Die mohammedanischen Länder des Zaren – Momentbilder aus Innerasien vom Orientmaler Oskar Jahnke – Hierzu 7 photographische Aufnahmen

Dem König von England sind mehr Mohammedaner unterthan, als dem Großsultan, und auch der Zar gebietet über viele Millionen Moslemiten. Mit diesem „Gebieten“ ist es aber so eine Sache, denn das bunte Völkergemisch, das die ungeheuren Oasen der zentral-asiatischen Wüste bevölkert und in allerlei Rassenabstufungen seine ursprünglichen iranischen, türkischen, mongolischen und semitischen Merkmale erst allmählich bei dem reineren Typus des Persers und des Afghanen abmildert, ist ein Sammelsurium wilder und verwilderter Stämme, die seit Jahrtausenden unter sich Kämpfe aller gegen alle geführt haben, sich nur selten zur Abwehr eines großen, gemeinsamen Feindes zusammenfanden und nacheinander griechischer, chinesischer, mongolischer, usbekischer und türkisch-arabischer Herrschaft unterstanden, bis dann der Kosak kam.

Heute ist Zentralasien nominell russisch, Persien wird es auch bald sein, und an dem immer noch unerschütterlich hartnäckigen Afghanistan vorsichtig vorbeigehend, sendet Rußland ruhig und planmäßig die ersten feinen Wurzeln seiner Kraft nach Kasch- gar, Tibet und der chinesischen Mongolei aus. seitdem die russische Herrschaft in Zentralasien konsolidiert ist, haben die Nomadenvölker, die bis dahin eigentlich nichts weiter waren als unvergleichlich dreiste Räuberhorden, ihren süßen, alten Lebensgewohnheiten zu entsagen gelernt – im wesentlichen dank der „schlagenden“ Beweisführung der Knute. selbst bei den berüchtigtsten aus der ganzen Gesellschaft, den Tekketurkmenen, ist der europäische Reisende heute seines Lebens und Eigentums absolut sicher, und auch die stereotypen kleinen Diebereien, an die man sich bei den Zigeunern, Fellachen und insbesondere bei der angenehmen Bande, die von Spanien, Sizilien und Malta nach Tunis und der nordafrikanischen Rüste überhaupt auswandert, gewöhnt hat, kommen bei den Tekketurkmenen nicht vor. Man könnte diesen Erfolg der russischen Verwaltung in Zentralasien vielleicht als eine gelungene Hebung des moralischen Bewußtseins betrachten, und vermutlich ist hiervon in offiziellen Regierungsberichten viel zu lesen; in Wirklichkeit aber ist es nichts weniger als Honorigkeit, was den Lebenswandel der innerasiatischen Stämme also geläutert hat, sondern einfach die Furcht vor der Knute. Man kann nicht sagen, daß der Sarte, der Kirgise, der Turkmene, und wie sie alle heißen mögen, die russische Herrschaft mit patriotischem Grimm ertragen: dazu sind sie alle zu gottergeben, denkfaul und indifferent, aber ein begeisterter Russe wird er ebensowenig jemals werden, aus dem einfachen Grund, weil er als Moslem den Russen im Innern gering schätzt und sich über den „Ungläubigen“ hoch erhaben fühlt.

Dies ist ein historischer Text, welcher nicht geändert wurde, um seine Authentizität nicht zu gefährden. Bitte beachten Sie, dass z. B. technische, wissenschaftliche oder juristische Aussagen überholt sein können. Farbige Bilder sind i. d. R. Beispielbilder oder nachcolorierte Bilder, welche ursprünglich in schwarz/weiß vorlagen. Bei diesen Bildern kann nicht von einer historisch korrekten Farbechtheit ausgegangen werden. Darüber hinaus gibt der Artikel die Sprache seiner Zeit wieder, unabhängig davon, ob diese heute als politisch oder inhaltlich korrekt eingestuft würde. Lokalgeschichte.de gibt die Texte (zu denen i. d. R. auch die Bildunterschriften gehören) unverändert wieder. Das bedeutet jedoch nicht, dass die darin erklärten Aussagen oder Ausdruckweisen von Lokalgeschichte.de inhaltlich geteilt werden.

Mohammedanische Turkmenen bei einer Andachtsübung

Ich kann das Verhältnis der beiden Rassen, der unterworfenen und der herrschenden, zu einander, sowie ihre „geistigen“ Wechselbeziehungen nicht besser illustrieren, als durch die Erzählung zweier Episoden, die sich während meines mehrjährigen Aufenthalts in Samarkand, Bochara und Taschkent ereignet haben. In Taschkent waren die Sarten mit dem russischen Chef ihrer Stadtverwaltung chronisch unzufrieden. Beschwerden halfen nichts, und so holte eine Rotte Mißvergnügter eines hellen Tags den Russen aus seinem Haus und schlug ihn braun und blau. Die Sache gehörte natürlich unter den Aufruhrparagraphen, und wenn nicht einige verständige Sarten den Beamten, der schon dreiviertel tot war, befreit hätten, wäre es voraussichtlich zum offenen Kriegszustand gekommen. Die Sarten hatten sich schon, nach Möglichkeit bewaffnet, zu Tausenden zusammengerottet. Aber dann kam das Alarmsignal, und die Kosaken, die übrigens wirklich einen untadeligen Mut besitzen, sprengten ventre à terre auf die Massen ein, wie Wölfe auf eine Schafherde. Was sich ihnen in den Weg stellte, wurde niedergeritten, geschlagen und aufgespießt. In weniger Zeit, als ich brauche, um die Sache zu erzählen, war der Aufstand zu Ende, und die Unzufriedenen waren in alle Winde, über Dächer und Felder geflohen. An den darauffolgenden Tagen wurden die Rädelsführer gründlich geknutet, einige wurden auch aufgehängt, und den Schluß der Aktion bildete eine kleine Festrede, die der Chef der bewaffneten Macht den dazu eigens entbotenen, reumütig Versammelten von erhöhtem Platz auf dem Markt hielt.

Markt in Samarkant

Er sagte, was man bei solchen Gelegenheiten mit Nutzen zu sagen pflegt, und nahm im übrigen zum Schluß Gelegenheit, auf einige Weisungen des Korans ermahnend hinzudeuten. Als er geendet hatte, drängte sich noch der russische Gendarmeriewachtmeister, ein wahres Prachtexemplar von einem Hünen und zudem durch gediegene Grobheit mehr populär als gefürchtet, nach vorn, zeigte der schweigenden Menge seine Faust, auch ein Prachtexemplar, und rief: „Und das ist euer Koran!“

Kirgisenfrauen zu Pferde in Taschkent
Mohammedanisches Begräbnis

Ja, die Kosakenfaust ist der Koran der Sarten; sie gebietet ihnen, was sie zu thun und zu lassen haben, und der Sarte schweigt und gehorcht. Muß er sich also dem Russen beugen, so entschädigt er sich dadurch, daß er, dank seiner beweglichen Intelligenz, den Russen vorn und hinten anschwindelt. Die Sache war einige Zeit lang so schlimm, daß der Russe nicht kaufen konnte, was er wünschte, sondern nehmen mußte, was der Sarte verkaufen wollte, und zwar zu solchem Preis, wie ihn die Sarten unter sich in einem Ring festgesetzt hatten. Um dieser Kalamität abzuhelfen und zunächst einmal auf den Grund zu gehn, verkleidete der Gouverneur sich als Soldat und besuchte den Bazar. Bei einem Schlächter forderte er Fleisch und bekam zu unverschämtem Preis ein schlechtes Stück. Natürlich wollte er besseres Fleisch haben, weil er seinem Herrn solches nicht vorlegen könnte.

Darauf entließ ihn der Händler mit dem beruhigenden Bescheid: „Das russische Schwein frißt alles“ Dem Gouverneur verging zwar die Lust, weiter Al Raschid zu spielen, aber der Zweck war erreicht, den sartischen Händlern wurden ihre kleinen Praktiken beschnitten.

Das Leben in den Städten und auf dem Land ist rein orientalisch, und alle Typen, die wir aus den Erzählungen der Scheherezade kennen, finden wir dort heute noch unverändert wieder. Märchenerzähler, Korandeuter, Flickschuster, Barbiere, Bettler, Geldwechsler, Garköche und allerlei andere Talente üben ihre Kunst coram publico aus und geben dadurch dem öffentlichen Leben Abwechslung und Bewegung. Wenig erfreulich sieht es dagegen mit dem Bleibenden der Städte aus. Was an Gebäuden in Samarkand vorhanden ist, ich meine Moscheen, Minarets, Medressen (Schulen) usw. ist verfallen. Die stolzen Bauten, die Dschingis-Khan, Tamerlan und dessen Frau, die chinesische Kaisertochter Bibi, errichteten, liegen verweht im Wüstensand oder zerbröckeln unter Regen und Sonnenbrand. Die über zwei Meilen lange Mauer, die die Stadt der Einheimischen umgiebt, ist dem vollständigen Verfall preisgegeben, von den 165 Moscheen und 24 Friedhöfen liegen die meisten verlassen oder in Schutt und Trümmern, einen ebenso trostlosen Anblick bieten die einst so prächtigen Karawansereien und Kuppelbauten. Vor den zahlreichen Grabmälern hat am besten das Mausoleum Timurs dem Zahn der seit getrotzt, ein höchst interessanter hoher Kuppelbau, in dem Timur nebst sechs seiner ersten Beamte und Freunde bestattet liegt.

Gebetsübung während des Gottesdienstes in der Moschee

Niemand war da, der sich dieser Kunstwerke annahm, und erst die Russen schützten sie vor vollständigem Verfall, auch das erst seit neuster Zeit. In durchaus zu tadelnder Pietätlosigkeit haben sie übrigens beschlossen, eine der Wände der Schah-Sindehmoschee, und zwar die am reichsten und schönsten ornamentierte, die den Gräberkomplex abschließt, abzureißen und nach Petersburg ins Museum zu schaffen. Das ist ein nicht wieder gut zu machendes Vergehen an der historischen Größe des Orts. Daß die Russen andrerseits Gesetze gegen die Vornahme privater Ausgrabungen erlassen haben, schützt wenigstens etwas vor den bis jetzt vielfach vorgekommenen planlosen Beraubungen der Moscheen.

Gaukler in Samarkant
Vom Markt in Samarkant – Probepflügende Ochsen

Die zu meiner Plauderei gehörigen Bilder geben einige interessante Scenen aus dem Leben der Einwohner von Samarkand und Taschkent wieder und sind durch die Unmittelbarkeit der Darstellung von intimem Reiz. Besonders charakteristisch für die Hingabe, womit der fromme Mohammedaner die Vorschriften seiner Religion erfüllt, sind die Momentaufnahmen von den Andachtsübungen und vom Begräbnis. Aber auch die Neigung zu allerlei Kurzweil ist bei den Orientalen ziemlich stark ausgebildet, deshalb erfreuen sich die virtuosen Vorführungen der herumziehenden Gaukler- und Artistenbanden, wie sie meine Aufnahme zeigt, stets lebhaften Zuspruchs und Beifalls.

Dieser Artikel erschien zuerst am 06.09.1902 in Die Woche.