Der Kaiser von China ist neben seinen sonstigen zahlreichen Würden und Titeln auch Berliner Hausbesitzer. Das Grundstück In den Zelten 14 hat der Sohn des Himmels für seine Vertretung am deutschen Kaiserhof erworben.
Das nicht weit vom Krollschen Etablissement im Tiergarten gelegene Haus ist seit Jahren chinesischer Grund und Boden. In der Lösung dieser Wohnungsfrage hat daher das große ostasiatische Reich sogar seinen kleinen, aber sehr rührigen und mächtigen Rivalen überflügelt, denn der japanische Gesandte wohnt noch in gemieteten Räumen. Jedoch gerade in diesem „Fortschritt“ hat die chinesische Eigenart sich offenbart. Man wünscht ganz unter sich zu sein. Man will, selbst in der Fremde, mit den Fremden wenig in Berührung kommen.
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Als die Regierung das Haus, ein vierstöckiges Gebäude, kaufte, war es in verschiedenen Stockwerken noch von Privatleuten bewohnt. Und auch da wieder wurde der chinesische Charakter in einem bezeichnenden Zug offenbar. Ruhig durften die Herrschaften so lange wohnen, bis ihr Kontrakt zu Ende war. Niemand belästigte sie mit Anträgen. Lieber richtete sich die Gesandtschaft ein, und so ist sie erst seit kurzem im Vollbesitz ihres Eigentums.
Heute ist das Haus dicht besetzt und beherbergt eine recht ansehnliche chinesische Kolonie.
Unter und mit dem jetzigen Gesandten Herrn Lü-Hai-Huan ist sie so groß geworden. Aus mehrfachen Gründen. Einmal haben sich in den letzten Jahren die Beziehungen Deutschlands zum Reich der Mitte viel inniger gestaltet. Sodann wurde in Peking selbst erkannt, daß man dem Westen näher treten und seine Kultur an Ort und Stelle studieren müsse. Und gerade der deutschen Kultur begegnet der Chinese mit besonderer Achtung.
Mit Herrn Lü sind viele begabte junge Chinesen nach der Reichshauptstadt gekommen. Während sie den diplomatischen Dienst erlernen, liegen sie fleißig dem Studium der deutschen Sprache ob. Vierteljährlich einmal müssen sie in einer Reihe schriftlicher Arbeiten über ihre Fortschritte im Deutschen Rechenschaft ablegen. Und das Ergebnis wird dem Gesandten mitgeteilt.
Der chinesische Gesandte selbst spricht keine fremde Sprache. Er ist allein des Chinesischen mächtig. Wie die meisten hohen chinesischen Würdenträger ist auch Herr Lü aus den Litteraten hervorgegangen. Er hat viele Werke schöngeistiger Natur geschrieben, die im Reich der Mitte wegen ihres feinen Stils und ihres Gedankenreichtums sehr geschätzt sind. Er ist im Jahr 1841 in Lei-du-fu, einer Stadt der jetzt viel genannten Provinz Schantung, geboren.
Als Sohn einer alten Litteraten- und Beamtenfamilie wandte er sich dem Studium der Klassiker zu. Nachdem Lü durch seine Schriften sich einen Namen gemacht, wurde er nach Peking in das Tsung-li-yamen berufen, wo er bald zum Abteilungschef aufrückte. Dann wurde er Tautai (Gouverneur) von Schanghai und Vorsteher des dortigen Seezollamts. Von Schanghai kam er dann vor zwei Jahren als Vertreter seines Kaisers nach Berlin, um den Gesandten Hsü abzulösen. Seit dem Jahr 1876 unterhält zwar China eine Gesandtschaft in der Reichshauptstadt. Aber Lü ist der erste, der nur beim deutschen Kaiserhof beglaubigt ist, wenn er auch zugleich die Geschäfte im Haag wahrzunehmen hat. Alle seine Vorgänger waren zugleich in Wien und Petersburg akkreditiert, und zumeist weilte der Gesandte an der Newa, wo die Vorgänge im Osten schärfer verfolgt werden und deshalb auch chinesischerseits dort eine schärfere Beobachtung erheischen. Während des um Korea entbrannten Krieges und in der kritischen Zeit der Friedensverhandlungen befand sich der Gesandte ausschließlich in Petersburg, und Berlin führte der Attaché, Herr Kingintai, die Geschäfte.
Lü ist seit dreißig Jahren mit einer vornehmen Chinesin vermählt. Erst spät ist ihm das dem Chinesen am höchsten stehende Glück, das Familienglück, zuteil geworden. Sein ältestes Kind, eine Tochter Namens Wu-sched-jen, zählt erst acht Jahre. Von seinen beiden Knaben ist Ko-ban fünf, Put-ji 3 Jahre alt. Der Neffe des Gesandten ist ein Brudersohn Lüs. Noch zwei andere Neffen hat er nach Berlin mitgenommen. Der eine, der siebzehnjährige Bo-kan, treibt bei uns eifrig das Studium des Chinesischen fort. Der Dolmetscher Lü-Teschun weilt seit 1891 in der Reichshauptstadt. Er war Schüler der nach europäischem Muster eingerichteten Pekinger Hochschule Tung-wu-gon. In der Bibliothek des Dolmetschers fehlt keiner unserer deutschen Klassiker; er ist mit den Werken unseres Goethe, Schiller und Lessing ebenso vertraut wie mit den Schriften seiner heimatlichen Dichter und Denker.
Dieser Artikel von H. Blankenburg erschien zuerst 1900 in Die Woche.