Von Geheimrat Professor O. Heubner (1903).
Die Tagespresse nimmt augenblicklich lebhaften Anteil an dem neuen, schönen Heim, das die Berliner Universitätskinderklinik jetzt bezogen hat, und schon die Erkenntlichkeit für ihr Interesse an einem Institut, das ich zu leiten berufen bin, bewegt mich, aus meiner sonst gern eingehaltenen Reserve einmal herauszutreten.
Aber es ist noch mehr, was mich veranlaßt, dem Ersuchen nach einer persönlichen Mitteilung nachzugeben. Es ist der Wunsch, in einem weit verbreiteten und beliebten Blatt einmal die Sache der Fürsorge für die kranken Kinder jeden Alters und besonders des frühesten Alters zu führen eine Fürsprache, deren sie gerade in unserm Vaterland noch in recht hohem Grad bedarf.
Die Berücksichtigung, die der Pflege kranker Kinder, besonders der jüngsten Jahre, in Deutschland und namentlich in Preußen noch gegenwärtig sowohl von seiten der Staats und Gemeindeverwaltungen, wie von seiten des Publikums zuteil wird, ist – im Vergleich zu andern Staaten nicht nur mit alter Kultur (wie England, Frankreich, Oesterreich, unsern nordischen Nachbarn), sondern auch mit jüngerer (wie Rußland) – eine auffallend geringe · Geht man zum Beispiel die großen preußischen Städte in Bezug auf das Bestehen von Kinderkrankenhäusern durch so begegnet man mit wenigen Ausnahmen einer gähnenden Leere. Man hält es für ausreichend wenn die größeren Krankenhäuser eine oder ein paar Kinderstuben mit einigen Betten haben, in denen die wichtigsten Infektionskrankheiten medizinisch und chirurgisch behandelt werden, man hält es selbst bei neuen Organisationen für genügend, im allgemeinen Hospital etwa eine Kinderabteilung zu errichten, obwohl alle Fachleute immer von neuem darauf hinweisen, daß schon mit Rücksicht auf die ganz aus dem für Erwachsene gültigen Rahmen heraustretenden Ansprüche an Pflege, Ueberwachung, Ernährung usw. die Errichtung besonderer Kinder· und Säuglingshospitäler eine dringende Notwendigkeit ist.
Diese Gelassenheit ließ sich eine Zeitlang durch eine Tatsache erklärlich finden – unser Volk hatte es bei dem großen Kindersegen, dessen es sich von alters her erfreute, nicht nötig, aus allgemeinen Ursachen sich einer ins einzelne gehenden Kinderfürsorge öffentlich anzunehmen Und konnte diese unbedenklich der privaten Wirksamkeit überlassen. – Hierin ist nun aber wie es scheint, neuerdings eine bedeutungsvolle Wendung eingetreten.
Jüngst ging durch die Zeitungen eine Notiz, nach der – während die Sterblichkeit im allgemeinen in stetigem Rückgang begriffen ist – die Sterblichkeit des frühsten Kindesalters zugenommen hat, und und zwar trotzdem, dass die Geburtszahl nicht gestiegen, sondern zurück gegangen ist. Die Notiz gründet sich auf amtliche Angaben (Bericht über das amtliche Gesundheitswesen des preußischen Staats 1901). Ich, muß gestehen, dass diese Mitteilung mich überrascht und betroffen gemacht hat. Es wird Aufgabe der öffentlichen Gesundheitspflege sein, dieser Erscheinung, wenn sie sich weiter bestätigt, auf ihre Ursachen nachzugehen; es ist aber auch Pflicht jedes einzelnen, den sein Beruf darauf hinweist, sie als ein Menetekel zu betrachten und, so weit in seinen Kräften steht, zu bekämpfen. Und das trifft auf mich zu, als Lehrer sowohl wie als Arzt. Da ich einige Mängel in ärztlicher Beziehung oben schon hervorgehoben habe, so sei noch die erstgenannte Eigenschaft berührt.
Ich bin weit entfernt, zu meinen, daß die Säuglingsterblichkeit durch die Wirksamkeit tüchtiger Aerzte allein auf ein normales Maß heruntergesetzt werden kann. Aber ein Faktor, der dazu beitragen kann, und zwar ein wichtiger, ist sie zweifellos. – Nun ist aber der Unterricht der Aerzte in der Kinderheilkunde, besonders was die ersten Lebensjahre betrifft, an den preußischen Universitäten noch völlig unzureichend. Unter sämtlichen preußischen Universitäten ist bisher nur an zweien (Berlin und Breslau) den Studierenden Gelegenheit geboten, über Säuglingspflege, Säuglingsernährung, Säuglingskrankheiten am Krankenbett sich instruieren zu lassen Mehr als 2/3 dieser großen Unterrichtsanstalten entbehren dieses Lehrstoffs überhaupt, nicht einmal poliklinisch ist er an den meisten vorhanden. Lehrkräfte wären in genügender Zahl vorhanden, aber es fehlt ihnen das Handwerkszeug, die Klinik. Wie oft aber muß man von den Eltern, namentlich auf dem flachen Land, hören daß ihre sonst trefflichen Aerzte selbst erklären daß sie auf dem genannten Gebiet sich zu unterrichten keine genügende Gelegenheit gehabt haben und selbst in den Fortbildungskursen der ihnen nahegelegenen Universitäten nicht finden. Wie eifrig waren die Aerztevereine bei Beratung der neuen Prüfungsordnung bemüht, eine gründlichere Bildung des nachwachsenden Geschlechts in der Kinderheilkunde durch organisatorische Bestimmungen zu erreichen. Vielleicht fällt dieser Aufsatz auch dem und jenem Mitglied unserer Landesvertretungen in die Hände. Möge er dann dazu beitragen, für etwaige Vorlagen der Staatsregierung zu einer Aufbesserung des pädiatrischen Unterrichts an den Universitäten in finanzieller Beziehung eine günstige Stimmung zu erwecken!
Und möge das glänzende Beispiel, das die preußische Unterrichtsverwaltung jetzt gegeben hat, indem sie an der Berliner Universität eine musterhafte Stätte für den pädiatrischen Unterricht geschaffen hat, dem Weg voranleuchten, der weiter beschritten werden muß.
Wir wenden uns nun zur Beschreibung dieses Instituts, wobei ich mit Rücksicht auf den Leserkreis von seinen dem Unterricht und der Forschung dienenden Einrichtungen absehe und im wesentlichen nur seine humanitäre Aufgabe, die Pflege und Heilung der kranken Kinder, berücksichtige.
Die Berliner Universitätsklinik und Poliklinik für Kinderkrankheiten bildet ein Glied der zahlreichen in dem königlichen Charitékrankenhaus vereinigten Heil- und Lehranstalten; eine jener Organisationen, die von dem großen Haushalter des preußischen Staats, König Friedrich Wilhelm I., geschaffen worden sind. Er verwandelte das frühere Pest- und spätere Armenhaus durch Kabinettsorder vom 18. November 1726 in ein Hospital und Bürgerlazarett, das also nunmehr nahezu zweihundert Jahre lang seinem edlen Zweck dient. Es erlebte schon einmal, vor mehr als einem Säkulum, während der Jahre 1785-1800, eine vollständige Erneuerung; und für die damaligen Ansprüche an die Krankenhaushygiene war der Bau sehr gut ausgeführt und stand ganz auf der Höhe der ähnlichen großen Neuschöpfungen in Wien und Paris. Nachdem der Neubau dreißig Jahre bestanden, wurde die Kinderklinik in ihm errichtet, das heißt, es wurden einige Zimmer – nicht gerade die besten – zur Unterbringung von kranken Kindern eingeräumt. War diese “Kinderabteilung” auch noch etwas recht Unvollkommenes, so zeugt es doch von dem weiten Blick der damaligen Leiter der großen Anstalt, namentlich Rusts, daß sie schon um eine gesonderte Pflege und Lehrstätte für kranke Kinder bemüht waren, als man im übrigen Deutschland noch gar nicht an eine derartige Abzweigung dachte und auch in Oesterreich erst die Anfänge dazu sich regten.
Krankenhäuser werden nicht, wie manche Musikinstrumente, durch das Alter besser, sondern schlechter.
Und so fingen allmählich – im Vergleich zu den tadellos eingerichteten Hospitälern, die seit dem nordamerikanischen Sezessionskrieg überall und auch in Berlin aus der Erde wuchsen – die Verhältnisse in der Charité an, äußerst unbefriedigend zu werden. Auch von seiten der Verpflegten mehrten sich Klagen um Klagen, bis es endlich der Tatkraft und Energie des Kultusministeriums, besonders der des Herrn Geheimrat Althoff gelang, alle finanziellen Schwierigkeiten zu überwinden und mittels eines im Jahr 1897 verabschiedeten Gesetzes die vollständige Neuformation der Charité anzubahnen. In dem hierfür entworfenen Bauplan kam nun zu begrüßende Gedanke zum Ausdruck, alle die zahlreichen, vielfach im selben Gebäude vereinigten „Abteilungen“ zu vollkommen selbständigen Einzelgebilden, in sich geschlossenen Instituten umzugestalten, die nur in bezug auf die Verwaltung einer gemeinsamen Direktion unterstehen, aber selbst auf wirtschaftlichem Gebiet versuchsweise selbständiger als früher gestellt sind. So ist die jetzige Kinderklinik entstanden.
Wer mit der Stadtbahn von der Friedrichstraße nach dem Lehrter Bahnhof fährt, dessen Blick begegnet, nachdem die Karlstraße gekreuzt ist, zur Rechten einem im nordischen Renaissancestil gehaltenen Backsteinbau, der mit drei Giebeln nach der Stadtbahn zu ausladet. Schon durch diese äußere Gestaltung ist der Grundriß der Kinderklinik klar ausgesprochen. Der mittlere Giebel überdeckt den Hörsaal, das Gebäude für Lehre und Forschung mit seinen Laboratorien
Bibliothek und Lesezimmer, der nach der Schumannstraße zu gerichtete Flügel die Poliklinik, während der der nach dem Charitégelände gerichtete Flügel die eigentliche Klinik enthält. Das Poliklinikgebäude hat im Obergeschoß die behaglich eingerichtete Wohnung der Kaiserswörther Diakonissinnen, der langjährig bewährten Pflegerinnen der Kinderklinik, und Dienstwohnungen. Zu der Poliklinik führt der Zugang unmittelbar von der Straße aus. Die Hilfesuchenden gelangen zunächst in ein große Halle, wo sie durch einen Arzt darauf hin geprüft werden, ob sie mit ansteckenden Leiden (Keuchhusten, Masern, Scharlach, Diphtherie usw.) behaftet sind. In diesem Fall werden sie in besonders abgetrennte Wartezimmer gewiesen und in einem besonderen, völlig von den Haupträumen getrennten Zimmer untersucht und behandelt. Die übrigen (weit in der Mehrzahl) gelangen in den großen, angenehm mit Kinderidyllen und Märchenfiguren ausgemalten Wartesaal, von dem aus sie in je eins der nebeneinander an der Längswand des Warteraums liegende Untersuchungszimmer treten, um von dem hier weilenden Assistenzarzt, beziehungsweise Direktor beraten zu werden.
Der nach dem Charitégebäude zu gelegene (nördliche) Flügel der Klinik enthält de eigentlichen Krankenräume für die nicht ansteckenden Kinder. Im Erdgeschoß sind die Kleinsten der Kleinen, in Einzelzimmern de Säuglinge und in einem großen (Boren) Saal die ein- bis dreijährigen Kinder untergebracht. Die Abbildung zeigt eins der Säuglingszimmer; die Einrichtung der Betten die Fayencewanne, die Wage, auf der eins der in Genesung befindlichen Babies sitzt sind leicht zu erkennen.
Das nebenstehende Bild stellt einen äußerst wichtigen Nebenraum der Säuglingsabteilung dar. Hier werden die – für die verschiedenen Kranken oft sehr wechselnden – Mischungen der künstlichen Nahrung hergestellt, gekocht, im Kühlapparat auf niedrige Temperatur gebracht, in die Einzelflaschen verteilt und bis zur Verabreichung im Eisschrank aufbewahrt.
Zweierlei Bedingungen hat ein gutes Krankenhaus unter allen Umständen zu erfüllen: erstens, daß alle Räume reichlich von Licht und Luft durchflutet werden können. Dafür hat die Disposition des Grundrisses zu sorgen; dies ist in unserm Fall durch die gute Verteilung der Räume seitens des ausführenden Künstlers, Herrn Regierungs- und Baurats Diestel, geschehn, was schon an den Bildern zu erkennen ist.
Zweitens; daß die Gefahr einer Krankheitsübertragung von einem auf das andere Kind strengstens vermieden wird. Man begreift, wie groß solche Gefahr ist, wenn man überlegt, wie mannigfaltig die Leiden sind, derentwegen kranke Kinder ins Haus gebracht werden. Daß die sogenannten ansteckenden Krankheiten isoliert werden müssen, ist eine seit Jahrzehnten erfüllte Forderung. Aber seit dem Einfluß der bakteriologischen Aera auf das ärztliche Denken hat man durch verschärfte Beobachtung erkannt, daß eine große Anzahl anderer bisher unter die nicht ansteckenden Krankheiten gerechneten Zustände ebenfalls von einem Kind auf das andere, und zwar gerade nicht selten unbewußt durch Pflegerinnen oder Aerzte, übertragen werden. Das gilt namentlich von den Bronchial- und Darmkatarrhen der kleinen Schwächlinge im ersten bis dritten Lebensjahr. – Man hat zu diesem Zweck das Prinzip der Asepsis von den chirurgischen Sälen auf die medizinischen übernommen. Die Erfahrung hat gelehrt, daß alle – solche Uebertragungen nicht durch die Luft, sondern immer – nur durch die unmittelbare Berührung erfolgen. Die beistehenden Abbildungen (u. a. aus dem sogenannten Boxensaal) zeigen die Einrichtungen, die getroffen sind, um diese “Kontaktinfektionen” zu verhüten. Jedes Bett ist vom andern durch eine Glaswand getrennt, die um das Kind eine Art Isolierraum (in der Idee) herstellt. Die kleinen Tellerchen am Kopfende des Betts dienen zur Aufnahme eines Glases, in dem das ausgekochte Saughütchen sich befindet, zur Aufnahme der Milchflasche, bevor sie nach dem Gebrauch weggetragen wird, und des Waschfleckchens, endlich des Thermometers damit keiner dieser Gegenstände mit denen eines andern Kindes verwechselt wird. Kein Kind darf berührt werden, weder von Arzt noch von der Wärterin, bevor nicht sorgfältig die Hände gereinigt und die zu der betreffenden “Boxe” gehörigen Mäntel angezogen sind, und so fort von einer Boxe zur andern. Dagegen kann man, wie Abbildung zeigt, aus der Ferne mit jedem Kind sprechen, ihm Spielzeug vorzeigen, ohne eine Uebertragung befürchten zu müssen.
Die hier obenstehende Abbildung zeigt den ärztlichen Dienst in einer Boxe. Nur der untersuchende Arzt und die Pflegerin, die sich in der erwähnten Weise vorbereitet haben, dürfen das Kind berühren, die Hospitanten oder Hilfsärzte dürfen nur zusehen, berühren erst dann, wenn sie die Hände gereinigt und den Boxenmantel angezogen haben.
Die Pflege wird durch diese Einrichtung nicht wenig erschwert und verlangt alle Hingabe seitens des Personals, aber seit Einführung dieser Maßregel sind die Lungen-· und Darmkatarrhe, die früher diese Abteilung von Zeit zu Zeit endemisch durchliefen und vielen Kindern das Leben kosteten, völlig verschwunden. – Das Obergeschoß der Klinik wird von den zwei großen Sälen und Nebenräumen eingenommen; in dem einen sind die älteren Mädchen, in dem andern die älteren Knaben untergebracht. Die Abbildung gibt eine Vorstellung von dem hellen Licht, das diese durchflutet.
Im gleichen Geschoß befindet sich das Lehr- und Spielzimmer für die Rekonvaleszenten, das unsere oben stehende Abbildung zeigt.
Eine sehr wichtige Abteilung der Klinik befindet s in der niedrigen Baracke, die (von der Stadtbahn aus gesehen) rechts vor dem Hauptgebäude liegt. Hier finden die einer infektiösen Krankheit verdächtigen Kinder Aufnahme, bevor eine sichere Diagnose bei ihnen gestellt werden kann. Diese können natürlich weder im Haupthaus, dem sie Gefahr bringen, noch in einem der Infektionshäuser, wo sie Gefahr laufen würden, untergebracht werden. Die Räume sind dort so sinnreich disponiert daß die Kinder der einzelnen Abteilungen in der Barack sich auch gegenseitig nicht gefährlich werden können.
Den ausgesprochenen Infektionskrankheiten endlich dienen vier von den bisher dem Institut für Infektionskrankheiten zugehörigen Baracken, die zu dem Zweck einer Restauration unterworfen wurden. Hier werden Scharlach, Masern, Keuchhusten und Diphtherie unterkommen. Eine kleinere Baracke dient noch dazu, solche Kinder, die an zwei Infektionskrankheiten gleichzeitig leiden, von den übrigen zu trennen. Diese Baulichkeiten liegen alle in direkter Nachbarschaft der Hauptklinik, aber durch Gartenland so weit von ihr getrennt, daß Uebertragungen völlig ausgeschlossen sind.
Die Gesamtzahl der Betten der Klinik beläuft sich auf etwas über hundert. Durch die geschilderte sorgsame Verteilung ist aber erreicht, daß diese alle in unausgesetzte Benutzung genommen werden können. Nun hat sie ihre Pforten geöffnet, um ihren Samariterdienst in vollem Umfang anzutreten.
Dieser Text erschien 1903 in “Die Woche”. Die Bilder wurden nachcoloriert.