Die Freude des Deutschen Kaisers über den Besuch seines väterlichen Freundes und Verbündeten, des Kaisers Franz Josef, zum 18. Geburtstag, dem Tag der Großjährigkeitserkläurung des Kronprinzen Wilhelm, am 6. Mai, hat in der Reichshauptstadt und im ganzen Deutschen Reich lebhaften Wiederhall gefunden.
Mit der Feinfühligkeit, die der ritterliche Herrscher des Habsburgerreichs schon vielfach bekundete, hat Kaiser Franz Josef den freudigen Anlaß wahrgenommen, um den letzten Besuch Kaiser Wilhelms in Wien an dem Tage schwerster Trauer, da die Leiche der ermordeten Kaiserin Elisabeth in der Kapuzinergruft beigesetzt wurde, zu erwidern. Seit dem Bestand des Bündnisses grüßt Kaiser Franz Josef in Kronprinz Wilhelm das vierte Geschlecht der Hohenzollern.
Wie als Herrscher, so ist Kaiser Franz Josef auch in seinem Privatleben ein ritterlicher Herr. Die schlanke, an der Schwelle des 70. Lebensjahrs noch ungebeugte Gestalt, der gütig freundliche Ausdruck seines Gesichts, das leichte und doch stets so formsichere Auftreten verraten den immer vornehmen Kavalier. Die Bilder, die den Monarchen als Alpenjäger und auf dem letzten Spaziergang mit der Kaiserin Elisabeth in Kissingen zeigen, geben vollkommen diesen Eindruck wieder. Kaiser Franz Josef dankt seine vortreffliche Gesundheit und Rüstigkeit einer von Jugend auf eingehaltenen Regelmäßigkeit der Lebensführung; er ist Frühaufsteher und verläßt im Sommer um fünf, im Winter um sechs Uhr morgens das Bett, um an seinem Schreibtisch die Akten zu erledigen.
Während der freundlichen Jahreszeit, wenn der Kaiser den „séjour“ in Schönbrunn, Gödöllö oder Ischl nimmt, werden die Geschäfte in einer späteren Morgenstunde erledigt, und der Monarch macht vor dem Frühstück in den Parkanlagen der Schlösser oder auf den Promenadenwegen um Ischl seinen Morgenspaziergang, der gewöhnlich eine Stunde dauert.
Bekannt, von Ministern, Generälen und Hofchargen zuweilen auch gefürchtet, ist die Pünktlichkeit des Kaisers; er erscheint da, wo er angesagt ist, auf die Sekunde, und es ist Hauptaufgabe des jeweilig dienstthuenden Adjutanten, dafür zu sorgen, daß auch die Dauer jedes einzelnen Empfangs oder Besuchs nicht um eine Sekunde länger ausgedehnt wird. Bei öffentlichen Anlässen spricht Kaiser Franz Josef niemals in freier Rede. Die Ansprachen an ihn werden in der Kabinettskanzlei geprüft, die Erwiderung nach des Kaisers Anordnung aufgesetzt und so von ihm aus einem Blatt abgelesen, das ihm der Adjutant überreicht. Dann werden die Papiere oder deren Abschriften an die Vertreter der Zeitungen übergeben, so daß Zweifel über den Wortlaut der Reden des Kaisers niemals vorkommen können.
Den Künsten steht Kaiser Franz Josef als fürstlich freigebiger und herzlich teilnehmender Schirmherr gegenüber. Jener wundervolle Flügel der Hofburg gegen den Michaelerplatz zu, den unser Bild zeigt, ist eine der letzten Schöpfungen des Kaisers als Bauherr und wurde, als das alte Burgtheater niedergerissen war, treu nach den Plänen und Skizzen Fischer von Erlachs ausgeführt.
Als Jäger und Reiter war Kaiser Franz Josef ein Meister ersten Ranges. Voch heute ist er ein eleganter, sicherer Reiter, aber er hat seit Jahren schon die Teilnahme an den Parforcejagden in Göding und Gödöllö aufgegeben. In den Jagdrevieren von Mürzsteg in Steiermark und am Offensee bei Ischl jagt der Kaiser noch jetzt auf Gemsen, Hirsche und Rehe, ebenso hat der treffsichere Schütze die Jagd in den Alpen jederzeit gern betrieben. Als Trinker ungemein mäßig, ist Kaiser Franz Josef ein leidenschaftlicher Raucher. Seine Lieblingszigarre war bis vor etwa zehn Jahren die bekannte lange Virginiazigarre, von der er im Lauf eines Tags etwa acht bis zehn Stück rauchte. Die Leibärzte des Monarchen haben indessen gegen die allzu starken Virginiazigarren Einspruch eingelegt, und seither raucht der Kaiser leichtere Zigarren, darunter mit Vorliebe eine für ihn besonders fabrizierte echte Havannasorte.
Unsere Bilder zeigen noch den unverehelichten Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand, den Erzherzog Otto, den nächsten Thronanwärter nach Erzherzog Ferdinand, ferner die Tochter des Kaisers, Erzherzogin Marie Valerie, deren Gatten Erzherzog Franz Salvator und ihre niedlichen vier Kinder, Enkel des Kaisers.
Dieser Artikel erschien zuerst 1900 in Die Woche.