Ein Wohltäter der Menschheit

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Die Geschichte pflegt die Namen großer Feldherren aufzubewahren, die durch hervorragende Kriegestaten Ruhmreiches geleistet, durch glänzendes strategisches Talent große Schlachten gewonnen und ihrem Vaterland entscheidende Siege erfochten haben. Freudiger aber wird die Mit- und Nachwelt den rühmen, der in großen Taten des Friedens und der Menschlichkeit seine Kraft und Größe gezeigt, der auf dem Felde der Humanität Gewaltiges geschaffen, zum Nutzen und Heil der Menschheit.

Was Karl August Lingner, der Schöpfer und Leiter der Internationalen Hygiene-Ausstellung in Dresden, die jetzt ihrem Ende zugeht, durch diese Weltausstellung geleistet hat, das kann schon heute als eine Großtat bezeichnet werden, als ein Friedenswerk, das Millionen von Menschen zugute gekommen ist und auch späterhin noch reiche Früchte tragen wird. Die ganze Fülle seiner Arbeitskraft, seine gewaltige Energie und Elastizität, seine universalen Kenntnisse auf allen Gebieten, seine Klugheit und Umsicht, seinen fast wunderbaren praktischen Sinn in Verbindung mit einem hervorragenden künstlerischen Empfinden hat Lingner dieser einen großen Sache gewidmet, seiner Lieblingsidee, die ihm seit Jahren vor Augen schwebte: die Aufklärung der Menschheit über das, was dem menschlichen Körper schädlich und feindlich ist, was die Gesundheit und damit die Lebensfreude bedroht. Sein sieghaft froher Glaube an die Verwirklichung der kühnen Idee hat alle die unermeßlichen Hindernisse die sich entgegenstellten, niederwerfen lassen, hat alle die begeistert mitgerissen, die vorher noch unentschlossen und zaghaft waren. Und mit Genugtuung begrüßte man überall die hohe Auszeichnung, die der König von Sachsen ihm durch die Verleihung des Titels eines Wirklichen Geheimen Rates mit dem Prädikat Exzellenz zuteil werden ließ.

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Lingner, einer der hervorragendsten Industriellen unserer Zeit, ist ein Mann, der sich ganz aus eigner Kraft emporgearbeitet hat, ein Selfmademan im besten Sinne des Wortes. Er ist in Magdeburg geboren, weilte mehrere Jahre in Frankreich und England und kam dann nach Dresden. Im Jahre 1887 eröffnete er hier zusammen mit einem Kompagnon eine aus drei Räumen bestehende Werkstatt für technische Neuheiten in der Freiberger Straße, denn schon damals hatte sein stets regsamer Geist allerhand praktische Erfindungen erzeugt. Nach etwa fünf Jahren wurde die Fabrik nach der Nossener Straße verlegt, und dort trennte sich Lingner von seinem Sozius. Der Betrieb wuchs, es wurden neue Artikel hinzugenommen und schließlich ging man zur Fabrikation kosmetischer Präparate über: zur Herstellung von Mitteln für Munddesinfektion, für rationelle Zahnpflege, zur Fabrikation von Teerpräparaten für Haar- und Kopfpflege und allerlei anderer chemischer Erzeugnisse. Es entstand das chemische Laoratorium in der Fabrik, in dem die Präparate unter Leitung hervorragender Fachleute angefertigt wurden, und im Anschluß daran das Sächsische Serumwerk, das sich mit der Herstellung aller Heilseras und vieler bakterio-therapeutischer Präparate befaßt.

Karl August Lingner
Karl August Lingner, der geistige Arheber der Internationalen Hygiene-Ausstellung in Dresden, wurde in Anerkennung seiner großen Verdienste zum Wirklichen Geheimen Rat ernannt (siehe auch den nebenstehenden Artikel). Hofphot. Erwin Raupp.

Bei allem war Lingner selbst unermüdlich mit tätig, bekümmerte sich sorglich um alle Einzelheiten und saß oft bis 2 oder 3 Uhr nachts in seinem Kontor bei der Arbeit. Diesem unermüdlichen Tatendrang, dieser Gründlichkeit im Verein mit einem genialen Reichtum an Ideen und einer seltenen Großzügigkeit Lingners verdankt die Fabrik ihr rasches Emporblühen, so daß sie bald zu den größten industriellen Unternehmen Sachsens gehörte. Aber einem Mann wie Lingner konnte das bloße Ansammeln von Reichtümern keine Befriedigung gewähren. Ihm waren die Mittel nur deswegen willkommen, weil er sie zur Verwirklichung seiner philanthropischen Ideen benutzen konnte. Zunächst sorgte er für seine Arbeiter, und besonders interessant ist dabei, daß er auch hier zuerst an die hygienische Fürsorge für die Leute dachte. Er ließ in der Fabrik schöne Baderäume einrichten, in denen Beamte sowohl wie Arbeiter während der Arbeitszeit wöchentlich einmal baden können, ohne daß den Arbeitern an ihrem Einkommen etwas gekürzt wird. Eine große Stiftung gewährt jedem Angestellten gründliche Erholung durch längeren Sommerurlaub, und auch die schöne Sitte, den Leuten durch namhafte Geschenke eine wirkliche Weihnachtsfreude zu verschaffen, wird seit der Gründung des Betriebes durchgeführt.

Um die damalige Zeit beschäftigten sich die Professoren Schloßmann, Nowak und Walther mit einer Desinfeltionsmethode, der Formaldehyd-Desinfektion. Sie fanden in Lingner einen Mann, der ihre Ideen förderte und selbst einen Apparat konstruierte, der eine Umwälzung in der Desinfektionstechnik hervorrief. Bald darauf gründete er die Desinfektionsschule in Dresden, die im Jahre 1904 staatliches Institut wurde. Nach eigenen Entwürfen erbaute er auf eigenem Gelände eine Dampfdesinfektionsanstalt, die noch heute als Musteranstalt dient und für viele deutsche Desinfektionsanstalten vorbildlich gewesen ist.

Dabei beschäftigte er sich eingehend mit der Sozialhygiene und mit dem gründlichen Studium der einschlägigen Literatur. „Dies Gebiet hat mich dermaßen begeistert,“ sagt er selbst im Vorwort eines Artikels, „Volkskrankheiten und ihre Bekämpfung“, „daß ich zu dem Entschluß gelangt bin, mich in jeder nur möglicher Weise auf demselben zu betätigen und andere Bestrebungen, die dieser herrlichen Idee zweckmäßig dienen, fördern zu helfen.“ Das hat er denn auch in reichem Maße getan. Als im Jahre 1902 die Städte-Ausstellung in Dresden herankam, beteiligte er sich in der Weise, daß er die großartige Sonderausstellung „Volkskrankheiten und ihre Bekämpfung“ veranstaltete, die später auf Wunsch der einzelnen Stadtverwaltungen eine Wanderung nach Frankfurt a. M., München, Kiel und anderen Städten antrat, wo sie von Hunderttausenden besucht wurde.

Aber der Feuergeist dieses Mannes ruhte nicht. Eine kühne Idee tauchte in ihm auf und ließ ihn nicht mehr los, eine Idee, so verlockend und schön, daß sie beinahe schon deswegen allein unausführbar erschien: das gesamte unermeßliche Gebiet der Hygiene sollte zum Gegenstand einer großen Ausstellung gemacht werden, an der die ganze zivilisierte Welt sich beteiligen und von der die ganze Menschheit dauernden Nutzen haben sollte. Wer in Dresden gewesen ist, wer das Riesenwerk in dem prachtvollen, außerhalb des Stadtgewühls gelegenen Gelände besichtigt hat, der wird mit staunender Bewunderung gesehen haben, wie dies herrliche Ideal zur Wirklichkeit geworden ist.

Da waren nicht nur Tabellen und Tafeln, die kalte Zahlen vortrugen oder dem Besucher schroff entgegenriefen: „Das darfst du nicht! Das sollst du nicht!“ Überall, in der Hauptsache aber in der populären Halle „Der Mensch“, Lingners ureigenstem Werk, zeigten großartige Modelle, kunstvolle, naturgetreue Präparate und fein konstruierte bewegliche Apparate, die die diffizilsten Vorgänge des menschlichen Organismus wiedergaben, prächtige, zum Teil höchst humorvolle Bilder, wie der Mensch beschaffen ist, was ihm auf seiner Erdenlaufbahn zustoßen und was er von sich abwehren kann. Lingner sagte sich, daß nur durch diese instruktive, lebendige Art der Vorführung eine dauernde, im Gedächtnis des Beschauers haften bleibende Belehrung, auf die allein es ihm ankam, erreicht werden könne.

Und daß dies erreicht worden ist, das beweisen nicht nur die glänzenden Urteile in der Presse, nicht nur die zahllosen, begeisterten Anerkennungsschreiben von Gelehrten und Staatsmännern, das zeigte sich vor allem in dem Besuch der Ausstellung. Aus allen Teilen Deutschlands und des Auslandes kamen die Besucher, vom Fürsten bis zum schlichten Arbeiter, um an dieser Stätte, wo das ganze Gebiet der Gesundheitspflege einem lebendigen Lehrbuch vergleichbar ausgebreitet war, zu schauen und zu studieren.

In Dresden zeugt eine Reihe weiterer großer Schöpfungen von Lingners warmen Sinne für Volksbildung und Volkswohlfahrt. Die Einrichtung einer Schulzahnklinik ist sein Werk, ferner gründete er im Jahre 1902 die Dresdner Lesehalle und daran anschließend die Volkslesehalle, die die größte Besuchsziffer aller Lesehallen in Deutschland (jährlich 350 000 Leser) aufzuweisen hat. Dresden ist stolz auf seine Ausstellung, es ist aber auch stolz auf diesen Mann, der so Großes für die Stadt und für Millionen von Menschen geleistet hat.

Dieser Artikel erschien zuerst in Reclams Universum Weltrundschau 09.-15.10.1911, er war gekennzeichnet mit „Hans Florian“.