Einer Künstlerlaune hat das waadtländische Dorf St. Legier bei Vevey seinen eigenartigen und wertvollen Bilderschmuck zu verdanken.
Dieser ist nicht etwa in einer Galerie untergebracht und gegen Entgelt zu besichtigen, sondern jedermann, der sich die Mühe nimmt, durch das prächtige Rebgelände nach dem am Berghang liegenden Dorf zu pilgern, kann sich beliebig an diesen Kunstwerken erbauen. Und es sind ihrer nicht wenige, die von dieser seltsamen Schaustellung angezogen werden.
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Die Dorfstraße ist die Galerie, Wände, Scheunenthore und Thürflügel der Untergrund, den der Künstler zu seinen Werken benutzte, und das Dorfleben, wie es an ihm bei der Arbeit vorüberzog, gab ihm die prächtigsten Modelle zu seinen Entwürfen. So enthält die „Galerie“ auch fast durchweg, abgesehn von einigen allegorischen Reminiszenzen aus der Vergangenheit, Scenen und Typen aus dem Dorfleben. Mit kühner, sicherer Hand hat der Künstler seine Skizzen auf die rohe, unvorbereitete Fläche hin geworfen, mit wenigen kräftigen Einzelstrichen den Eindruck eines Augenblicks festhaltend.
Wer ist der Künstler, der nach genossenen Ehren dem Leben der Welt entsagte und mit seiner Kunst zum Volk herabstieg? Ein Kind des Dorfs, der Maler Beguin, der einst in Pariser Kunstlerkreisen sehr angesehn war, hat krank und vom Heimweh nach der Schweiz getrieben die heimatliche Scholle wieder aufgesucht.
Die neuen Eindrücke belebten ihn wieder und reizten ihn aufs neue, den Pinsel in die Hand zu nehmen. An den alten hölzernen Thoren und Wänden entdeckte er alte Malereien, die schon fast gänzlich zerstört und verblaßt waren. Er machte sich daran, sie wieder aufzufrischen, sowie auch neue Skizzen nach dem Muster der aufgefundenen auszuführen. Bald war der Ruf seiner eigenartigen Thätigkeit bekannt geworden, Liebhaber und Sammler stellten sich ein, um die Beguinschen Gemälde anzukaufen. Die Bauern gaben ihre alten Scheunenthore mit Vergnügen her, mit dem Erlös konnten sie sich zehn neue anschaffen. Damit war jedoch der Künstler nicht einverstanden, und in Zukunft wählte er die rohen Mörtelwände der Häuser als Bildträger.
Seither ist keins der „Gemälde“ mehr verkauft worden.
Dieser Artikel erschien zuerst am 13.09.1902 in Die Woche.