Das Münster zu Ulm

Im Jahrgang 1881 d. Bl. ist eine von Abbildungen begleitete Schilderung des Ulmer Münsters gegeben worden, welche die baugeschichtliche Entwicklung des Gebäudes im Mittelalter bis zum Aufhören der Bauthätigkeit im Anfang des XVI. Jahrhdrts., sowie die in der Neuzeit, seit den vierziger Jahren zur Wiederherstellung und Vervollständigung des unvollendet gebliebenen Werkes unternommenen Arbeiten darlegt.

Danach waren im Jahre 1881 der Chor, die beiden kleineren Chorthürme, sowie das Langhaus in den beschädigten Bautheilen wieder hergestellt und in den fehlenden ergänzt, eine Arbeit, welche die Thätigkeit der beiden Dombaumeister Thrän und Scheu umfasst. Es galt nunmehr, das Werk durch die Vollendung des grossen Westthurmes abzuschliessen, welcher nach dem Plane und unter Leitung des Matthäus Böblinger etwa 70 m hoch, bis zum Uebergange aus dem Viereck ins Achteck gefördert war, den Abmessungen des ganzen Bauwerks aber entsprechend mehr denn 150 m erreichen sollte.

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Waren die bisherigen Ergänzugsarbeiten am Münster hauptsächlich nur aus den Mitteln der Stadt und des Württembergischen Landes bestritten worden, so ward dieser letzte Haupttheil der Arbeit wesentlich gefördert durch das allgemeine Interesse der gesammten deutschen Nation, zuerst wachgerufen durch die Stimme des Verbandes der deutschen Architekten- und Ingenieur – Vereine, welche sich (auf eine in d. Bl. gegebene Anregung des Architekten Fritsch) auf der Versammlung zu Wiesbaden im Jahre 1880 dahin aussprach: nunmehr neben dem Dome zu Köln, dessen Vollendung in Kürze bevorstand, diejenige des Ulmer Münsters anzustreben. Die deutschen Regierungen, insbesondere diejenige Preussens unterstützten diese Bestrebungen durch die Gewährung von Geldlotterien, so dass die Beschaffung der zur Fortführung des Baues erforderlichen Mittel keine weiteren Schwierigkeiten verursachte.

Dem 1881 an die Münsterbauhütte als Nachfolger des früh verstorbenen Scheu berufenen Professor August Beyer fiel die Aufgabe der Errichtung der fehlenden Theile des Westthurmes und damit zugleich der krönende Abschluss des ganzen Bauwerks zu. Gebürtig zu Künzelsau war er ein Schüler v. Egle’s an der Stuttgarter Baugewerkschule gewesen, hatte später an derselben Schule als Lehrer gewirkt und die Um- und Ergänzungsbauten des Klosters Bebenhausen zu einem königlichen Sommer-Aufenthalte geleitet.

Nach zwei Richtungen, nach der konstruktiv technischen, wie nach der künstlerischen wurden Beyers Fähigkeiten nun bei dieser Herstellung der Thurmspitze des Ulmer Münsters in gleich hervor ragender Weise in Anspruch genommen. Böblingers Thätigkeit schloss 1494 ab, ‚nachdem schwere bauliche Schäden am Unterbau des Thurmes eine Weiterführung plötzlich unterbrochen hatten. Eine überkühne, übrigens den Vorgängern Böblingers zur Last fallende Konstruktion, welche den Thurm nur auf die Westwand und zwei Pfeiler an der Ostseite gestützt hatte, so dass das Thurminnere noch als freie Halle zum Langhause gezogen war, sowie mangelhafte und unvorsichtige Anlage der Grundmauern trugen hieran die Hauptschuld. Wenn auch Böblingers Nachfolger Burkhard Engelberg von Hornberg den Bestand des Thurmes durch Einziehen von Mauern und Verstärkung der Gründungen sicherte, so unterblieb doch der weitere Aufbau. Glücklicher Weise hinterliess aber Böblinger einen auf unsere Tage gekommenen Riss, welcher in ziemlich genauer und verständlicher Form die von ihm beabsichtigte, vollständige Gestalt des Thurmes überlieferte und für die Hinzufügung der fehlenden Theile als Grundlage dienen konnte.

Wir fügen von demselben die kleine, nebenstehende Skizze bei, Eine Abbildung in grösserem Maasstabe ist auf S. 25 Jahrg. 81 u, Bl. gegeben. D. Red.

Westfront nach dem Risse von Matthäus Böblinger

Es galt nun zunächst den baulichen Bestand des vorhandenen Thurmunterbaues so zu ergänzen, dass derselbe mit einer, alle Zufälle ausschliessenden Sicherheit die vermehrte Last der neuen Bautheile aufzunehmen imstande war und ferner den Böblinger’schen Plan so in die Wirklichkeit zu übertragen, dass derselbe in Konstruktion wie in Form den sehr weit gehenden Absichten des alten Meisters völlig entsprach und sich zugleich an die vorhandenen Theile in völlig harmonischer Weise anschloss. Meister Beyer hat beiden Seiten der Aufgabe in der vollkommensten Weise zu genügen vermocht.

In einer umfassenden Denkschrift legte er zunächst 1882 seine Ansicht über die nothwendigen Verstärkungs-Arbeiten an dem vorhandenen Thurmstücke dar. Eine auf Veranlassung des Ulmer Ober-Bürgermeisters v. Heim aus hervor ragenden Architekten zusammen gerufene Sachverständigen Kommission, welcher auch der als technischer Beirath des Münster – Baukomités thätige Hofbaudirektor v. Egle angehörte, der bereits die früheren Arbeiten am Münster durch seine Mitwirkung aufs glücklichste gefördert hatte, billigte die Beyer’schen Vorschläge und äusserte sich zugleich einstimmig dahin, dass der Vollendung der Obertheile des Thurmes der Böblinger’sche Riss zugrunde zu legen sei, womit dann für die weitere Behandlung der Sache ein höchst wichtiger Entschluss festgestellt war.

Die Verstärkungsarbeiten am Thurme wurden noch 1882 begonnen und zwar zunächst an der am meisten gefährdeten Stelle, an der grossen Oeffnung in der Ostmauer des Thurmes gegen das Langhaus. Dieselbe wurde in der Sohle durch einen umgekehrten Bogen aus Granitquadern geschlossen und das Fundament dadurch so weit verbreitert, dass der Baugrund auch nach Vollendung des Thurmes mit höchstens 9,45 kg für 1 qcm in Anspruch genommen wurde, während bei den früheren Fundamenten hier Belastungen bis zu 11,44 kg für 1 qcm eingetreten wären. Die ganze Oeffnung wurde sodann durch vorgelegte seitliche Pfeiler von 8,5 m auf 6 m verengert und gleichzeitig die Tiefe der Laibung verstärkt; beiläufig bemerkt die einzige bedeutendere Abänderung am unteren Thurmtheil, während noch Scheu starke, aussen sichtbar vortretende Verbreiterungen geplant hatte. Uebrigens hat diese Verengerung der Oeffnung den Eindruck im Innern kaum wesentlich verändert. Nach oben wurde dann die Oeffnung durch einen neuen, aus festem Quadermaterial hergestellten Bogen geschlossen. Um einen möglichst dichten Anschluss des neuen Bogens an das alte Mauerwerk zu erzielen und die Last der Obertheile durch denselben sicher auf das neue Fundament zu übertragen, führte man vom Bogen zunächst nur den untersten Ring aus, liess diesem mehre Monate Zeit zum Setzen und wölbte nun erst die oberen Schichten ein. Dann wurde der ganze Bogen gegen das vorhandene Mauerwerk durch Eisenkeile mit gehobelten Lagerflächen verkeilt; die einzelnen Bogensteine sind mit Blei versetzt. Der verbreiterte Bogen wird jetzt mit 23,7 kg auf 1 qcm in Anspruch genommen. In gleicher Weise wurde mit der Sicherung der oberen Thurmtheile vorgegangen. Das zweite Thurmgeschoss zeigt an der Westseite ein einziges grosses Fenster; das sogenannte Martinsfenster. Im dritten Geschoss sind jedoch zwei Fenster angeordnet, deren Zwischenpfeiler folglich auf dem Scheitel des unteren ruht; ausserdem treffen die Pfeiler des oberen Thurmachtecks wieder auf die Scheitel jener gekuppelten Fenster. Oberhalb der letzteren ist daher ein Entlastungsbogen unter gleichen Vorsichtsmassregeln wie an der Ostseite eingezogen worden und damit die Last des Obertheils auf die Eckpfeiler des Thurmes übertragen. Die getroffenen Maassregeln haben sich als so richtige erwiesen und die Ausführung ist mit solcher Sorgfalt erfolgt, dass jetzt nach Vollendung der Spitze auch nicht die geringste Setzung an irgend einer Stelle stattgefunden hat. Nachdem noch die alten, von Böblinger herrührenden Uebergänge aus dem Viereck ins Achteck, die mangelhaft konstruirt waren, auch durch Witterungseinflüsse stark gelitten hatten, zweckentsprechend erneuert waren, konnte nach 3 Jahren, am 30. Juni 1883 mit dem Weiterbau der Spitze begonnen werden.

Der Thurm des Böblinger, wie er sich in dem vollendeten unteren Theile und in dem Entwurfe der Spitze darstellt, ist ein Werk höchster Originalität. Der viereckige Unterbau, durch gewaltige, in zahlreichen Abtreppungen allmählich eingezogene Strebepfeiler verstärkt, erhebt sich in kräftigstem Maasse über dem Aufbau der Schiffe. Er schliesst mit einer stark betonten Horizontalen, einer Plattform ab, welche einen breiten Umgang um das von hier ab aufsteigende schlanke Achteckgeschoss bildet. Nur vier dünne, durchbrochene Schneckenstiegen, welche das Achteck bis zum Anfange des Helmes begleiten, vermitteln den Uebergang aus der unteren Masse. Das Achteck wird von Fensteröffnungen durchbrochen, deren langgestreckte Form in der Mitte durch eingelegte Maasswerksbogen getheilt ist. Vor dem Fenster selbst ist ganz frei und durchbrochen noch ein Stabwerk von etwas abweichender Zeichnung angebracht; eine Anordnung, die auch an den unteren Theilen des Thurmes die Flächen in wirkungsvollster Weise belebt und die Horizontalen aufhebt. Die eigenartigste Bildung zeigt der das Achteck bekrönende Helm. Er ist durch vier Kronen und eine Umgangsgalerie unter der Spitze gegürtet, jede Krone aus sich verschneidenden, im Kielbogen geschweiften Wimpergen zusammen gesetzt. Diese Form, welche die geradlinige Kante der Pyramide auf das Glücklichste unterbricht und belebt, dürfte sicher Böblinger’s eigene Erfindung sein. Sie findet sich bereits auf einem von seiner Hand herrührenden, jetzt in der Münsterbauhütte aufbewahrten Risse zu einem Oelberge, der von ihm 1473 bis 77 neben dem Münster ausgeführt, leider 1807 abgebrochen worden ist. Derselbe sollte wohl als sein Probestück gelten, wie die eigenhändige Notiz von ihm am Obertheil des Blattes darzuthun scheint. Zwischen den Kronen der Pyramide ist schlankes, fensterartig gezeichnetes Maasswerk angeordnet, nicht jene rosenartig durchbrochenen, annähernd quadratischen Tafeln, wie bei den Spitzen von Freiburg und Köln. Eine Figur der Maria in der Glorie auf dem Halbmonde war als oberster Abschluss gedacht.

Dass der baukünstlerische Gesammtgedanke unter einer Einzel-Ausbildung in die Erscheinung treten sollte, welche in Zeichnung und Modellirung der Profile, wie der Verzierungen mit der ganzen auf mehrhundertjähriger Ueberlieferung beruhenden Erfahrung der Zeit, wie des gereiften Meisters durchzuführen war, beweist die bezügliche Ausbildung der unteren Theile, die in dieser Hinsicht zum Besten gehören, was die Spätgothik geschaffen hat. Wenn auch Vorhalle und Martinsfenster noch auf frühere Meister zurück reichen, so scheint Böblinger’s Thätigkeit in dieser Hinsicht offenbar schon ziemlich tief unten am Thurme – vielleicht im Sinne eines Umbaues der älteren Theile – zu beginnen und hat so dem Ganzen seine hohe künstlerische Einheit gesichert. Nach Lehrbüchern pflegt man die Gothik in die drei Abschnitte der Entwickelung des Stiles im XIII., der vollendeten Reife desselben im XIV., der Erstarrung und des Absterbens im XV. Jahrh. einzutheilen. Ich bin hierin etwas abweichender Ansicht. Nach der herrlichen Blüthen-Entfaltung der Frühgothik tritt im XIV. Jahrh. vielmehr eine Zeit der Verknöcherung ein und diese Zeit der sogenannten Reife des Stiles ist eigentlich diejenige, welche die wenigsten eigenartigen Gedanken innerhalb desselben zutage förderte. Wie die grossen und frei schaltenden, politischen und religiösen Gedanken des XIII. Jahrh. im XIV. in Formeln und Bestimmungen eingezwängt werden und verknöchern, so ist dies auch mit den Gedanken und Gestaltungen auf dem Gebiete der Baukunst der Fall. Das XV. Jahrh. dagegen versucht wiederum neuen Gedanken auch in neuen Formen Ausdruck zu geben und dies tritt auch auf künstlerischem Gebiete zutage. Die Spätgothik zeigt dieses Ringen in deutlicher Weise und fördert in zahlreichen Versuchen bereits Lösungen, welche die Renaissance nachher als die ihrigen übernommen hat. Letztere ist auch nicht so unbedingt und auf allen Gebieten eigenartig, wie in der Regel angenommen wird. Sie fusst in sehr vielen Dingen auf ihrer Vorgängerin; nur das Gewand, in welches sie die Gedanken derselben kleidet, ist ein ganz anderes. Für unsere deutsche Kunst bringt aber die Spätzeit der Gothik auch noch einen ganz besonderen nationalen Ausdruck hervor. Die früher immer noch zum Thail lebendigen Ueberlieferungen und Anlehnungen an französische Formen zeigen sich völlig beseitigt und überwunden und eine ganz deutsche Empfindung beherrschte in unserem lande die Werke dieser Zeit.

Das Münster zu Ulm, in allen Theilen eine Schöpfung der Späthghotik, liefert für das Gesagte den Beweis. Im völligen und bewussten Gegensatz zu den Kathedralen des früheren Jahr, nur in den Abmessungen den grössten unter ihnen sich gleichstellend, ist es ein Bau des Bürgerthums gegenüber den Schöpfungen hochstrebender geistlicher oder weltlicher Herren. Es bleibt eine „Pfarrkirche“ – der Bau ist im Mittelalter nie anders bezeichnet worden – einfach in den Gedanken, aber eigenartig, wie in der Raumgestaltung des Langhauses, ursprüng1ich als einer Basilika mit drei gleich breiten Schiffen oder jetzt, nach dem Umbau von 1502, als einer fünfschiffigen Anlage, und zum Abschluss gebracht durch den einzelnen gewaltigen Thurm, der innerhalb der Formen des Stils die höchste erreichbare Ausdrucksfähigkeit desselben anstrebt und erreicht. Und schliesslich ein kerndeutsches Werk, dem jetzt nach seiner Vollendung aus dem gleichen Zeitabschnitte nur wenige in anderen Ländern zur Seite gestellt werden können.

Bei dem Aufbau der Spitze, auf welchen nunmehr einzugehen ist, traten zunächst weniger die technischen als die künstlerischen Fragen in den Vordergrund. Der Böblinger’sche Plan ist in seinen oberen Theilen in einer Art von Perspektive gezeichnet, übrigens mit Verkürzungen der Seitenflächen, welche der Naturansicht entsprechen, während sie bei dem alten Riss des Kölner Doms sich nur als abgekürzte Theile einer geometrischen Ansicht darstellen. Er bedurfte, um in die Ausführung übertragen werden zu können, gewisser Abänderungen. Anfänglich hatte man in dieser Hinsicht erheblichere Abweichungen geplant. Die Horizontale über dem Viereck sollte durch grosse Fialen als Bekrönungen der Strebepfeiler aufgehoben, die Zahl der Kronen am Thurmhelm vermehrt werden, der Helm selbst eine Schwellung erhalten und Anderes mehr. Beyer ist von allen diesen Vorschlägen nach sorgfältigen Studien, die insbesondere durch ein in grossem Maassstabe ausgeführtes Modell unterstützt worden, zurück gekommen und hat sich möglichst eng der Böblinger’schen Gestaltung angeschlossen.

Unten ist dem Aufriss der zur Ausführung gelangten Spitze der aus No, 44 Jhrg. 1854 u. Bl. wiederholt zum Abdruck gelangte erste Entwurf des Münster-Baumeisters gegenüber gestellt. Ein Vergleich beider Risse lässt am besten erkennen, wie gross die Abweichungen zwischen ihnen sind. D. Red.

Der westliche Hauptthurm am Münster zu Ulm

Nur Folgendes ist gegen die letztere abgeändert worden.

Die Höhe des Achteck-Geschosses wurde verringert, dagegen die des Helmes und damit die des ganzen Thurmes vermehrt, so dass derselbe jetzt mit 161 m als höchster seiner Art noch die Domthürme zu Köln um 5 m übertrifft. Die vier Schneckenstiegen neben dem Achteck, von Böblinger achteckig gezeichnet, wurden sechseckig gebildet, da die achteckige Grundform zu schmale Seiten ergab. Der Helm erhielt nach der Spitze zu eine leichte Einziehung; die Flächen desselben wurden im Grundriss etwas konkav gebildet und statt der Figur wurde die Spitze mit einer doppelten Kreuzblume abgeschlossen.

Wenn diese Abänderungen sich als höchst glücklich erwiesen und dem Thurm in seiner Gesammtform eine sehr schöne Gestaltung und Erscheinung verleihen, so wird dieselbe doch vielleicht in noch höherem Maasse gesteigert durch die ausgezeichnete Durchbildung aller Einzelheiten. Hier verliefs den Künstler der doch nur die allgemeinen Formen wiedergebende alte Plan; auf sich selbst angewiesen, galt es nicht nur nach dem Vorbilde der vorhandenen Theile im Einzelnen zu entwerfen, sondern die dort gegebenen Formen auch den anderen Verhältnissen, wie sie z. B. beim Helm eintraten, entsprechend umzubilden. Nur wer die Forderungen, welche die Einzelausbildung der Profile und Verzierungen in solchen Höhen inbezug auf Deutlichkeit und klare Silhouetten stellt, einigermaassen kennt, wird auch die Mühe und das Geschick zu würdigen wissen, mit welchem Beyer diesem schwierigsten Theile der Aufgabe zu genügen vermocht hat. Namentlich die krönende Kreuzblume kann in dieser Hinsicht als ein Meisterstück gelten. Andere neuere Herstellungen, so namentlich die der Westthürme von Köln, stehen bei aller aufgewendeten technischen Sorgfalt in dieser Hinsicht doch hinter der Ulmer Arbeit zurück.

Was die konstruktiven Einzelheiten der neuen Spitze anlangt, so ist zunächst zu bemerken, dass im Achtecktheil in etwa 8 m Höhe über der das Viereck abschliessenden Terrasse ein erstes Sterngewölbe mit flachem Zeltdach eingespannt ist, unterhalb dessen später die Thurmwächter-Wohnung eingerichtet werden soll. Der Achteckraum darüber ist ganz frei geblieben – die Schneckenstiegen in den Ecken vermitteln den Aufstieg zum oberen Theil des Thurmes – und abermals mit einem Sterngewölbe geschlossen. Dicht über dem letzteren tragen acht steil ansteigende, starke Rippen ein Kegeldach, über welchem die durchbrochene Pyramide anfängt, und auf dem mittleren Schlussstein erhebt sich eine leicht gestaltete Schneckenstiege, welche bis zur obersten Krönungs-Galerie des Thurmes, bis zu einer Höhe von 143 m hinauf führt. Diese Anordnung, der Thurmspitze von Esslingen, einem späteren Werke Böblinger’s entnommen, welches, obgleich viel kleiner im Maassstab, auch nach manchen anderen Seiten hin noch Winke bezüglich der Ausbildung des Ulmer Baues gegeben hat, bietet den grossen Vortheil, den ganzen Obertheil des Bauwerks jederzeit hinsichtlich seines baulichen Bestandes bequem im Auge halten zu können, was bei Anlagen von solcher Kühnheit und solchem Reichthum jedenfalls von grosser Wichtigkeit ist; auch abgesehen von dem herrlichen Rundblick über Ulm und seine Umgebung, die sich von jenem obersten Umgange bequem erreichbar darbietet. Drei mal über einander ist die Mittelstiege durch Bogen, welche von den Rippen des Thurms ausgehen, mit diesen verbunden und dadurch dem ganzen leichten Steingerüst des Helms eine vortreffliche innere Absteifung verliehen. Auch in allen Einzelheiten, so z. B. in der Zeichnung und dem Steinschnitt der geschwungenen Wimperge der Kronen bietet die Ausführung eine Fülle von liebevollem und sorgfältigem Studium, wie denn auch das ganze Verfahren beim Aufbau, namentlich die Herstellung der Rüstungen, grosses Geschick und sinnvolle, sparsame Holzverwendung kundgiebt. Es mag noch bemerkt werden, dass der Aufzug des Baumaterials vom linken Seitenschiffe aus, dessen Gewölbe zu diesem Zwecke entfernt waren, geschah und durch eine über dem viereckigen Unterbau des Thurms aufgestellte Gaskraft-Maschine erfolgte. Neben Kenpersandstein aus der schwäbischen Alb ist für die Spitze vornehmlich Obernkirchner Sandstein zur Verwendung gekommen; alle Werksteine der oberen Theile sind in Blei versetzt.

Einige Zeit wird allerdings noch vergehen bis der Thurm, dessen Vollendung am 30. Juni d. J. durch ein allgemeines, von mir bereits in einer früheren No. geschildertes Fest gefeiert worden ist, dem Auge des Beschauers sich ganz frei von Gerüsten zeigen wird. Zunächst ist nur die Spitze auf etwa 25 m blos gelegt; in diesem ‚Jahre beabsichtigt man den Helm, im nächsten das Achteckgeschoss abzurüsten, da an diesen Theilen noch eine Menge von Einzelheiten, namentlich krönende Spitzen, Kreuzblumen und Maasswerksendigungen zugunsten einer rascheren Bauförderung einstweilen zurück gelassen sind. In einem dritten Jahre soll dann die Ergänzung von mancherlei unerheblicheren Schäden am alten Thurmtheil erfolgen. Schon an jener anderen Stelle habe ich übrigens erwähnt, wie sehr, trotz der umhüllenden Gerüste der Thurm auch jetzt schon die Gesammterscheinung des Bauwerks in der glücklichsten Weise beeinflusst. Dem Münster ist damit nicht nur das weitschauende Wahrzeichen wieder gegeben; unter dem Einflusse der riesigen Spitze ist das gesammte Aeussere nunmehr auch zu einem harmonischen Abschlusse gelangt, zu einem wundervollen Gesammtganzen geeinigt, das alle deutschen Herzen mit der stolzen Freude erfüllen wird, nun neben Köln und Regensburg ein drittes grosses und kerndeutsches Vermächtniss des Mittelalters wieder erweckt und als lebendiges Wahrzeichen unserer Zeit einverleibt zu haben.

Es mag zum Schluss noch bemerkt werden, dass auch an den übrigen Theilen des Bauwerks Ergänzungen und Verschönerungen nicht geruht haben. Das Dach des Langhauses ist mit einer neuen Bedachung in farbigen glasirten Biberschwänzen versehen worden, namentlich aber hat das Innere eine weitere Ausbildung erfahren. Die hässliche, tunnelartige Orgelbühne Thrän’s ist entfernt und durch einen ansprechenderen Bau ersetzt worden; ebenso ist die Orgel umgebaut und damit wiederum der Blick auf das Martinsfenster freigelegt; an dem Verschluss der Fenster durch neue farbige Verglasung, an der Malerei im Innern, an der Ergänzung der Ausstattungs-Gegenstände wird fortschreitend gearbeitet.

Dieser Artikel von H. Stier erschien zuerst 1890 in der Deutschen Bauzeitung.