Im Land der Masuren

Winterabend im masurischen Bauernhaus

Kein anderer Landstrich mit fremdsprachiger Bevölkerung in Deutschland hat sich so schnell und gründlich verändert, wie Masuren. In drei Jahrzehnten haben die Masuren ihre Sprache, ihre eigenartige Tracht, ja sogar ihre abergläubischen Gebräuche aufgegeben, um rastlos im Deutschtum aufzugehen. Nur in den einsamen Dörfern der großen Johannisburger Heide findet man noch vereinzelt alte Leute, die kein Wort Deutsch sprechen. Die jüngere Generation unterscheidet sich in nichts mehr von den Bewohnern rein deutscher Landstriche.

Auf den ersten Blick könnte die Schnelligkeit dieses Vorganges wunderbar erscheinen, ist es aber nicht. Bei den Masuren lagen keine Momente des Widerstandes vor, wie sie z. B. bei den Polen in Posen und Westpreußen vorhanden sind. Der Masur ist evangelisch und mit Leib und Seele preußischer Patriot.

Dies ist ein historischer Text, welcher nicht geändert wurde, um seine Authentizität nicht zu gefährden. Bitte beachten Sie, dass z. B. technische, wissenschaftliche oder juristische Aussagen überholt sein können. Farbige Bilder sind i. d. R. Beispielbilder oder nachcolorierte Bilder, welche ursprünglich in schwarz/weiß vorlagen. Bei diesen Bildern kann nicht von einer historisch korrekten Farbechtheit ausgegangen werden. Darüber hinaus gibt der Artikel die Sprache seiner Zeit wieder, unabhängig davon, ob diese heute als politisch oder inhaltlich korrekt eingestuft würde. Lokalgeschichte.de gibt die Texte (zu denen i. d. R. auch die Bildunterschriften gehören) unverändert wieder. Das bedeutet jedoch nicht, dass die darin erklärten Aussagen oder Ausdruckweisen von Lokalgeschichte.de inhaltlich geteilt werden.

Der Krieg von 1870-71 gab den Anstoß zu der schnellen Germanisierung. Bis dahin war in den meisten Landschulen polnisch unterrichtet worden. Nun verlangten die heimgekehrten Krieger selbst, daß ihre Kinder Deutsch schreiben und lesen lernten. Hand in Hand damit ging noch eine zweite Umwandlung, die ebenso wunderbar und erfreulich ist wie die Germanisierung. Das ist die Erhebung aus tiefer wirtschaftlicher und der damit zusammenhängenden sittlichen Verkommenheit. Bis zu den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts war Masuren von aller Welt abgeschnitten. Kein Schienenweg vermittelte den Verkehr mit der Provinzialhauptstadt Königsberg oder dem Reich. Nur der Ueberschuß des Holzreichtums ging auf dem Abfluß des Spirdingsses, dem Pissek, durch Rußland nach der Weichsel. Sonst war kein Handel und Wandel in ganz Masuren. Am Markttag belud der Bauer seinen Wagen, der, buchstäblich genommen, kein Pfund Eisen an sich trug, mit einigen Scheffeln Getreide, seine bessere Hälfte packte ein Schock Eier in die mit Spreu gefüllte „Lischke“, eine aus Baumwurzeln oder Bast geflochtene Paudel, und dann fuhren beide im Morgengrauen zur Stadt.

Masurische Landschaft
Masurische Landschaft

Dort machten sie „Fettlebe“, wie der Berliner sagt. Und die Krämer kannten ihre Kunden. Auf der „Tonbank“, dem Verkaufstisch, standen große Schüsseln mit gebratenen Klopsen, Fischen, Stücken Wurst und ähnlichen guten Sachen. Sie gingen fort wie die warme Semmel, Stück für Stück „’nen Dittchen“. Natürlich gehörte dazu ein ordentlicher „Kartofflinski“ und nicht zu wenig. Erst wenn die Sterne am Hinmnel standen, fuhr der Bauer heim, den Kopf voll und den Beutel leer, der Wagen voll besetzt mit den Losleuten die morgens zu Fuß in die Stadt gewandert waren. Fleißig ging die Schnapsflasche von Hand zu Hand. Wer keine Fahrgelegenheit fand, schlief im Straßengraben seinen Rausch manchmal gemeinsam mit dem mager Schwein, das den Weg zum Mark schon einigemal vergeblich zurückgelegt hatte.

Der Fuseldurst war zum Nationallaster der Masuren geworden. Es würde zu weit führen, ausfuhrlich zu schildern, wie der Volksstamm sich au dem wirtschaftlichen und sittlichen Verfall emporgerafft hat. Die Hauptursache ist einzig und allein in der Schaffung von Verkehrswegen zu suchen. Zuerst entstand die ostpreußische Südbahn von Königsberg zur russischen Grenze und dann die Bahn von Lyck nach Allenstein, die dort den Anschluß an nach Westen führende Hauptstrecke Insterburg-Thorn-Berlin fand. Mit der Erschließung von Absatzgebieten hob sich die Landwirtschaft. Der Bauer wurde durch das Beispiel der deutschen Gutsbesitzer angespornt, und jetzt kann man ohne Uebertreibung sagen, daß der Masur ebenso rationell und fleißig seinen Boden bestellt wie jeder tüchtige Landwirt.

Masurische Bäurerinnen zur Kirche fahrend
Masurische Bäurerinnen zur Kirche fahrend
Masurische Winterlandschaft
Masurische Winterlandschaft
Netzflicken im Winter
Netzflicken im Winter

In manchen Gegenden hat sogar eine Abstinenzbewegung Boden gefunden. Sie ruht auf religiöser Grundlage. Fast in jedem Dorf ist ein Häuflein der „Gromadki“ zu finden, die sich nach Feierabend in einer Chalupp versammeln, um gemeinsam zu singen und beten. Dann steht wohl der eine oder andere auf, um die Brüder und Schwestern in einer kurzen Ansprache zu einem ehrsamen Leben zu ermahnen. Das ist durchaus nicht überflüssig, denn gar mancher wird abtrünnig. Aber getreu dem Schwur, den er geleistet, trintte fortan keinen Schnaps, sondern nur das Gemisch, das der Krugwirt unter dem Namen „Likör“ verkauft.

Winterabend im masurischen Bauernhaus
Winterabend im masurischen Bauernhaus

Von einein gewissen Gesichtspunlt aus kann man das Verschwinden der alten Tracht und der eigenartigen Volksbräuche bedauern. Aber was die Masuren dafür eingetauscht haben, ist doch höher einzuschätzen. Uebrigens ist noch genug davon vorhanden, um den Fremden, die von Jahr zu Jahr in immer größeren Scharen erscheinen und sich an den idyllischen Naturschönheiten des Landstrichs erfreuen, Interesse abzugewinnen. Man muß nur keine originellen, farbenfreudigen Trachten zu finden hoffen wie bei den Litauern oder den Wenden im Spreewald. Die sind bei den Masuren nie vorhanden gewesen. Die Mann trugen graue oder blaue Röcke aus selbstgewebtem Tuch, „Wand“ genannt oder einen unbezogenen Schafspelz, dessen weiße Außenseite im Lauf der Zeit einige andere Farben annahm, die Frauen selbstgewebte Röcke und Jacken, dazu im Winter einen Mantel mit fünf bis sieben abgestuften Kragen. Das im Haus gewebte Tuch ist längst von der billigen Fabrikware verdrängt. Nur der Kopfputz der Bäuerinnen, aus zwei kunstvoll gebundenen Tüchern bestehend, hat sich erhalten.

Am meisten ist das Verschwinden der alten „Baikys“, der Sagen und Märchen, zu bedauern. Der Masur hat stets Lust am Fabulieren und Singen gehabt. Wenn an den langen Winterabenden die Frauen Flachs und Wolle spannen oder die Männer ein neues Netz strickten oder das alte ausbesserten, dann erzählten die Alten bei loderndem Kienfeuer von dem dummen Teufel, der vom klugen Hirt überlistet wird, von dem Wolf und dem Fuchs oder von den Dombrojenes, den masurischen Schildbürgern. Auch jetzt noch wird viel fabuliert, aber von der Decke hängt die Petroleumlampe, und der Erzähler spricht Deutsch. Und was er erzählt, hat die Schule ihm gegeben, er hat’s nur umgemodelt und in seine Anschauungsweise hineingepaßt. Deshalb ist es so schwer, jetzt noch echt masurische Baikys zu sammeln.

Eisfischerei
Eisfischerei

Das Leben der Masuren ist aufs innigste mit Wald und See verknüpft. Das ware nicht weiter wunderbar in einem Landstrich, wo man von jedem Berg gewaltige Seespiegel und weitgestreckte Kiefernwälder sieht, wenn nicht eine unglückselige Entwicklung den Masur von den natürlichen Hilfsquellen seiner Heimat abschnitte und scharenweise in die Ferne triebe. Aber er klagt nicht, er – stiehlt. Das heißt, er nimmt sich, was nach seiner Rechtsanschauung ihm gehört. Er holt sich sein Brennholz aus der Forst, fischt und angelt im See nach Herzenslust und geht ohne Murren, wenn er dabei betroffen wird, seine Strafe absitzen. Eine Geldstrafe bezahlend? Das wäre doch töricht, wenn man zu Haus nur Karloffel und Hering hat und im „Roten Haus“ so gut verpflegt wird …

Dieser Artikel erschien zuerst in Die Woche 48/1903, er war gekennzeichnet mit „Fritz Stowronnek“.

Silvesterbrauch im Masurenland

In Masuren haben sich bis heute seltsame Neujahrsgebräuche erhalten, deren Ursprung sicherlich bis in die heidnische Zeit zurückreicht. Man zieht am Silvesterabend mit den Sinnbildern eines Pferdes und einer Ziege in den weltentlegenen Dörfern von Haus zu Baus, Geschenke einzusammeln, die selbstverständlich mehr oder weniger reichlich ausfallen.

Ein alter Silvesterbrauch im Masurenland. Umzug von Haus zu Haus mit Pferd und Ziege
Ein alter Silvesterbrauch im Masurenland. Umzug von Haus zu Haus mit Pferd und Ziege

Dieser Artikel erschien zuerst in Die Woche 52/1903.