Meteorologie – Der heiße, trockene Sommer 1911

Seit Jahren konnte man, so oft der Sommer ins Land gezogen war, bewegliche Klagen darüber hören, daß es eigentlich gar keine richtigen Sommer mehr gebe. Besonders ältere Leute wußten die Hitze und die unveränderliche Beständigkeit in jenen Sommermonden, da sie noch jung waren, mit leuchtenden Farben zu schildern, und je trübseliger sich den letzten Jahren die kühlen Regenwochen aneinanderreihten, um so prächtiger erschienen ihnen in der Erinnerung die sonndurchglühten Hundstage längst entschwundener Zeitläufte.

In der Tat hatte sich bei unzähligen, sonst keineswegs naturwissenschaftlich ungeschulten Leuten die Vorstellung festgesetzt, daß das Klima Mitteleuropas eine wesentliche Veränderung erlitten haben müsse, und wenn die Meteorologen darauf hinwiesen, daß aus der vergleichenden Wetterstatistik der letzten Jahre auch nicht der geringste Anhalt für diese Anschauung hervorgehe, so wurde über solche, dem Laien ja nicht ohne weiteres nachzuweisende Tatsachen ungläubig der Kopf geschüttelt. Nun liegt nach langer Zeit zum erstenmal wieder ein Sommer hinter uns, der uns mit Warme und Sonnenschein überschüttet hat, der es an Intensität der Hitze, an Beständigkeit und an Trockenheit mit den heißesten Sommern des ganzen vorigen Jahrhunderts aufnehmen konnte.

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Jene Zweifler an unserem Klima werden nun wohl für eine Weile überzeugt sein, daß Europa vorläufig noch keiner neuen Eiszeit entgegengeht, und daß auch in Sachen der Witterung die „gute, alte Zeit“ nicht besser und nicht schlechter war als die gegenwärtige Epoche. Hat es doch zu allen Zeiten außergewöhnlich heiße und ebenso abnorm kühle Sommer gegeben, wenn auch in den letzten Dezennien die heißen Sommer auffallend selten waren. Das ist aber eine Erscheinung, die mit der Unberechenbarkeit des Klimas der gemäßigten Zone unschwer zu erklären und den Meteorologen seit langem bekannt ist. Diese wissen sehr wohl – Beobachtungen, die sich nun schon über fast zwei Jahrhunderte erstrecken, haben das zur Evidenz erwiesen – daß die kühlen sowohl als die warmen Sommer die ausgesprochene Neigung zeigen, gruppenweise aufzutreten. So folgten nach den Untersuchungen von Lehre über das Klima von Berlin, die man getrost auch für ganz Norddeutschland als zutreffend betrachten kann, in den Jahren von 1881 bis 1888 acht kühle Sommer aufeinander (daß die vier Sommer von 1907 bis 1910 sämtlich kühl waren, ist ja noch in aller Erinnerung). Geht man in der Witterungsgeschichte weiter zurück, so findet man, in den Jahren von 1730 bis 1747, gar 18 kühle Sommer, die ohne Unterbrechung aufeinanderfolgten, ebenso wie von 1756 bis 1770 fünfzehn warme Sommer eine ununterbrochene Reihenfolge bildeten.

Unterzieht man die Temperaturverhältnisse der letzten Monate einer kritischen Betrachtung, so waren diese absolut betrachtet, nicht in dem Sinne abnorm, daß neue Hitzerekorde in Deutschland, überhaupt in Mitteleuropa erreicht worden waren. Wohl hat die Temperatur an einer Reihe von deutschen Orten während der verflossenen Hundstage 35 – 37 ½° im Schatten erreicht, aber das ist auch in früheren Jahren schon dagewesen, ja, diese hohen Temperaturwerte sind innerhalb der Grenzen des Deutschen Reiches vor noch nicht allzulanger Zeit, im heißen August des Jahres 1892, schon überschritten worden, und selbst die absolute Maximaltemperatur dieses Sommers, die am 28. Juli 1911 zu Chemnitz mit 40° im Schatten erreicht wurde, stellt noch keinen Rekord dar, da am 18. August 1892 zu Reichenhall das Thermometer sogar bis auf 41 ½° gestiegen war.

Auffälliger und bemerkenswerter, als die immerhin ungemein hohen Maximaltemperaturen des letzten Sommers waren, erscheint neben der langen Dauer der fast vierwöchigen Hitzeperiode der Hundstage die Tendenz zu heiterem, trockenem und daher auch warmem Wetter, die seit dem Beginn des Frühjahrs bereits bestand und die nach kurzen Rückschlägen zu Regen und Kühle immer von neuem zum Durchbruch kam. Diese Tendenz zu trockenem und heißem Hochdruckwetter, die auch nach Beendigung der Haupthitzeperiode noch andauerte, hat sich bis an die Schwelle des Herbstes, tief in den September hinein, erhalten; kamen doch am 8. September zu Frankfurt a. M. und Dresden noch 35°, am 8. zu Aachen und Kleve 34° zur Registrierung, und sogar am 13. brachten es zahlreiche Orte noch auf 30-31° Wärme, eine Temperatur, die während der vier verflossenen kühlen Jahre an manchen Orten während des ganzen Sommers nicht erreicht worden ist. Hand in Hand damit ging eine ungemein große Trockenheit in den meisten Teilen des Landes, ganz besonders im westlichen und mittleren deutschen Binnenland. Zwar bilden die Niederschläge die wechselvollsten und unregelmäßigsten klimatischen Elemente; es dürfte aber, wenngleich sie von Ort zu Ort voneinander verschieden sind, ein Vergleich der diesjährigen Niederschläge in Berlin mit den durch langjährige Beobachtungen gewonnenen dortigen Durchschnittsziffern die außerordentliche Dürre des letzten Halbjahres anschaulich illustrieren. So fiel in den Monaten von April bis Juli nur etwa die Hälfte des normalen Niederschlags; der August brachte nur ein Siebentel der normalen Regenmenge, nämlich 7,6 mm statt 55,2 min, und vom 1. bis 20. September fielen gar nur 3 ½ mm Regen, während der ganze Monat normalerweise 44 mm Niederschlag bringen soll.

Alle diese außergewöhnlichen, in mancher Beziehung beinahe beispiellos zu nennenden Witterungsvorgänge lassen unwillkürlich die Frage nach den treibenden Kräften laut werden, die es vermögen, derartige Erscheinungen hervorzurufen. Denn wenn auch die Frage nach der unmittelbaren Ursache der Hitze und Trockenheit leicht beantwortet werden kann – es ist die andauernde Verlagerung hohen Luftdrucks über Kontinentaleuropa -, so müssen doch erst elementare Kräfte am Werke sein, die in einem bestimmten Sommer die Hochdruckgebiete vorwiegend auf das Festland, in einem anderen wieder auf den Ozean bannen. Denn diese Sommer, in denen sich die Minima meist über dem Kontinent austoben, sind feucht und kühl, während bei kontinentalem Hochdruck die Depressionen über dem Ozean bleiben, so daß es zu Bewölkung und Regen bei uns nicht kommen kann. Noch aber kennen wir jene grundlegenden, treibenden Kräfte, die die großen atmosphärischen Strömungen auf der Erde hervorrufen, nicht ausreichend genug, um eine scharf umrissene Antwort auf die Frage nach der eigentlichen Ursache des heißen Sommers geben zu können. Wir wissen wohl, daß der durch die Erhitzung in den Tropen hervorgerufene gewaltige Luftabstrom vom Äquatorgürtel zu den Polen der Erde den Haupteinfluß auf die Gestaltung des Klimas der beiden gemäßigten Zonen ausübt; wir vermuten auch, daß die Verhältnisse in den höheren atmosphärischen Schichten, die seit einigen Jahren eifrig erforscht werden, von grundlegender Bedeutung für die Witterung sind; doch bisher ist es noch nicht gelungen, Gesetzmäßigkeiten, auf denen sich eine befriedigende Erklärung aufbauen ließe, nachzuweisen. Dazu müßte erst der ganze Erdball mit einem Netz meteorologischer Stationen überzogen, die Sonne, diese Allmutter irdischen Seins, in ihrer Einwirkung auf das Klima aller Breiten weit eingehender, als das bisher möglich war, studiert werden. Noch also antwortet unserer Wißbegierde ein großes Fragezeichen, noch kennen wir die Triebkrafte nicht, die in einem Jahre die Maxima, im anderen Jahre die Minima unablässig über unseren Erdteil walzen, um einmal heiße und trockene, dann wieder kühle und feuchte Sommer hervorzurufen. Was wir bisher mit Bestimmtheit wissen, ist nur, daß sich alle, noch so starken Gegensätze der Witterung im Laufe der Zeit wieder ausgleichen, daß zum Beispiel auch auf Perioden anhaltenden Sonnenscheins andere mit besonders starker Bewölkung folgen. Das hat Hellmann durch sorgfältige Vergleiche nachgewiesen. Ist es auf Grund solcher Untersuchungen doch auch gelungen, Wahrscheinlichkeitsschlüsse zu ziehen aus der Witterung vergangener Jahreszeiten auf das mutmaßliche Wetter im nächstfolgenden meteorologischen Zeitabschnitt. Wenn von solchen Fernprognosen auch durchaus nicht behauptet werden darf, daß sie stets eintreffen, so wohnt ihnen erfahrungsgemäß doch eine mehr oder weniger hohe Wahrscheinlichkeit inne.

Sollen deshalb aus dem vergangenen, sehr warmen und trockenen Sommer auf Grund der erwähnten Untersuchungen Schlüsse auf das Winterhalbjahr 1911/12 gezogen werden, so wird man zu sagen haben, daß nach der langen Zeit vorwiegenden Sonnenscheins nun wieder mit einer Periode starker Bewölkung zu rechnen ist, mit anderen Worten: daß der Herbst rauh und regnerisch werden dürfte. Und da mit hoher Wahrscheinlichkeit auf einen warmen Sommer ein kalter Winter folgt, müssen wir uns immerhin schon jetzt mit dem Gedanken vertraut machen, daß uns nach den beiden letzten, sehr milden Wintern nun wieder Frost und Schnee in stärkerem Maße bevorstehen.

Dieser Artikel erschien zuerst am 25.09.1911 in der Reclams Universum Weltrundschau, er war gekennzeichnet mit „Aeolus“. Der originale Artikel war nicht bebildert, das hier gezeigte Bild ist ein Beispielbild Beispielbild von Petra auf Pixabay.