Der Pariser Robinson

Nicht von Robinson Crusos, auch nicht von dem „Schweizer Robinson“ soll hier die Rede sein, sondern von einem französischen Robinson, bei dem die beiden andern freilich Gevatter gestanden haben.

„Robinson“ – lockender Name, Entzücken des Quartier latin, Ziel der Sonntagsreiter, Ambition der Näh- und Wäschermädel, du öffnest deine grünen Pforten dicht bei der großen Stadt Paris. Deine schönen, runden Stämme standen lang in unberührter Ruh, sie breiteten ihre starken Aeste zum Bimmel, lichtfroh und sonnenfreudig. Das bescheidene, aber so kleidsame Moos bedeckte rund umher eine jener leichten, welligen Anhöhen, die rings um Paris den alten Meeresboden verraten und der Gegend ein so abwechslungsreiches Gepräge geben.

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Der liebliche Ort war jedoch nicht besonders besucht, bis er aus seiner idyllischen Beschaulichkeit aufgeweckt wurde.

In dem stürmischen Jahr 1848 war’s.

Ein wohlhabender Industrieller warf damals sein Auge auf einen der schönsten unter den alten Bäumen, kaufte ihn, nahm geheimnisvolle Arbeiten daran vor, und bald verbreitete sich dann in dem friedlichen Landkreis das Gerücht, ein neuer Robinson habe sich eingefunden, er wohne in dem großen Kastanienbaum und habe dort seine Hütte aufgeschlagen.

Pariser Sonntagsreiter zu Pferde
… und zu Esel

Thatsächlich hatte der Baumliebhaber auf zwei der stärksten Aeste ein Bretterhäuschen errichten und um den Stamm eine Wendeltreppe dazu hinaufführen lassen. Da saß er nun wie ein Eichkater in seinem Nest, die gezackten Blätterbüschel ließen die goldenen Sonnenstrahlen in das Robinsonhäuschen dringen, und da der gastfreundliche Baum nicht etwa zu den gemeinen Roßkastanien, sondern zu der edlen, eßbare Früchte tragenden Familie gehörte, durfte dem neuen Einsiedler, im Herbst wenigstens, auch um seine Nahrung nicht bange sein.

Die originelle Idee fand bald Nachahmer. Was der reiche Mann zu seinem Vergnügen erfand, benutzten andere zum Erwerb. Bald wendeltreppte es an allen großen Bäumen, bald hingen fünf, sechs Robinsons in der Luft, bald siedelten sich Gastwirte und Restaurateure aus Paris auf dem sanften Abhang an, ein kleiner Ort entstand, aus Schenken, Karussells, Schießbuden, Ringelspielen bestehend, ein Sommerort, ein Studentenparadies, ein Volkshimmel, wie z. B. die englischen Küstenorte es sind, zu denen am Sonnabendnachmittag bereits alles in dichten Scharen hinausströmt.

Da war es um die Einsamkeit und Stille denn gethan.

Robinson ward unter dem zweiten Kaiserreich der Wallfahrtsort all derer, die sich das Leben der Boheme zum Vorbild nahmen. In Banden zog und zieht man nach „Robinson“.

Schweigende Sittsamkeit ist die Sache dieser „Robinsonjugend“ nicht. Sie haben alle das Gefühl, etwas vom Strick los zu sein, an den Busen von Mutter Natur zurückzukehren und sich ein wenig primitiv benehmen zu dürfen.

Fliegt der lustige Schwarm dann in das Kastanienwäldchen, so schimmert es ringsum von hellen Kleidern. Alle Moden seit 1848 haben unter diesen alten Bäumen defilliert, doch ist allem Wechsel des Kostüms zum Trotz der Herzschlag dieser Jugend stets der gleiche geblieben, und das Echo von Robinson wiederholt nur einen Ton: Je t’aime.

In dem bellen Sommersonnenschein hüpfen und fliegen die hellen Gestalten, aus den Schießbuden knallt es, langohrige Esel galoppieren mit schreienden Jungfräulein vorbei, steife Sonntagsreiter paradieren auf noch steiferen Rossen, bald fliegt ein Jüngling in den Sand, bald schreit ein störrischer Esel, dahinein tönt die kreischende Musik der Karussells, auf denen jung und alt sich in die Kunde schwingt.

Baumrestaurant Robinson – Die Speisekörbe werden aufgezogen

Die „haute volée“ aber diniert oder soupiert in einem Baumrestaurant, die kleinen Füßchen in zierlichen Schuhen klettern die Treppen hinauf, und oben in dem Bretterhäuschen, das, rings von Grün umgeben, ungehinderten Ausblick in die Zweige bietet, läßt man sich nieder, zu zweit, zu dritt, zu viert, ja in dem „Urrobinson“ finden sogar fünfzehn Personen Platz. Und dann beginnt das Schmausen, Pariser Küche und ein guter Tropfen; kein Kellner stört das trauliche Beisammensein, denn alles, was zu Leibes Nahrung und Notdurft gehört, wird in einem Korb heraufgehißt.

Dieser Artikel von Käthe Schirmacher, Paris erschien zuerst am 23.08.1902 in Die Woche.