Die Zarenresidenz an der russischen Riviera

Wenn der Herbst kommt und die Blätter von den Bäumen streift, die Blumen zertritt und all die Sommerfreude in traurige Ecken zusammenfegt, dann wird es wohl am frühesten unter all den Monarchenresidenzen im schönen parkumlagerten Zarskoje Sjelo bei Petersburg unwirtlich.

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Es wird dort ja so früh Herbst. Und die Winde wehen kalt, und die nördliche Sonne, die nicht durchdringen will, kämpft vergebliche Kämpfe mit den giftigen Nebeln aus den Petersburger Sümpfen. Schon Mitte September dürfen die kleinen reizenden Prinzeßlein, der liebliche Nachwuchs der Zarenfamilie, nicht mehr spazieren gehen und bekommen zu den Ausfahrten dicke weiße Mäntelchen an. Hu – naß, kalt und langweilig! Aber unten im Süden, am wogenden, in bunter Schönheit leuchtenden Südufer der Krim, wo das Wasser des Schwarzen Meers in zarter Bläue schimmert und stolze Paläste, in reiche, sonnige Pracht gebettet, Weinberge und Gärten voll tropischen Ueberflusses spiegelt, da wird es schön um diese Zeit. Dahin kommt der Herbst nicht als grauser Mörder, sondern als stiller Freund, der mit zärtlichen Händen die allzugroßen Gluten des Sommerbrands kühlt und freundlichen Gesichts neue duftende Lebenswonnen schenkt. Da ist es nun gut sein, und das frohe Zarenschloß Livadia im Schutz der Höhen über Jalta hat die seligsten Härten, den süßesten Reichtum an Früchten, wie sie der Süden reift, und die herrlichsten Fernblicke. Aber auch die Großen des Reichs, die mit ihrem Zaren aus dem häßlichen, traurigen Petersburg geflohen, haben es gut hier, wo die Erde im Frieden der Schönheit, Sonnensatt und überreich Feierabend macht. Leis nur und zärtlich kost sie mit den weichen Fluten des Meers und läßt sich in stiller Hoheit vom milden Himmel mit Festgewändern und selten strahlenden Farben schmücken. Feierabend. Und die Menschen leben ein Leben der Freude. Auch die vornehmsten Excellenzen lassen Vornehmheit und Steifigkeit fahren. Weite Spaziergänge durch das sonnige Gelände, lustige Ritte über die Berge, frische Bäder in früher Morgenstunde, muntere Ausfahrten zu entfernteren Klöstern, wo die Mönche die wunderbare russische Gastlichkeit neben noch weit wunderbareren Weinen pflegen, wechseln mit Jagdausflügen, wobei dann der tartarische Begleiter oft mehr als eine der horngeschmückten Bergziegen zu schleppen bekommt. Der Verkehr ist leicht und lustig. Die offiziellen five o’clock-teas dehnen sich oft bis in die späten Abendstunden aus. Sie brauchen ja nicht offtziell zu sein. Auch die Gedanken brauchen es nicht, und der alte Hofmann Fürst Lieven hat seine besten Bonmots in Jalta ersonnen. O, ein Dorado der Erholung!

Das Schloss des Zaren in Livadia (Krim)

Und auch der Zar und die Zarin können ausruhen – von Regierungs- und Repräsentationsgeschäften, von Sorgen und – vom Hof. Denn es giebt wohl keine zweite Herrscherfamilie, die so viel Sinn für stillglückliches Familienleben hat, wie die zarische, und so großes Bedürfnis danach. Hier in Livadia kann es mit all seiner Liebe, Schönheit und Tröstlichkeit Ereignis werden, und zwar im engsten Kreis. Zum Glücklichsein gehören doch wohl Stille und Alleinsein, und der Zar schuldet seinem Livadia viel Dank, zumal es so unendlich schön ist.

Aber auch die vier niedlichen „Zarinetten“ haben es wieder so gut, so gut! Nun können sie wieder ungehindert im Park herumstreifen. Das ist doch ein anderes Laufen und Spielen. Und nachmittags am Strand, im feinen, weißen Sand, wie läßt sich’s da wühlen und graben und bauen. Und das Meer ist so schön und weit, und die Möwen so schnell und weiß, und die kleinen, eiligen Wellen so lustig! Zwar achten die englischen Bonnen darauf, daß die beiden kleinsten nicht vom großen Teppich hinunterkriechen. Sand ist Sand und hinterläßt Spuren; aber weder die leichten, weißen Schärpenkleiderchen der größeren Prinzeßlein, die man hin und her am Strand aufleuchten sieht, noch die der kleineren kommen ohne Spuren nach Hause. Und sind die großfürstlichen Onkel zu Besuch da, dann hat man doch wenigstens etwas von ihnen! Auch die Prinzeßlein brauchen am Strand nicht zu repräsentieren – regieren aber können sie, wie sonst nie. Und sie machen den ausgiebigsten Gebrauch von ihrer Omnipotenz. Da sind Vater und Mutter ebenso gehorsame Unterthanen, wie der jüngste Gärtnerjunge. Und das absolute Regiment ihrer erwachenden Kinderseelen, ihres Träumens und Verlangens reicht weit, weit über die ganze Welt. Eine durch Bonnen gemäßigte absolute Monarchie, die da in Livadia einen Staat im Staat bildet. Rußland freilich wird anderweitig regiert.

Das Arbeitszimmer des Zaren in Livadia
Kirche in Livadia
Wohnzimmer des Zarenpalais

Bei der diesjährigen Reise in die Krim wurde die Geduld der „kleinen Großfürstinnen“ auf eine harte Probe gestellt, da sich der Zar und die Zarin beinah eine ganze Woche in Sewastopol aufhielten. Sie wohnten dort dem Stapellauf des neuen Schwarzmeerkreuzers ersten Ranges „Otschakow“ bei, der sich zu einer imposanten maritimen Feier gestaltete. Die wunderbare, großartige Illumination des landschaftlich so schönen Sewastopoler Hafens, das Freudenschießen der versammelten Schwarzmeerflotte, die Unmassen staunender Menschen und das Hafengetriebe mag den Prinzeßlein ganz amüsant gewesen sein. Immerhin gab es täglich nur eine Spazierfahrt im Sewastopoler Park. Sonst mußten sie hübsch artig auf der zarischen Jacht „Standart“ sitzen und die Eltern von ihren Ausflügen zurückerwarten. Zar und Zarin haben die Sewastopoler Woche dazu benutzt, alles Wesentliche in der interessanten Umgebung der kriegberühmten Stadt in Augenschein zu nehmen. Sie waren zu Pferde im Chersones, wo das Museum für Altertümer, die Ausgrabungen mit ihren reichen Schätzen, sowie die kürzlich aufgedeckte Kreuzkirche aus dem 5. Jahrhundert besichtigt wurden. Dann waren sie in Bachtschissarei, der alten Tatarenresidenz. Von dort aus wurde das bedeutende Urfewskikloster und das Schloß der Chane Tschufut-Kalé aufgesucht.

Blick auf Jalta in der Krim

Nun aber ist die zarische Familie im zauberschönen Livadia, „auf der Datsche“, wie man in Petersburg sagt, gewissermaßen in der Sommerfrische. Ob dieses Jahr viel Logierbesuch bringen wird? Die Zarinetten würden sich nicht darüber freuen: sie müßten am Ende doch repräsentieren.

Dieser Artikel erschien zuerst am 25.10.1902 in Die Woche, er war gekennzeichnet mit „H. Rast“.