Die Fahrt des Mitteleuropäischen Motorwagenvereins

Die schöne Fahrt, die der Mitteleuropäische Motorwagenverein in der vorletzten Woche veranstaltete und die mit Abstechern fast tausend Kilometer betrug, ergab den erfreulichen Beweis, daß die deutsche Motorindustrie in ihrer aufstrebenden Entwicklung vor keiner andern Industrie der Welt zurückzustehen braucht. Ganz im Gegenteil, allen Einflüssen der Straße, des Geländes und der Witterung gewachsen zeigten sich nur deutsche Fabrikate allen voran die Wagen der Adler Fahrradwerke vormals Heinrich Kleyer in Frankfurt a. M.

Am Freitag, dem 11. Juli, nahm die Fahrt bei strömendem Regen von Berlin aus ihren Anfang. Der erste Tag der Fahrt ermunterte den Neuling gerade nicht zu den Freuden des Automobilsports, der Himmel machte ein bitterböses Gesicht, und Regenböe folgte auf Regenböe, so daß Chausseen und Wege bald mit einer fast unpassierbaren Kotschicht bedeckt waren. Es blieb denn auch nicht aus, daß manche der kühnen Fahrer stecken blieben, ein Teil aber erreichte doch noch Ludwigslust, und obwohl mancher, sehr gegen seinen Willen und unter freudigen Kundgebungen der Dorfbevölkerungen, das schwere Gefährt stellenweise hatte schieben müssen, waren in Ludwigslust alle überstandenen Fährnisse bald vergessen. Die Reise selbst war von dem Vorstand des Mitteleuropäischen Motorwagenvereins, dem Grafen A. von Talleyrand-Périgord und dem Generalsekretär Conström, auf das trefflichste organisiert, in allen Ortschaften und Städten, wo gerastet oder Aufenthalt genommen werden sollte, waren entsprechende Vorkehrungen getroffen. Wenn der erste Tag der Fahrt auch wenig ermutigend war, so traten doch in den folgenden, schönen Tagen die Vorzüge des Automobilfahrens um so deutlicher hervor.

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Das Wetter besserte sich zusehends, und so war denn die Fahrt von Ludwigslust nach Hamburg eine hervorragend schöne. Der Regen des vergangenen Tags hatte die Straßen vom Staub befreit, man konnte den Anblick der wundervollen Gegend in vollem Umfang genießen, und auch die Damen – Herr Hans Riecken, der Berliner Vertreter der Adler-Fahrradwerke, machte mit seiner Gattin und Schwägerin die Fahrt mit – kamen auf ihre Rechnung.

Auch die Armeeverwaltung hatte der Fahrt besondere Aufmerksamkeit gewidmet, Leutnant Jurisch von der Verkehrsabteilung der Eisenbahntruppen war dazu kommandiert worden, Beobachtungen über die verschiedenen Systeme zu machen.

Fröhlich ging die Fahrt nach Hamburg. Die dortige Sportvereinigung des Poloklubs hatte einen glänzenden Empfang vorbereitet, man führte den Gästen ein äußerst schneidiges Polospiel vor, und am Sonntagmorgen wurde eine Korsofahrt um das Alsterbassin veranstaltet, die von der Hamburger Bevölkerung freundlich aufgenommen wurde.

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Am nächsten Tag ging es nach Kiel, auf glatter, wunderbarer Chaussee. Wilde Heidelandschaft wechselte ab mit fruchtbaren Gefilden, starrende, trotzige Bauernhäuser, in sich selbst abgeschlossen, jedes Feld mit einem Knick eingesäumt. Man fuhr durch herrliche Buchenwälder, die der Landschaft einen belebenden Reiz gaben. Die Teilnehmer der Fahrt besichtigten unsern größten Kriegshafen, und am nächsten Morgen rüstete man sich zur Fahrt nach Bremen, der alten Hansastadt.

Dieser Teil der ostholsteinischen Schweiz gehört zu den schönsten Gegenden Norddeutschlands. In Plön wurde gerastet. Man genoß den Anblick des wundervollen Plöner Sees und des alten historischen Parks mit seinen berühmten Alleen, die aus knorrigen, urwüchsigen Eichen und Buchen bestehen. In dieser wundervollen Natur werden die Söhne unseres Kaisers erzogen – es ist ein Platz, würdig der Königskinder. Von Eutin, dem sauberen oldenburgschen Städtchen, wurde ein Ausflug nach Neustadt und von hier nach dem kleinen Ostseebad Marienbad gemacht. Man genoß den Anblick der ewigen See, dann ging es auf Adlerflügeln nach Lübeck. Noch in später Abendstunde wurden die Sehenswürdigkeiten der uralten Hansastadt in Augenschein genommen, die Marienkirche und das alte Rathaus, und dann im Schifferhaus Rast gemacht. Die schönste und herrlichste Gegend war durchfahren, man kam jetzt über Ratzeburg in die mecklenburgischen Lande. Am Ratzenburger See wurde eine kurze Pause gemacht, spiegelblank lag die ungeheure Fläche im glitzernden Sonnenschein, dunkle Buchenwälder nahmen dann die Gesellschaft wieder auf.

In Mecklenburg stand die Ernte herrlich. Gerade vom Automobil aus ist man in der Lage, auch nach dieser Richtung hin interessante Studien zu machen. Man eilte dahin durch wogende Kornfelder von unabsehbarer Ausdehnung man erhielt Einblicke in das mecklenburgische Landleben und das Treiben in den kleinen mecklenburgischen Landstädten. Der Weg führte über Gadebusch nach Schwerin.

Karte der Motorwagenfahrt

Der jugendliche Großherzog von Mecklenburg-Schwerin ist selbst leidenschaftlicher Automobilist und steuert seinen Wagen eigenhändig. Deshalb wurde die Reisegesellschaft in Schwerin mit ganz besonderer Freude aufgenommen. Der imponierende Platz um das Schloß die wundervollen Anlagen, der schöne See wurden besichtigt, dann aber ging es mit voller Fahrt der Heimat zu.

Man übernachtete in Pritzwall, einer größeren Ackerstadt der Priegnitz. Wenn das Wetter am vorhergehenden Tag heiß und staubig gewesen war so schien es zuerst, als ob der Wettergott beim Schluß der Fahrt wieder ein böses Gesicht machen wollte. Stärkeren Regengüssen entging man glücklicherweise, aber über die Gegend hatte sich leichter Nebel gelegt, so daß von den Schönheiten der Mark nur wenig zu sehen war. Glücklicherweise konnte wenigstens der Park von Rheinsberg in Augenschein genommen werden jene historische Stätte, an der Preußens großer König sein glücklichsten Jugendjahre verlebt hatte. Von Rheinsberg ging es durch das Havelluch nach Potsdam zu, wo die Fahrt ihr offizielles Ende erreichen sollte Es war bereits Abend als man auf der Motorausstellung anlangte, wo man auf das herzlichste empfangen wurde. Von allen Wagen waren nur die drei Adler übriggeblieben, die während der ganzen Fahrt auch nicht einen Moment versagt hatten.

Dieser Artikel erschien zuerst am 02.08.1902 in Die Woche, er war gekennzeichnet mit „R. C.“.