Zu seinem 70. Geburtstage am 8. Dezember. Es war auf einer „Studentenpresse“, der Feltbergschen Studentenfabrik. Die Schüler, unter ihnen der damals neunzehnjährige Björnson, hatten im schriftlichen Aufsatz das Thema zu behandeln: „Kann jener des Lebens Stimmung erfaßt haben, der nur für den Genuß und die Befriedigung des eigenen Ichs lebt?“
Im Nachlaß eines Lehrers fand man vor ein paar Jahren unter vergilbten Papieren die Antwort des Jüngling Björnson. Sie ist lehrhaft, sie ist pathetisch, sie steckt schon voll von inwendigem Zorn gegen den Freibrief der schrankenlos individualistischen Lebensanschauung. Sie kommandiert manchmal predigerhaft: „Du sollst!“ und klingt feierlich aus: „Alles geht in der großen Bestimmung auf, die Selbstsucht abzuleiten, und wir weihen uns einem hohen und schönen Beruf – dem, für die Menschlichkeit zu wirken.“
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Ein halbes Jahrhundert später! Der greise Dichter hat sich zu den wenigen gesellt, die in der Weltrepublik der Geister Ansehen errungen und behauptet haben. Wir Deutschen waren die nächsten Mittelsmänner für sein geistiges Schaffen und seinen universellen Ruhm. Der Dichter, der Prediger, der Eiferer in Björnson beschäftigt sich in seinen Altersdramen wiederum mit sozialen Geboten. Laboremus! Laßt uns arbeiten, verkündigt sein vorletztes Drama, und in seinem jüngsten Schauspiel „Auf Storhove“ klingt die Melodie weiter. Der Siebzigjährige singt das gleiche Menschheitslied, das der Knabe einst auf der Schulbank angestimmt hatte. Bei allen Widersprüchen, bei allen Schwächen und Menschlichkeiten, die im vielbewegten, langen Kämpferdasein auftauchen: eine große Einheit zeichnet dies Gesamtleben aus. Dichter, Agitator oder Lehrer: all die Bemühungen wurzeln in dem Grundgedanken, die dem Neunzehnjährigen schon vorgeschwebt hatten. Lydia in „Laboremus“, das Weib für sich, die schrankenlos Begehrliche, die der verschlingenden „Welle“ gleicht, und Maria auf Storhove, die dem Flugsand gleich verheert, sind geistige Geschwister. Sie sind nur sich die Nächsten; sie leben nur in den eigenen Leidenschaften sich aus, sie behindern den arbeitenden Mann und sein Werk, sie sind soziale Schädlinge, also denn fort mit ihnen. Denn uns bleibe der „schöne Beruf erhalten, für die Menschheit zu wirken“; wie dereinst der Jugendliche ausrief, so lehrt noch jetzt der Rückschauende nicht mehr den alten feurigen, aber dennoch den stetig treuen Optimismus.
„Zwei Bären finden sich in seinem Namen,“ so sagte einmal ein nordischer Schriftsteller mit Anspielung auf die beiden Björn in den Worten Björnstjerne Björnson; und dennoch Björnsons weiche, warme Empfindsamkeit. Oft die Gebärde einer bärenstarken, rücksichtslosen Kraft, dann drängt das Weiche nach oben. Es kommt zum verträglichen Kompromiß. Ein wildes Kredo, ein leuchtendes Spera! „Hoffe“ und „ich glaube,“ wie es nach den tragischen Erschütterungen im dramatischen Bekenntnis „Ueber unsere Kraft“ heißt.
Den Bären schildert eine Schriftstellerin einmal; sie sah ihn auf der Volkstribüne. Die bürgerliche norwegische Frauenbewegung wurde leidenschaftlich geschürt. Björnson selbst hatte aus jenen Zeitgefühlen heraus sein Drama vom Handschuh geschrieben. Darin war die ethische Forderung aufgestellt: gleich rein gehe der Mann in die Ehe, wie das keusche Mädchen. Björnson sprach nun von der Rednerbühne herab. Seine graue Mähne bäumte sich förmlich, die Augen blitzten unter der gefurchten massigen Stirn, die Lippen waren fest zugekniffen, das ganze Gesicht wie das eines Fanatikers. Seine Stimme donnerte bald bald säuselte sie oder schien unter Thränen zu beben. So stand er da, ein Begeisterter, ein Prediger, ein Prophet – und ein Büttel!
Vielleicht gesellt sich zur Gefühlshingabe in solchen Augenblicken der Exaltation einige Pose, wie sie zu den Kunstmitteln des Agitators gehört. Aber gleichviel, etwas von hinreißender Macht lebt in dieser Persönlichkeit, die auch wieder ganz ohne Pose unter den Seinigen unter Freunden, familiär vertraulich werden kann. Dann können Björnsons Augen gütig, ja schalkhaft blicken. Wir haben auch eine Komödie von ihm, in der dieser Mann der Feierlichkeit sich im Hauskleid zeigt und in der Gestalt eines gelehrten Professors sich selbst leicht ironisiert.
Heimat und Weltbürgerfahrten, Dichtung und praktische Leidenschaft, das alles wirkt zusammen, um Björnsons Erscheinung zu erklären. Die Landschaft, in der er seine Kindheit als Sohn des Pfarrers von Kvikne in Oesterdalen verlebte, mochte ihn zur Feierlichkeit gestimmt haben. Sie ist groß und einsam. Wie seelische Erinnerung an die halbbäuerliche, stille Kindheit zieht es durch die frühen Bauernnovellen, die den Dichterruhm Björnsons zuerst befestigten. „Synnöve Solbacken“, „Arne“, „Ein fröhlicher Bursche“. Das waren Erzählungen von ganz besonderem Charakter. Wortkarg, von verhaltenem, darum nicht weniger starkem Gefühlsausdruck. Leider sind diese Bauernnovellen von den Dramen Björnsons arg in den Schatten gerückt. Die spätere agitatorische Wirksamkeit, das politisch moralisierende Wesen Björnsons haben die künstlerische Anschaulichkeit und Naivetät nicht mehr so frisch hervorsprudeln lassen. Den wortkargen, aber gefühlsschweren Gehalt der Erzählungen weist auch das Jugenddrama „Zwischen den Schlachten“ auf. Als es zuerst durch die Meininger Ensemblekunst über die Bühnen Deutschlands schritt, da hatte man einen Ausblick über dies neue, trotzige nordgermanische Dichterschaffen gewonnen. Vorher schon war Björnson dem Theater als Kritiker und Direktor in Bergen nahegetreten.
Früh auch regte sich Björnsons politische Energie. Er meint zwar selbst: „Mehr als ein anderer ist der Dichter der leitende Instinkt der Volksseele.“ Aber dies Bekenntnis faßt Björnson immer wieder im Sinn eines politisch geistigen Erziehers auf. Natürlich ist jedes echte Kunstwerk, jedes großgelebte Dasein ein Erziehungsmoment: Björnson in seinem Temperament, in seiner Ungeduld denkt an unmittelbare Wirkung. Er ist Gefühls- und weniger Realpolitiker. Hat er sich einem Gefühl ganz hingegeben, so möchte er es sofort mitteilen. Er braucht die Menschen und weiß es. „Ich brauche den Kontakt mit der Menge, ich kann nicht wie die einsame Taube auf der Höhe sein,“ so sagt er, um den Gegensatz zwischen sich und Ibsen zu kennzeichnen. Es soll an dieser Stelle kein Vergleich mit Ibsen gezogen werden. Allein der Ausspruch Björnsons trifft wirklich vielerlei. Er erklärt die Sicherheit, auch die Schwungkraft Björnsous, und zugleich zeigt er die Begrenzung seines geistigen Reichs und erklärt das Ausweichen vor letzten, ewigen Fragen. Fliegt nicht zu hoch, vermeßt euch nicht! Eine Neigung zur gutbürgerlich „mittleren Linie“ bricht bei Björnson nicht ungern durch; sie wird durch Eindringlichkeit, durch schlagfertigen Vortrag, durch Gewalt der Schilderung vertieft, aber sie rührt sich sowohl im „Fallissement“, in dem Drama zum Preis der bürgerlichen Rechtschaffenheit, wie sie zum Schluß des groß angelegten und ergreifenden Zeitgemäldes „Ueber unsere Kraft“ breit sich regt.
Das Empfindsame in seiner Seele wurde durch Politik früh schon verletzt, und in seinem späteren Drama „Tora Parsberg“ vernimmt man ebenso den Ton getäuschter Liebe. Eine bitterwehmütige Abrechnung zur parteipolitischen Menschenjagd. Als Mitredakteur von „Aftonblad“ geriet Björnson in eine heftige Zeitungspolemik. Der Achtundzwanzigjährige verließ darauf Christiania und ging nach Kopenhagen und bald darauf nach Rom. Von dem Zeitpunkt an beginnt seine Wanderschaft zwischen Heimat und Fremde. Der als Kind aus erhaben-schweigsamer Landschaft in der Heimat ausgezogen war, geht als reifer Mann in die Fremde, in die alten Weltstädte Rom und Paris.
Die Fremde, die Großstadt, sie haben ihn nicht entwurzelt. Björnsons Beispiel steht ja im geistigen Leben der Skandinavier nicht vereinzelt da, und der Dichter selbst denkt geradezu an eine besondere Mission der kleinen Kulturländer. Sie könnten gleichsam Sammelbecken für vertiefte, geistig künstlerische Arbeit werden; in ihrer stilleren Umfriedigung gewährten sie dem Talent mehr Ruhe zur Ausbreitung und Entfaltung. Andrerseits bleiben Enge und Kleinlichkeit der Verhältnisse eine Gefahr. Die besten Köpfe haben diese Gefahr brennend empfunden. Sie tauschen Heimatskraft und Ursprünglichkeit gegen die notwendige Bereicherung ihres Anschauungskreises aus.
Einem bleich verwaschenen Weltbürgertum brauchen sie darum nicht gleich zu verfallen, wenn sie sich bemühen, zu dem Besten vorzudringen, was im ganzen europäischen Kulturkreis gedeiht.
Nach dem Arbeitsmaß gemessen, war Björnson Lebenswerk besonders reich und vielseitig. Wenn Arbeit das Köstlichste ist, was des Menschen Leben mit sich führt, so darf Björnson voll von Genugthuung auf seine 70 Jahre zurückblicken. Das Alter hat auch den Politiker, gelassener werden lassen. Sein radikaldemokratisches, republikanisches Ungestüm ist milder geworden; und ebenso das Ungestüm wegen der norwegischen Selbständigkeit. „Norwegen und Schweden sind wohl von einer Rasse, aber wesentlich andere Geschicke haben uns auseinandergebracht, und die Erziehung ist stärker als die Rasse.“
Aus diesem kurzen Satz vom Wert der Erziehung spricht wiederum der ganze, echte Björnson. Der hoffnungsfrohe Kämpfer, Lehrer und Dichter. Nur nicht verzweifeln und immer der erziehlichen Arbeit im Dienst der Humanität eingedenk bleiben. Die Lust an der hell erziehlichen Arbeit ist das ideelle Hauptmerkmal in Björnsons Wirken innerhalb und außerhalb seiner Heimat. Mag ihm die Macht fehlen, die zum höchsten befeuert, und mag er auch dort nicht thronen, wo die Größten einsam thronen, er gehört dennoch zu denen, die das Gemüt höher schwingen machen und Menschen in ihren Gedanken und Empfindungen emporleiten.
In seinem Vaterland wird der Parteienhader an des Dichters Ehrentag schweigen, und auch wir wollen über das und jenes Wort, das in aufwallendem Unmut gesprochen wurde, hinweghören.
In den letzten Jahren hatten wir dringenden Anlaß, dem norwegischen Dichter und Denker dankbar zu sein. Denn während sonst auf unsern Bühnen vergebens um das Drama gerungen wurde, das weite Ausblicke gewährte: In Björnsons Dramen war es gegeben, gleichgiltig, wie man sich zu den Lehrabsichten des Dichters stellt, ob man ihm auf allen seinen Wegen folgt oder eine andere Richtung einschlägt.
Dieser Artikel erschien zuerst in Die Woche 49/1902.