Bei den Sträflingen in Neukaledonien

Die Zellen der zum Tod Verurteilten

Hierzu 6 photographische Aufnahmen von Chusseau-Flaviens.

Wenn man mit dem Dampfer von Sydney nach Neukaledonien fährt und endlich die Gestade der Insel erblickt, fühlt man alsbald den Zwiespalt, der den Besucher hier nie verläßt. Im Gegensatz zu weiten Strecken des australischen Festlands, die zur ewigen Dürre und Unfruchtbarkeit verurteilt scheinen, hat die Natur für Neukaledonien mit mütterlicher Liebe gesorgt.

Zwar hat sie nicht ihren ganzen Reichtum mit verschwenderischen Händen über diese Inseln ausgeschüttet – man findet in Neukaledonien nicht das Schlaraffenland des Träumers und Müßiggängers, das uns in fast allen kleineren Inselgruppen des Stillen Ozeans entgegentritt, aber Neukaledonien gehört doch zu den von der Vorsehung reich bedachten Ländern. Und der Zwiespalt ist dadurch entstanden, daß die Menschen, die sich des Bodens zuerst bemächtigten, nichts damit anzufangen wußten.

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Die Franzosen haben aus Neukaledonien ein großes Zuchthaus gemacht, und solange die Inseln diesen Charakter behalten, ziehen freie Leute natürlich nach einer andern Kolonie. Als man nach der Unterdrückung der Pariser Kommune zehntausend politische Sträflinge in dieses Land gebracht hatte, dessen gesamte weiße Bevölkerung vorher kaum fünfzehntausend Köpfe betrug, konnte man sich einen Augenblick der Hoffnung einer Besserung hingeben. Diese Hoffnung mußte sich als trügerisch erweisen, da die politischen Deportierten sehr gut wußten, früher oder später werde ihnen ein politischer Umschwung im Mutterland die Freiheit wiedergeben. Die Amnestie erwartend, dachten sie nicht daran, sich in Neukaledonien fest anzusiedeln und Wurzeln zu fassen.

Außer den im Land Gestorbenen sind keine hundert politische Sträflinge in Neukaledonien geblieben, als die Begnadigung ihnen die Rückkehr nach Frankreich ermöglicht hatte.

Wohnhaus des Direktors
Wohnhaus des Direktors

Das Zuchthaus beginnt für die Sträflinge natürlich schon in Frankreich und hört während der Ueberfahrt nicht auf. Unten im Zwischendeck sind starke Kammern gleich Käfigen gebaut. Zwischen den Kammern ein schmaler Gang, wo Tag und Nacht die bewaffneten Wächter auf und abschreiten. An jedem Ende des Ganges steht eine kleine Kanone, fertig zum Feuern.

Wer sich eine respektlose Antwort oder sonst eine Insubordination gestattet, wird in Eisen geschlossen und hinab in den Schiffsraum gebracht, wo man dunkle Zellen eingerichtet hat. Erst im Hafen von Noumea verlassen die Sträflinge ihre Käfige, erscheinen einer nach dem andern an Deck und werden von den kleinen Dampfschaluppen der Gefängnisdirektion an Land gebracht.

Sträflinge bei der Arbeit - Anfertigung von Konserven
Sträflinge bei der Arbeit – Anfertigung von Konserven

Sie berühren die etwas mehr als viertausend Einwohner zählende Hauptstadt Noumea überhaupt nicht, sondern kommen nach der Insel Nou, wo ein großes Zuchthaus mit Zellen für die zum Tode Verurteilten, Werkstätten, Magazinen, Kasernen, einem Krankenhaus und sonstigem Zubehör erbaut ist. In diesem Gebäude ist Platz für zweitausend Menschen, und um im Fall eines Aufstandes zur Hand zu sein, garnisoniert hier eine Kompagnie Infanterie. Der Direktor des Gefängniswesens untersucht zunächst die Papiere der neuen Ankömmlinge und teilt sie danach in Unverbesserliche, Mittelmäßige und Gute ein. Eine weitere Einteilung geschieht nach ihren natürlichen Anlagen und professionellen Geschicklichkeiten.

Den neuen Ankömmlingen werden die härtesten Arbeiten zugeteilt: Kanal- und Wegebauten, Steinbruch, Ein- und Ausladen der Schiffe. Sie dürfen nicht sprechen, erhalten nur ausnahmsweise andere Nahrung als Wasser und Brot und werden in den Arbeitspausen eingesperrt.

Musikkapelle der Sträflinge
Musikkapelle der Sträflinge

Nach und nach erwerben sich die Sträflinge durch gute Führung das Recht zum Aufsteigen in die zweite Klasse, indessen geschieht dies fast immer erst, wenn sie die Hälfte ihrer Strafzeit abgedient haben. In der zweiten Klasse beschäftigt man die Sträflinge in den Werkstätten und Fabriken, die dritte endlich darf innerhalb der Insel frei herumgehen, Geschäft, Handwerk oder Ackerbau treiben und ist nur verpflichtet, sich allwöchentlich auf der Amtsstube einzufinden und somit ihre Anwesenheit zu bekunden. Es gibt solche „Libérés“ in Neukaledonien, die in ihrem Geschäft viel Geld verdienen und die zu den angesehensten Bürgern gehörten, wenn sie eben nicht das Stigma des „Bagne“ trügen.

Eine eigene Gerichtsbarkeit, das sogenannte „Tribunal maritime special“, urteilt über die Sträflinge. Die Richter sind sämtlich Soldaten. Tätlicher Angriff oder Rebellionsversuch wird mit dem Tod bestraft, auf Flucht, Fluchtversuch und Diebstahl folgt Einzelhaft von sechs Monaten bis zu fünf Jahren, Zwangsarbeit und doppelte Kette. Früher durfte kein Todesurteil ohne Genehmigung des Präsidenten der Republik vollzogen werden, seit einigen Jahren aber hat der Präsident sein Begnadigungsrecht an den Gouverneur von Neukaledonien abgetreten, soweit Sträflinge in Betracht kommen. Dem Gouverneur steht der Privatrat zur Seite, und wenn zwei Mitglieder dieser Körperschaft für Begnadigung stimmen, darf der Gouverneur die Todesstrafe nicht vollziehen lassen. Die Guillotine wird von Sträflingen bedient, und die Hinrichtungen finden in Gegenwart der gefesselten Sträflinge, bewacht von Soldaten und Aufsehern, statt. Wenn der Verurteilte auf dem Gerüst erscheint, tönt der Befehl: „Condamnés, á genoux!“ und sämtliche Sträflinge müssen niederknien.

Die Zellen des Gefängnisses
Die Zellen des Gefängnisses
Den Sträflingen werden beim Eintritt die Köpfe geschoren
Den Sträflingen werden beim Eintritt die Köpfe geschoren

Die zweite Strafe ist die Einzelhaft: die Zelle ist drei Meter lang, einen Meter breit und sehr niedrig, die Ration des Verurteilten wird vermindert und beim leisesten Anlaß auf trockenes Brot reduziert. Jeden Tag wird er eine halbe Stunde lang, das Gesicht von einer Kapuze bedeckt, allein in den Hof geführt. Da der Mann den ganzen Tag in seinem engen Loch sitzt, nicht arbeitet, liest, schreibt oder sich sonst irgendwie beschäftigt, so ist vollständiger Blödsinn oder Tod nach gewisser Zeit sein sicheres Los.

Die gewöhnlichen Sträflinge werden nur in der Nacht voneinander getrennt, da jeder allein in seiner Zelle schläft. Sie arbeiten in einer gemeinschaftlichen Werkstatt. Ihre Kleidung besteht aus Hose und Kittel, beide aus alten Säcken hergestellt. Die sogenannte Doppelkette ist nicht so schlimm wie ihr Name, und der Sträfling schleift keine Eisenkugel hinter dem Fuß her. Die Kette hängt an einem um die Knöchel des linken Fußes befestigten eisernen Band und wiegt 3 kg. Beim Gehen hebt der Sträfling sie auf und befestigt sie am Knie. Nach wenigen Tagen schon ist er an ihr Gewicht gewöhnt, daß er das Vorhandensein der Kette kaum noch spürt.

Die Zellen der zum Tod Verurteilten
Die Zellen der zum Tod Verurteilten

Die Zahl der Fluchtversuche ist sehr groß, aber fast immer werden die Flüchtlinge früher oder später wieder eingefangen, es sei denn, daß sie bei dem Versuch, die 1600 Seemeilen entfernte australische Küste zu erreichen, umgekommen seien. Bei der Jagd auf die entflohenen Sträflinge, die sich irgendwo im Innern verbergen, benutzen die Behörden Eingeborene, deren scharfen Spürsinnen es bald gelingt, die Entlaufenen zu entdecken. Ebenso bedient man sich der Schwarzen, um die an Wegen und Kanälen arbeitenden Sträflinge zu überwachen, und es gibt für jemand, der aus Australien kommt und an die dortigen Rassevorurteile gewöhnt ist, kaum ein empörenderes Bild, als eine solche Schar bleicher, abgehärmter, kettenrasselnder Europäer, die ängstlich und zitternd nach dem wohlgenährten Neger hinschauen, der hier ihr Herr und Wächter ist. Und wenn man dann umherschaut auf die reiche Natur, das blaue Meer und den immer heiteren Himmel, dann spürt man fast etwas wie Zorn über unsere herrliche europäische Zivilisation, die hier weiter nichts anzufangen wußte, als aus dem Paradies eine Hölle zu machen.

Karl Eugen Schmidt Paris.

Dieser Artikel erschien zuerst in Die Woche 44/1903.