Amerika in Berlin

Der Amerikaner ist, wie der Bewohner kaum eines andern Landes, ein Wandergeschöpf. Niemand klebt weniger an der heimatlichen Scholle, als der freie Sohn der Vereinigten Staaten.

Von dem Wechsel der Luft erwartet er wohlthätige Folgen für seine Gesundheit, von dem Wechsel des Wobhnsitzes einen günstigen Umschwung in seinen wirtschaftlichen Verhältnissen, von dem Wechsel der Gesellschaft eine Verbesserung seiner sozialen Stellung im Leben. Indessen ist es die Lebensweise und die ungeheure Ausdehnung seines Landes nicht allein, die den Bürger der transatlantischen Republik zu beständigen Reisen veranlassen. Ein wesentliches Moment ist sein unruhiges Temperament und sein ausgeprägter Geschmack an regelmäßig wiederkehrenden Ortsveränderungen. Diese Eigenschaften und Umstände machen den Amerikaner zum vollendeten Touristen.

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Seit Jahren ergießt sich alljährlich ein Strom amerikanischer Reisender nach Europa. Die meisten kehren mit den Schwalben der alten Welt den Rücken, zurück nach den heimischen Penaten. Viele, sehr viele aber bleiben hier, und sie bilden dann die amerikanischen Kolonien in den europäischen Städten. Die stärksten dieser Kolonien befinden sich in London, Paris und Berlin. Nach London führen den Amerikaner in erster Linie das Geschäft und dann der Geschmack an dem behaglichen Leben der englischen Aristokratie, die sich in den letzten Jahrzehnten so manche reiche Erbin aus dem Land des Dollars geholt hat. Nach Paris locken ihn die Vergnügungen und Zerstreuungen, die ihm das Seine-Babel bietet. Nach Berlin aber kommt er vornehmlich, um zu studieren und zu arbeiten. Wie Botschafter White in seiner Festrede am letzten Thankesgivings day sagte: Deutschland, das seine unübertroffenen Lehranstalten dem Ausländer mit solcher Gastlichkeit öffnet, ist die geistige Mutter Tausender von Amerikanern und Amerikanerinnen, und die Berliner Lehranstalten, die Universität, die Technische Hochschule, die Akademien der bildenden Künste und der Musik sind ihre Almae Matres par excellence.

Zahlen, so pflegt man zu sagen, beweisen: also, im letzten Wintersemester waren die Vorlesungen an der Friedrich Wilhelmuniversität von 152 Amerikanern und 56 Amerikanerinnen besucht, wie denn auch von den drei Frauen, die als die ersten ihres Geschlechts sich den Doktorhut an ihr erwarben, zwei unter dem Sternenbanner geboren waren. Wie viele hunderte die übrigen höheren Lehranstalten, die Gymnasien, die höheren Töchterschulen und die zahlreichen Privatanstalten besuchten, läßt sich schwer feststellen. Nach der letzten polizeilichen Feststellung befanden sich in Berlin allein 1739 Amerikaner beiderlei Geschlechts, und sicherlich ebensoviele hatten zu der gleichen Zeit ihr Heim in Charlottenburg, Schöneberg, Wilmersdorf und andern Vororten Berlins aufgeschlagen. Man braucht ja nur zu gewissen Stunden durch die Straßen um die Kaiser Wilhelm Gedächtniskirche zu schlendern, um sich nach dem Broadway in Neuyork oder der State Street in Chicago versetzt zu wähnen: so häufig hört man dort den Yankeetwang, kann man die smarten, geschmackvollen und doch so einfachen und praktischen Toiletten der Amerikanerinnen bewundern und die breiten, ebenfalls sehr praktischen Schuhe der Amerikaner.

Neben jenen, die ihr Wissensdrang nach Berlin geführt hat und die nach einigen Semestern wieder heimkehren, kann die amerikanische Kolonie auch eine große Anzahl von Mitgliedern aufweisen, denen es nach einem ursprünglich nur auf kurze Zeit bemessenen Besuch so gut in Berlin gefallen hat, daß sie hier ihren dauernden Wohnsitz aufgeschlagen haben. Sie bilden den eigentlichen Stamm der Kolonie und sind mit der Zeit ganz gute Berliner geworden. Man braucht nur an die Herren William Griscom, Generalkonsul Kreismann, den schon Präsident Lincoln nach Berlin sandte, zu erinnern und an die Damen Willard und Abbott, von denen letztere sogar mit Spreewasser getauft worden ist. Manche von ihnen bleiben ihrer Kinder wegen hier, damit diese von Grund auf eine deutsche Erziehung erhalten. Andere hält das Geschäft hier fest. Sie vertreten entweder amerikanische Firmen oder haben ihre drüben erworbenen Erfahrungen und Kenntnisse in den Dienst der deutschen Industrie gestellt und helfen, der gefürchteten amerikanischen Invasion mit Yankeewaffen und Yankeewitz zu begegnen.

An der Spitze der amerikanischen Kolonie standen bis gestern, bis zu seinem 70. Geburtstag, Botschafter Andrew Dickson White und seine geistig ebenfalls hochbedeutende Gattin. Mit dem gestrigen Tag hat er sein Amt in die Hände des Präsidenten Roosevelt zurückgegeben, um nach einem selten thätigen Leben sein otium cum dignitate zu genießen. Die nordamerikanische Union hat wiederholt Männer als Vertreter nach Berlin gesandt, die durch Bildung und Wissen hervorragten, wie z. B. George Bancroft, Pendleton und Runyon. Auch Botschafter White, Diplomat, Pädagog und Gelehrter in einer Person, besitzt diese Vorzüge in hervorragendem Maß. Aber er besitzt noch etwas, was mit allgemeiner Bildung und litterarischer Begabung durchaus nicht vereint zu sein braucht: er hat, mit dem kritischen Blick des Historikers begabt, den Geist und das Wesen des deutschen Volkes so gründlich erkannt, daß er dessen Anschauungen und Ansichten selbst dann zu verstehen und zu würdigen weiß, wenn sie mit den seinigen nicht übereinstimmen.

A. D. White, bisher amerikanischer Botschafter in Berlin
Mrs. White, Gattin des amerikanischen Botschafters
Generalkonsul Mason

Er hat immer den rechten Weg zu finden gewußt, etwa mögliche Differenzen auszugleichen und eine Verständigung zwischen beiden Völkern herbeizuführen. Was er in dieser Hinsicht zum Wohl beider Nationen geleistet hat, ist sowohl hier, wie jenseits des Ozeans gewürdigt worden. Die Rede, die er am 4. Juli 1898 während des spanisch-amerikanischen Krieges in Leipzig gehalten hat, war bezeichnend. Sein Nachfolger Charlemagne Tower braucht nur an die Fäden anzuknüpfen, die White gesponnen hat, um die Freundschaft zwischen beiden Völkern noch mehr zu befestigen. Außer Botschafter White wird auch der erste Botschaftssekretär John B. Jackson, der nach zwölfjähriger Thätigkeit auf seinem bisherigen Posten zum Gesandten in Athen befördert worden ist, von Berlin scheiden. Auch neue Marine- und Militärattaches sind in der letzten Zeit der Botschaft zugeteilt worden, in ersterer Stellung Kommandeur Potts, als Militärattaché Kapitän Biddle, bisher Kapitän im 14. Infanterieregiment und als solcher zuletzt im Fort Sault St. Marie stationiert, dem Grenzposten an dem großen Schleusenkanal zwischen dem Oberen- und Michigansee.

Kapitän W. S. Biddle, der neue amerikan. Militärataché in Berlin
Mrs. York beim Approaching-Wettspiel

Neben Botschafter White vertritt Generalkonsul Frank G. Mason die Union in nicht minder intelligenter und taktvoller Weise. Er ist, wenn man so sagen darf, das zweite Haupt der amerikanischen Kolonie, deren einzelnen Mitgliedern er persönlich näher steht, als der Botschafter, weil er sich mehr mit deren persönlichen Interessen befassen muß. Aus der journalistischen Schule hervorgegangen, wovon seine interessanten, durchaus nicht trockenen amtlichen Berichte Zeugnis ablegen, ein tapferer Soldat im Bürgerkrieg, ist er auch ein eifriger Sportsman, der sich gern an dem beliebten amerikanischen Golfspiel beteiligt und es mit den Jüngsten der Kolonie aufnimmt.

unbeschriftet
Hermann Kreismann, amerikanischer Generalkonsul a. D.
William Griscom, Senior der amerikan. Kolonie

Wie in Amerika auch der kleinste Flecken nicht ohne seine Kirchen ist, war auch die hiesige Kolonie, seitdem sie erstarkte, nicht ohne ihren Gottesdienst und ohne ihren Pastor. Anfangs nur Gast in andern Gotteshäusern, baut sie sich jetzt ihre eigene Kirche, die ihr geistiges Zentrum bilden wird. Dank der Opferfreudigkeit der Gemeinde der Beharrlichkeit ihres Pastors Rev. Dr. Dickie und der Munifizenz einiger reicher Landsleute wird die Kirche, die in einem Anbau Versammlungsräume und eine Bibliothek enthalten wird, ein wahres kleines Prachtstück werden.

In geselliger Hinsicht bildet für die Damen der American Woman’s Club den Mittelpunkt.

Unterhaltung im Berliner Americans Woman’s Club

Hier kommen sie zusammen, hier sind sie at home, hier finden sie Rat und Unterstützung, wenn die Schwierigkeiten und Enttäuschungen des Lebens an sie herantreten. Nur zu häufig kommen die Studenten und Studentinnen mit unzureichenden Mitteln hierher, ohne Verständnis dafür, was der Aufenthalt in der Fremde kostet, voll jugendlicher Begeisterung und jugendlichen Leichtsinns.

Mitglieder der amerikanischen Kolonie beim Golfspiel

Neben dem Studium und dem Geschäft kommen aber auch Geselligkeit und Vergnügen zu ihrem vollen Recht. Außer den offiziellen Festen, wie dem Unabhängigkeits- und Danksagungstag und Washingtons Geburtstag, an denen jeder ohne Ausnahme teilnimmt, finden häufig gesellige Zusammenkünfte im Club und in den Familien statt. Konzerte und Theater werden nicht nur eifrig besucht, sondern auch selbst veranstaltet – ich erinnere nur an die in diesem Frühjahr so großartig gelungene Minstrel Show – und bei der Leidenschaft der Amerikaner für den Sport werden Golf, Lawntennis und Fußball eifrig gepflegt. So zählen die Amerikaner zu den eifrigsten Mitgliedern des Berliner Golfklubs, und die Meisterschaft von Deutschland hat sich hier vor kurzem ein Amerikaner, Dr. Miller, Professor an der hiesigen Universität, erobert. Es lebt sich, trotz ernsten Studiums und intensivster geschäftlicher Thätigkeit, gar behaglich und äußerst vergnüglich in der amerikanischen Kolonie, und „Amerika in Berlin“ nimmt im Leben und Treiben der Großstadt eine achtunggebietende Stellung ein.

Dieser Artikel erschien zuerst am 08.11.1902 in Die Woche, er war gekennzeichnet mit „F. E. Osthaus.“.