Der Vogel und sein Nest

Hierzu 7 photographische Momentaufnahmen von R. B. Lodge, Enfield. Durchaus verschieden, wie das Heer der Gefiederten selbst, sind auch ihre Nester. Wäre hier nicht der Umstand maßgebend, daß sie der Ort sind, an dem der Vogel seine Eier ablegt, so würden wir sie kaum für gleiche Gebilde halten. Immer aber dient das Nest zur Brutpflege und zwar ausschließlich dazu, ohne zugleich die dauernde Wohnung des Besitzers und Verfertigers darzustellen. Wohl giebt es Vögel, die die Nacht in Höhlungen und Löchern verbringen; auch kommt es vor, daß zu diesem Zweck sogenannte Schlafnester gebaut werden, niemals aber wird dann in diesen gebrütet.

Werfen wir zunächst einen Blick auf den Standpunkt der Vogelnester. Wo kann ein solches sein ? Ungefähr überall, wo es überhaupt möglich ist; bisweilen auch da, wo es unmöglich scheint. Ein großer Teil unserer Singvögel, Amseln, Grasmücken, Hänflinge und viele andere brüten im Gebüsch, die einen tief unten, andere höher oben. Zunächst könnte man sich wundern, daß viele Nester so tief, dicht über dem Boden stehen – „wie unvorsichtig!“ möchte man ausrufen.

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Doch da haben wir die Rechnung ohne die geflügelten Eierdiebe, die Krähen, Häher und Elstern gemacht, die schlimmsten Feinde des Kleingeflügels, die gefährlicher sein können als die von unten drohenden Wiesel, Ratten und Katzen. Wieder andere wählen Höhlungen in Bäumen und im Gestein zur Anlage ihrer Kinderwiege; Sperlinge, Stare, Meisen, Rotschwänze, alle sogenannten „Höhlenbrüter“, deren durch Abschlagen der alten Bäume hervorgerufenen Wohnungsnot wir ja durch Aufhängen von Nistkästen abzuhelfen bestrebt sind, gehören hierher.

1 – Junger Löffler im Nest

Viele Vögel verfertigen sich die Nesthöhlen selbst: der Specht zimmert sie sich in den Baumstamm, der Eisvogel und die Uferschwalbe graben mühsam meterlange Röhren in senkrechte, lehmige Erdwände. Groß ist die Zahl derer, die mehr oder weniger offen auf hohen Bäumen nisten; die Horste vieler Raubvögel, Stelzvögel und Raben zählen dazu. Auch der ebene Erdboden trägt manche Nest; die meisten Bodenvögel, wie Lerchen, Hühner, viele Schwimmvögel, die Schnepfenvögel legen auf ihm ihre Eier ab und erbrüten sie hier. Schwimmende Nester schichten viele Taucher zusammen, ja es giebt selbst Vögel, die überhaupt kein Nest haben: Kuckucke und einige tropische Arten legen ihre Eier in fremde Nester, lassen die Eier hier erbrüten und die Jungen großziehen.

2 – Nest des Löfflers auf der Erde

Woraus besteht ein Vogelnest ? Durchaus nicht immer aus feinen Grashalmen mit warmer, weicher Ausfütterung, wie es unserm Geschmack so gut entspricht. Viele Vögel legen ihre Eier ohne jeden Unterbau auf den nackten Felsen, z. B. der Uhu, manche Geier und nordischen Seevögel. Aus mächtigen Knüppeln türmt sich der Bau eine Kuttengeierhorstes und vieler anderer großer Raubvögel, innen mit feineren Geäst belegt. Viele Seglerarten, die unserer sogenannten Mauerschwalbe ähneln, verfertigen ihr Nest aus Speichel. Die eßbaren Vogelnester, zur Bereitung von Suppen verwendet, werden aufgebaut, indem ein kleiner Segler – Salangane wird er genannt – in meerumbrausten Grotten Hinterindiens aus der erhärtenden Absonderung seiner zur Brutzeit riesig entwickelten Speicheldrüsen ein kleines Näpfchen an die Felswand klebt, dem er seine Eier anvertraut. Die Lehmnester unserer Schwalben sind bekannt; viele andere Vögel der Tropen sind ebensolche Maurer. Enten und Gänse entnehmen das Baumaterial dem eigenen Kleid: ein dichter Daunenkranz umgiebt das Gelege, den wir in Gestalt von Eiderdaunen, wenn er dem Nest der nordischen Eiderente entnommen, in den Bettfederhandlungen wiederfinden.

3- Strandreiter und sein Nest

Die meisten Vögel lieben es, ungestört von ihren Artgenossen sich ein Brutgebiet abzugrenzen und still für sich den Elternfreuden zu leben. Doch auch hier giebt es zahlreiche Ausnahmen: Reiher, Kormorane, Saatkrähen u. a. nisten in großen Kolonien, wo jeder Baum gewöhnlich mehrere Nester trägt; Möwen brüten gemeinsam auf entlegenen Inseln, zu Tausenden von Paaren auf wenigen Morgen Landes vereint. Ein afrikanischer Fink, der Siedelsperling, bethätigt wohl den meisten Gemeinsinn: viele Pärchen bauen mit vereinten Kräften auf einer Mimose ein riesiges Strohdach, unter dem dann erst die einzelnen Nester angebracht werden.

4 – Nest der Lachmöwe im Schilfrohr

Fügen wir diesem ganz kurzen Ueberblick über die Nistweisen einiger Vögel noch hinzu, daß im allgemeinen das Vogelmännchen der Zuträger des Baumaterials ist, während das Weibchen den eigentlichen Nestbau übernimmt, daß jedoch gerade bei den kunstvollen hängenden Webervogelnestern das Männchen der alleinige Baumeister ist, so sind wir damit vertraut gemacht, was der Vogelkenner für verschiedene Textil-, Tiefbau-, Zimmermanns, Maurer- und andere Arbeiten der Vögel unter den Begriff des Vogelnestes vereinigen muß.

Unsere Bilder führen uns zunächst auf schwankendem Sumpfboden ins dichte Röhricht; der Photograph hat es verstanden, in lebenswahrer Form das Beobachtete auf die Platte zu zaubern. Gewöhnlich baut der Löffler (Abb. 1), auch Löffelreiher genannt, sein Nest nach Art der verwandten Ibisse auf Bäumen; doch der Vogel versteht es als intelligentes Geschöpf, sich in die Verhältnisse zu schicken, nistet in den Steppen Sibiriens doch selbst der stolze Adler auf ebener Erde. Mißtrauisch hat sich der junge Vogel, dem der Löffelschnabel erst später wächst und der deshalb mit seinen Eltern erst wenig Aehnlichkeit besitzt, aus seiner hockenden Stellung – er ist Nesthocker – erhoben, um die Eindringlinge näher zu betrachten; entfliehen kann er noch nicht, Flügel und Beine sind zur Fortbewegung des Körpers noch ungeeignet.

Doch unser Vogel wächst sehr rasch; drei bis vier Wochen genügen, um aus dem eben dem Ei entschlüpften einen flugfähigen und damit auch fast erwachsenen Löffler zu machen.

Abb. 2 zeigt uns das Nest mit Eiern desselben Vogels in einem Rohrwald auf ebener Erde.

5 – Nest der Saatkrähe

Mehr auf dem Trockenen im Gras steht das Nest des überaus hochbeinigen Strandreiters (Abb. 3), eines etwa schnepfengroßen Vogels, der uns bei unserm Nähertreten in weiten Kreisen ängstlich rufend umschwärmt. Lange müssen wir suchen, um das Nest zu finden, ja es kann vorkommen, daß wir hineintreten, ohne es zu merken. Nicht etwa weil es so versteckt angelegt ist, keineswegs, ganz offen liegen die Eier auf der Erde, aber ihre Farbe, die etwa an die der Kiebitzeier erinnert, geht so in das Muster der Umgebung über, daß viele Uebung dazu gehört, um sie aufzufinden. Nach etwa dreiwöchentlicher Bebrütung entschlüpfen die Jungen, die ihren Eltern sofort auf der Erde ezu folgen imstande sind.

6 – Besuch der Saatkrähenkolonie

Weiter drinnen im Wasser, von einer flachen Insel tönt uns das zehntausendstimmige Geschrei der fluggewandten Lachmöwen (Abb. 4) entgegen. Hier finden wir Nest an Nest, jedes nur liederlich aus alten Rohrstengeln aufgeschichtet, über uns eine Wolke weißer schwarzköpfiger Vögel, die wütend bis dicht an unsere Köpfe stoßen, solange wir uns auf ihrer Brutinsel zu schaffen machen. Unzählige dieser Möweneier wandern als Delikatesse in die großen Städte; die Eiernutzung der Möwenkolonien ist meist verpachtet.

7 – Inneres eines Krähenneste

Auf dem Heimweg treffen wir noch eine ähnliche Scenerie an wie die Möweninsel, nur ist alles vertauscht. Die Vögel sind nicht wie vorhin weiß, sondern schwarz, und die Nester stehen nicht unter, sondern über uns. Schon von weitem durch den dichten Saatkrähenschwarm mit seinem tausendstimmigen „Kia“ und „Krah“ angezogen, gelangen wir in einen hochstämmigen Buchenwald, bei dessen Betreten sich über uns ein ungeheurer Aufruhr erhebt, der sich verdoppelt, als wir es wagen, mit den angeschnallten Steigeisen einen Stamm zu erklimmen und das Innere eines Nestes zu besichtigen. (Abb. 5, 6 und 7) Auch hier steht Nest an Nest, auf einem Baum oft über ein Dutzend; auch hier benutzt der Mensch die Eier, freilich meist unter falscher Flagge: sie werden häufig als Kiebizeier verkauft, denen sie entfernt ähneln.

Auch die jungen, fast flüggen Krähen finden häufig ihren Weg in die Küche, meist, nachdem sie gerupft und geköpft sind, als „junge Tauben“. Nach Versicherung Kundiger sollen sie gar nicht schlecht schmecken und einen saftigen, zarten Braten abgeben. Versuch macht klug. So erleben wir es vielleicht noch, daß dieser „Singvogel“ eine Zierde unserer Tafel wird.

Dieser Artikel von Dr. O. Heinroth erschien zuerst 1900 in Die Woche.