Eine Ausstellung altvlämischer Kunst

In dem unvergleichlichen, vom Hauch mittelalterlicher Mystik noch heute erfüllten, einst so großherrlichen Brügge hat sich in diesem Sommer eine Ausstellung aufgethan, die nirgendwohin besser gepaßt hätte, als hierher.

Ist es auch ein Anachronismus, behaupten zu wollen, daß die Wiege der sogenannten vlämischen Kunst in Flandern stand, so ist doch auf der andern Seite wirklich erst hier ihr wahrer Stern aufgegangen. Die Namen der Van Eyck und Memlings Koger Van der Weydens und neuerdings Gérard Davids, des Hugo Van der Goes und Thierri Bouts und anderer, heute noch unbekannter, heiß umstrittener Meister knüpfen sich unzertrennlich an Brügge, mag die Heimat ihrer Träger eine andere Provinz ja selbst das Ausland, wie bei Memling Deutschland, gewesen sein. Jene unvergleichliche Epoche des Erblühens einer neuen Kunst einer neuen Technik ist unter der Bezeichnung der Schule von Brügge zusanmmengefaßt worden, und dieser Name steht der Pleiade von Künstlern, die sie schufen, gut an.

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Auch die Zeit, die man für diese wahrhaft einzige Ausstellung wählte, harmonisiert mit der lokalen Tönung.

In diesem Sommer hat Belgien das Fest der siebenhundertsten Wiederkehr der Schlacht von Courtrai, das der Goldenen Sporen, begehen können. Auf dem Großen Platz zu Brügge nun erhebt sich das Doppelstandbild von Breydel und de Coninck, den Führern der Gewerkschaften der flandrischen Städte, die auf der Ebene von Groningen Philipp von Frankreichs glänzender Ritterschaft ein so schmähliches Ende bereiteten Das Vlamentum hat also ein großes Jahr zu verzeichnen, gleichviel ob es ein Vlamentum im heutigen Sinn damals schon gegeben hat. Die Schlacht von Courtrai trug einen neuen Wind in die flandrischen Provinzen, und dank diesem Hauch der Freiheit gewann Brügge seine stolze merkantilische, seine hehre künstlerische Blüte.

Unbeschriftet

Im Schatten des hochragenden Belfrieds und des gedachten Doppelstandbildes, im Palast des Gouverneurs an dem Großen Platz zu Brügge befindet sich der eine Teil der Erinnerungsausstellung, der der alten Meister oder, um ein nachgerade volkstümlich gewordenes Schlagwort anzuwenden, der der Primitiven. Die zweite Abteilung, die des vlämischen Kunstgewerbes, hat sich im Gruuthuuse aufgethan, diesem steinernen Schatz altbrügger Innen- und Außenarchitektur, für deren Erhaltung man der Stadt nicht genug Dank sagen kann. Das Gruuthuus, Bewahrer einer berühmten Spitzensammlung, war der gegebene Ort für eine Ausstellung alten Kunstgewerbes.

In seinen so wohl erhaltenen Sälen und Kemenaten scheint noch der Geist Eduards IV. und Warwicks, des Königsmachers, umzugehen.

Mit seiner vorübergehenden Ausstattung von alten Möbeln und Tapisserien, Gold- und Schmelzarbeiten, vor allem aber mit der unübersehbaren Anzahl von Gegenständen kirchlicher Kunst, die Brügges Klöster, vor allem das der Potterie, willig hergeliehen, einer Sammlung von Gildezeichen und Gewerksemblemen gleicht es einem Museum von fabelhaftem Reichtum, einer unerschöpflichen Studienquelle, die in der That auch noch unerschlossen ist. Neuerdings erst hat sich L. Maeterlinck, Bruder des vielgenannten Dichters und Konservator am Genter Museum, mit den Ursprüngen der vlämischen Kunst zu beschäftigen begonnen und damit ein neues Forschungsgebiet erschlossen. Leider aber findet die kunstgewerbliche Ausstellung im Gruuthuuse zu Brügge nicht die Beachtung, die sie erstens durch ihren inneren künstlerischen Wert und dann durch die ihr so angepaßte Umgebung wahrhaft verdient. Die Primitiven im Hause des Gouverneurs von Westflandern verdunkeln alles übrige, mag es noch so kongenial sein.

Hans Memling. Der Reliquienschrein der heiligen Ursula

Ueber die stattliche Treppe mit den Wache haltenden Löwen, die freilich nicht die Mette von Brügge mit angesehn haben, jenes Blutbad, das der Schlacht von Courtrai voraufging und der sizilianischen Vesper an Schrecken nichts nachgegeben hat, über diese Treppe eines allerdings nicht sehr gotisch stilisierten, neueren Gebäudes gelangt man in einen wahren Tempel der Kunst.

seine Säle durchwallen geheimnisvolle Schatten, und eine Dämmerung herrscht, die die Kenner und Forscher von alter Malerei zwar sehr am Beschauen und Bekritteln hindert, den naiven Menschen aber mit vermehrter Gewalt in die Träumerei von der Vergangenheit hineinziehen muß. Dunkel oder halbdunkel die Räume, kein Laut ringsumher, denn auf dicken Teppichen wandert das Publikum vorüber; nur die Madonnen und die Heiligen, die Märtyrer, die himmlischen Glorien und die Teufeleien der Hölle leuchten hervor aus dieser Halbnacht, und die Menschen stehn entzückt vor diesen Kunstwerken Van Eycks und Memlings, dessen „Reliquienschrein der heiligen Ursula“ eine der Perlen der Ausstellung bildet. Unser Bild giebt einen Eindruck des herrlichen Werkes. Nichts Neues, wenigstens nichts wesentlich Neues für die Kunstgeschichte hat die Ausstellung der vlämischen Meister in Brügge zustandegebracht. So viele Kunstgelehrte sie besucht haben und noch besuchen, so gegeben die Gelegenheit war, neuere und tiefgehende Vergleiche machen zu können durch die Nebeneinanderstellung von Bildern, die sonst viele Hunderte von Meilen getrennt und oft auch kaum sichtbar sind, so ist doch noch nichts davon gemeldet worden, daß eins der überraschend vielen Bilder unter den dreihundert vorhandenen, die das so herzlich wenig besagende Täfelchen „Unbekannter Meister“ tragen, auf seinen wahren Autor erkannt wurde. James Weale, der glückliche Entdecker des Hauptbildes von Gérard David, Verfasser des gelehrten Kataloges der Ausstellung, hat noch nicht einen zweiten Wurf dieser Art machen können. Und die Ausstellung zu Brügge wird nicht die brennende Frage zur Entscheidung bringen, wer recht hat: Weale mit seiner Behauptung, daß von Memlings authentischen Werken keine vierzig bekannt sind, während mein braver Freund, der bekannte Kunstkenner A. J. Wauters, in einem sehr verständlichen Leitfaden zur Ausstellung behauptet, daß die in Brügge vereinigten dreißig Werke Memlings kaum die Hälfte seiner uns bekannten Schöpfungen darstellen.

Jan van Eyck – Bildnis seiner Frau

Ebensowenig wird es vorläufig unentschieden bleiben, ob Memling noch unter dem Einfluß Lochners stand, als er, von Köln kommend, nur die Form und die Technik von den Van Eycks entlehnte, oder ob er von der bereits vorhandenen Neuheit und Originalität der Brügger Schule unterjocht wurde. Wir Deutschen sagen: wir brachten euch Niederländern die Malkunst, denn uns schenkte sie Karl der Große, indem er aus dem östlichen Römischen Reich namentlich Künstler in das Land zog.

Die Vlämen behaupten: wir sind die größeren, denn, abgesehen von der weniger neu entdeckten, als durch die beiden Van Eyck neu gehandhabten Technik der Oelfarbenmalerei, die grundlegend für die Entwicklung der Kunst in allen Ländern geworden ist, entlehnt unsere Schule alles von der Natur, sie lebt nur von ihr und für sie. Jener Anfang unserer nationalen Malerei hat noch heute eine Fortsetzung, er wird eine Fortsetzung ohne Ende haben, denn das liegt in unserer Rasse, robust und natürlich zu sein. Und in der That ist es so, in der That stellt man Van Eyck höher als Memling, denn der letztere verstand zwar die Sinfonien des Himmlischen und Ueberirdischen verklärend auf seine Bilder zu bannen, er entfernte sich aber damit auch von jener tiefsinnigen Erforschung der menschlichen Natur und Physiognomie, die das hehrste Wappenschild der Kunst Van Eycks geblieben ist. Mit einem Wort also, nicht etwas Neues, Ueberraschendes gestaltet die Ausstellung in Brügge zu einem unvergeßlichen Unikum auf dem Kunstgebiet, das wohl verdiente, durch das Bild in allen Teilen festgehalten zu werden, sondern dieses Nebeneinander, dieses Zusammentragen von dreihundert Schätzen, deren Kunstwert unermeßlich, deren Versicherungswert nicht weniger als 18 Millionen beträgt.

Gérad David – Jungfrau und Kind

Mit einem prickelnden Augen- und Sinnenschmaus verbunden, eröffnete die Ausstellung der Primitiven uns eine schon längst herbeigewünschte Gelegenheit, einen umfassenden Blick auf die geniale Kunstepoche zu werfen, die jene genannten Primitiven gebar und deren Nachfolger bis zu den Metsys, Cornelis, Pourbus, Van Orley und Breughel hinauf. Sie legt ein Zeugnis ab von der gewaltigen Arbeitslast, die sich eine Anzahl opferfreudiger Männer, an der Spitze Baron Kervyn de Lettenhove und Camille Tulpinck, der Generalsekretär und eigentliche Veranlasser dieser Ausstellung, bekannt durch seine hervorragenden Studien über die belgischen Fresken- und Monumentmalereien, für die allgemeine Belehrung auf die Schultern geladen haben. sie legt aber auch ein Zeugnis ab für die rührende Bereitwilligkeit, mit der sich Museen und Sammler von ihren Schätzen zeitweilig getrennt haben.

Hans Memling – Bildnis eines jungen Mannes

Ich spreche nicht von den belgischen Museen und Kirchen, deren Interesse an dem Zustande kommen dieser Ausstellung verständlicherweise näherliegend war. Ich muß dagegen rühmend die Verwaltungen der Museen von Aachen, Straßburg, Sigmaringen, Glasgow, Hermannstadt, die Privatsammler Graf Arco-Valley, München, Herzog von Anhalt, Graf Barrach und Fürst Liechtenstein, Wien, unsern Gesandten im Haag, Grafen Pourtales, namentlich aber die Familie Kaufmann Berlin und Oppenheim-Köln und viele andere deutsche, belgische, französische und englische Kunstfreunde dafür hervorheben, daß sie zu dem Zustandekommen der Ausstellung von Brügge so uneigennützig beitrugen. Haben schließlich auch das Berliner Museum und St. Bavo zu Gent die Erwartung enttäuscht, durch Vergabe der in ihrem Besitz befindlichen, fehlenden Tafeln des „Mystischen Lammes“ von Jan van Eyck das kostbare Bild in allen seinen Teilen und Einzelheiten endlich einmal vereinigt sehn zu können, so umstrahlt die Ausstellung der Primitiven zu Brügge nichtsdestoweniger der bleibende Glanz einer großen kunstgeschichtlichen Begebenheit.

Dieser Artikel von Alfred Ruhemann erschien zuerst am 20.09.1902 in Die Woche.