Die belauschte Natur

Zwergfalke mit Jungen

Von Dr. C. du Bois-Reymond. – Hierzu 9 Momentaufnahmen.
Durch einen Lichtbildervortrag, der kürzlich in Berlin gehalten wurde, sind die Gebrüder R. und C. Kearton besonders bekannt geworden, die seit dem Jahr 1892 alles wilde Getier, besonders aber die Vogelwelt Englands, mit der Kamera studierten.

Die Photographien benutzen sie zu Projektionsvorträgen und als Illustrationen populärer Naturgeschichtswerke. In den Büchern sind Hunderte der wunderbarsten Tieraufnahmen enthalten.

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Wir wollen gewiß die Leistungen Deutscher, eines Anschütz, Dr. Neuhauß., Dr. Sobotta, die prachtvollen Jagdbilder von Schillings und Kießling nicht herabsetzen, wenn wir behaupten, daß die Aufnahmen der englischen Forscher den Vergleich mit jenen wohl aushalten, ja in gewissem Sinn noch unerreicht dastehen. Sie bieten noch etwas mehr, obwohl oder vielleicht gerade weil sie sich durchweg auf das bescheidene Gebiet der einheimischen Tierwelt beschränken. In diesen Bildern lernen wir die Tiere der Heimat, die ja auch uns zum größten Teil wohlbekannt sind, von einer neuen Seite und gewissermaßen intimer kennen. Denn die Verfasser halten sich streng an die Regel, jedes Tier nur an seinem natürlichen Wohnplatz und in vollkommener Freiheit abzubilden. Dazu ist es nötig, möglichst unbemerkt mit dem Apparat nahe heranzukommen, und zu diesem Zweck wandten die Forscher alle Künste der Jäger und Vogelsteller an; sie wurden Meister im Nachahmen der Tierstimmen und Lockrufe, sie erfanden endlich noch neue raffinierte Mittel, sich und die Kamera zu maskieren.

Daher zeigen uns auch ihre Bilder etwas ganz Neues. In der Tat – was sehen wir meist, wenn wir zufällig in Feld und Wald wildes Getier antreffen? Nur einen einzigen Ausdruck, den des Erschreckens, der Furcht, und nur eine Handlung, die schleunige Flucht in den nächsten Schlupfwinkel. Wie Tiere sich gebärden und benehmen, wenn sie von der Nähe des Menschen keine Ahnung haben, das pflegen nur die wenigen zu beobachten, die als Jäger oder Fischer lernten, sich ungesehen und ungehört anzuschleichen, wozu bekanntlich viel Geschick und große Geduld gehören. Es ist aber gerade eine besonders beliebte Glanzleistung der Keartons, allerlei verschiedene Tätigkeiten und wechselnden Ausdruck, gewissermaßen Stimmungs- und Charakterbilder eines Tiers in ganzen Bilderreihen zu schildern. Wenn man nicht weiß, „wie es gemacht wird“, glaubt man fast an Zauberei, wenn man sieht, wie scheue, wilde Vögel, sichtlich kaum ein paar Meter entfernt, ahnungslos und gemächlich ihre Jungen füttern. Man möchte glauben, diese großen Nestkenner besäßen jenes berühmte Vogelnest der deutschen Sage, das seinen Träger unsichtbar machen soll! Und wirklich, sie verstehen etwas von der Kunst, sich unsichtbar zu machen. Je nach dem Charakter der Landschaft verstecken sie sich unter vielerlei Trugbildern, z. B. in einem kleinen Zelt, das einen Strohhaufen nachahmt, in einem moosbeklebten, hohlen Baumstumpf oder einem treu nachgebildeten Kalkfelsblock aus bemaltem Stoff. In Gärten, Feldern und Wäldern genügten diese Verhüllungen, um viele Vogelarten aus kurzer Entfernung auf zunehmen.

Abstieg zum Falkenhorst
Abstieg zum Falkenhorst
Brachvogel (oder große Tüt)
Brachvogel (oder große Tüt)

Auf ganz freiem Wiesenland, wo jene Gegenstände unnatürlich wirken würden, wählten sie eine andere Maske. Der Gedanke ist genial in seiner Einfachheit: eine Ochsenhaut wurde so hergerichtet, daß im Leib der Photograph mit der Kamera Platz fand, im übrigen war der Ochs täuschend natürlich ausgestopft. Das regungslos dastehende Vieh flößte keinem Vogel Angst ein, und der drinnen lauernde Photograph konnte oft auf kaum Meterweite durch ein Guckloch in der Brust des Ochsen seine Aufnahmen machen. Der griechische Athlet Milo von Kroton soll bekanntlich einen lebenden Stier getragen haben – diese Attrappe ist wesentlich leichter tragbar, wie unser obenstehendes Bild beweist; der jüngere Kearton hebt ihn auf einem Arm frei in die Luft. Das ausgezeichnet scharfe Bild des Brachvogels (s. obenst. Bild), der eben im Begriff ist, sich in sein Nest zu begeben, ist unter dem Schutz des nur etwa fünf Meter entfernten künstlichen Felsblocks geglückt. Wie man sieht, ist die Landschaft mit großen Kalksteinblöcken übersät, so daß diese Maske gut hierher paßte. Um den Kiebitz, der bei seinem Nest steht, zu erwischen, war der Photograph nur in sein kleines Zelt gekrochen, das er schnell mit einigen abgeschnittenen Binsen bestreut hatte. Der Vogel hatte einigen Argwohn, er zögerte sehr lange, ehe er sich zu den Eiern zurückwagte. Trotzdem gelang es, freilich erst nach langem beweglichem Ausharren, ihn mehrmals, zuletzt auch brütend, abzubilden. Diese Aufnahme ist die erste einer Reihe von Aufnahmen des Vogels, was übrigens auch von dem Brachvogelbild gilt. Man sieht dem Kiebitz an, daß er „sichert“ und sich noch nicht entschließen kann, niederzusitzen.

Brütender Fasan
Brütender Fasan
Die Ochsenattrappe
Die Ochsenattrappe

In manchen Fällen ist es besser, wenn der Mensch ganz aus der Nähe des Vogels entfernt bleibt und nur die Kamera, gut verdeckt, dort untergebracht wird. So ist das wunderschöne Bild des Eisvogels an dem kleinen Gewässer (siehe nebenst. Abb.) hergestellt. Jede einzelne Feder seines prachtvoll blau schillernden Kleides ist deutlich erkennbar. Der Vogel, der bekanntlich vom Fang kleiner Fische lebt und auch bei uns vorkommt – ich selbst habe ihn vor Jahren bei Bellevue an der Spree hier in Berlin gesehen – ist zwar recht flink und scheu, aber er hat seine ganz bestimmten Lauerplätze am Ufer, die man durch fleißiges und vorsichtiges Beobachten leicht auskundschaften kann. Die Kamera war also vorher auf den Eichenzweig scharf eingestellt und möglichst verhüllt worden, der Photograph saß weit landeinwärts im Gebüsch, beobachtete mit dem Feldstecher den gewohnten Sitzplatz des Vogels und, sobald der Vogel die gewünschte Stellung eingenommen hatte, setzte er von weitem den Momentverschluß in Tätigkeit. Zu diesem Zweck haben die Verfasser dünne Luftschläuche, die zusammengefügt gegen hundert Fuß messen. In ähnlicher Weise dürfte auch das Nest des Zwergfalken (s. untenst. Abb.) mit seinen drei flaumigen Insassen aufgenommen sein, wobei dem Photographen zustatten kam, daß der Baum mit dem Nest an einem steilen, dichtbewaldeten Abhang stand, so daß ein gedeckter und überhöhender Standpunkt leicht zu finden war. Der Fasan beim Brutgeschäft soll in England sehr wenig scheu sein, sich nur niederducken und den Menschen dicht herankommen lassen, was wahrscheinlich eine Folge der äußerst strengen Schonung ist, die ihm seit langer Zeit die englischen Grundbesitzer angedeihen lassen. Kearton versicherte mir, daß er dieses Bild ohne alle Versteckkünste einfach durch langsames, ruhiges Anbirschen erzielt habe.

Weißer Töpel
Weißer Töpel
Kiebitz bei seinem Nest
Kiebitz bei seinem Nest
Eisvogel auf der Lauer
Eisvogel auf der Lauer

Die herrliche Studie eines jungen Kuckucks im Nest eines Schilfsängerpaars hat den Verfassern als Titelbild eines Kinderbuches gedient. Das gefräßige Ungetüm hat die rechtmäßigen Mitinsassen schon aus dem Nest gestoßen und macht seinen zierlichen Pflegeeltern viel Arbeit. Der Kuckuck ist schon viel größer als sie und schreit unersättlich nach Nahrung, obwohl sie ihm viermal in fünf Minuten Futter gebracht haben.

Schwierigkeiten anderer Natur waren zu überwinden, um die Bilder der Seevögel zu gewinnen,, die in zahlreichen Arten an Vorsprüngen hoher unzugänglicher Meeresklippen nisten, sowie die der Raubvögel, die ähnliche Stellen im Gebirge bevorzugen. Wir sehen im Bild den jüngeren Kearton, einen überaus kühnen Kletterer, wie er sich anschickt, eine Felswand abwärts zu befahren, wozu eine eigene, aus einem Leitseil und einem Fahrseil bestehende Vorrichtung dient. Wenn die Oertlichkeit es gestattet, faßt er an der Wand Fuß und sucht auch den Apparat aufzustellen.

Schilfsängernest mit jungem Kuckuck
Schilfsängernest mit jungem Kuckuck
Zwergfalke mit Jungen
Zwergfalke mit Jungen

Wo das nicht möglich ist, hat er indessen manchmal auch, in den Seilschlingen hängend, glücklich seine Aufgabe gelöst und ist, natürlich mit der Hilfe von oben her das Fahrseil bedienender Männer, wieder hinaufgeklettert. Doch sind solche Wagstücke nicht immer notwendig, auf den einsameren Vogelklippen am Meer sind die Vögel nicht scheu, und ein guter Kletterer kann sich den Nestern behutsam nähern, ohne daß sie abstreichen. So hat der ältere Kearton das treffliche Bild des Tolpels auf einem berühmten Vogelfelsen der schottischen Westküste nur durch ruhiges, lautloses Herankriechen auf einem allerdings halsbrechenden Felsenpfad erbeutet. Der Vogel ist gerade im Begriff, in die Tiefe abzusegeln, es ist der Moment erhascht worden, wo er die Flügel hebt.

Von der Fülle schöner Bilder können unsere wohlgelungenen Proben nur einen Begriff geben, wie man sich leicht denken kann, wenn wir sagen, daß die Vögel Englands fast vollzählig, daneben aber auch Säugetiere, Reptilien, Schlangen, Fische, Weichtiere, Insekten usw. gelegentlich in der gleichen Weise studiert worden sind. Aber das erkennt man schon aus unsern Proben, daß diesen Bildern ein besonderer Reiz innewohnt, den eben die unbedingte Naturwahrheit allein verleihen kann. Sie wirken frisch und lebendig wie die Wirklichkeit. Die Verfasser sind nicht Sportsleute, sie jagen und sammeln nur Bilder und betonen mit Recht, daß diese Art Tierstudium das Hegen und Schonen, nicht die Ausrottung seltener Arten befördert.

Dieser Artikel erschien zuerst in Die Woche 17/1904.