nur die Thatsache der alten und innigen Theilnahme, welche die deutschen Architekten der Vollendung des Ulmer Münsters gewidmet haben, sollte damit hervor gehoben werden. Das Verdienst an dem Werke fällt dagegen ausschliesslich denjenigen Männern zu, die dasselbe in unermüdlicher Mühe und Arbeit vorbereitet, gefördert und durchgeführt haben – in erster Linie dem trefflichen Münsterbaumeister, Professor A. Beyer, dessen Person sicherlich auch den Mittelpunkt der bevor stehenden Feierlichkeiten bilden wird.

Der neue Obertheil vom Westthurm des Münsters in Ulm – Durchschnitt

Und niemals ist einem Baumeister mit grösserem Rechte gehuldigt worden. Denn steht Beyer in Demjenigen, was er an diesem Werke künstlerisch geleistet hat, auch auf den Schultern der grossen mittelalterlichen Meister Ulrich Ensinger und Matthaeus Böblinger, deren kühne Gedanken er zu verwirklichen strebte, und darf neben seiner eigenen Thätigkeit auch diejenige seiner unmittelbaren Vorgänger Thrän und Scheu, sowie des ausgezeichneten Münster-Beiraths, seines Lehrers Josef von Egle nicht vergessen werden, so gehörten die Aufgaben, welche ihm künstlerisch und technisch gestellt waren, doch zu den schwierigsten und verantwortungsvollsten, die auf diesem Gebiete überbaupt gelöst werden können. Die Art und Weise aber, wie er sie in ruhigem Schaffen, gleichsam mit spielender Sicherheit innerhalb eines Zeitraums von nur 9 Jahren zu lösen gewusst hat, sichert ihm Anspruch auf unvergänglichen Ruhm bei der Nachwelt und auf die dankbarste Anerkennung seiner Zeitgenossen. Aus dem Herzen aller Angehörigen des deutschen Baufachs bringen wir ihm darum unsern innigsten und wärmsten Glückwunsch entgegen! Zu einer eingehenden Würdigung des Werkes selbst ist heute nicht Zeit. Sie wird den Lesern des Deutschen Bauzeitung deren Aufmerksamkeit ja wiederholt schon auf das Ulmer Münster gelenkt worden ist, später von berufener Seite geliefert werden. Mögen die Darstellungen des Durchschnittes durch den neuen Thurmtheil mit den zugehörigen Grundrissen desselben, die wir auf einem besonderen Blatte beifügen, unsere früheren Mittheilungen einstweilen ergänzen und zugleich die Abweichungen erkennen lassen, welche der Münster-Baumeister im Laufe der Ausführung gegen seinen ersten Riss (Jahrg. 84 No. 44 d. Bl.) beliebt hat. Dieselben sind durchweg im Sinne einer grösseren Annäherung an den vorhandenen alten Thurmriss des Matthaeus Böblinger getroffen, wenn auch die grössere Gesammthöhe (161 m gegen 151 m) und die Steigerung der Höhe des Thurmhelms (59 m) gegenüber derjenigen des Achtecks (32 m) beibehalten und als oberer Abschluss des Helms statt der von Böblinger geplanten Marienstatue eine Kreuzblume gewählt ist. Da letztere erst am 31. Mai versetzt worden ist, so hat das Gerüst vorläufig nur bis zur kleineren Hälfte des Helms entfernt werden können und es wird immerhin noch einige Zeit dauern, bis der letztere sich unverhüllt den Blicken darstellen wird. Wie der Ulmer Münsterthurm nunmehr der höchste aller vorhandenen Kirchthürme ist, so darf er – mit und neben dem St. Stephansthurme in Wien – auch als der schönste unter ihnen betrachtet werden. Ein kostbares Besitzthum des deutschen Volkes, auf welches stolz zu sein, dieses alle Ursache hat.

Dieser Artikel erschien zuerst 1890 in der Deutschen Bauzeitung.