Neue Frühjahrsmoden

Beitragsbild

Hierzu 5 photographische Aufnahmen von Reutlinger, Paris.
Ist es der ostasiatische Krieg, sind es die passionierenden Zwischenfälle des „Kulturkampfs“, an dem die „wohldenkende“ aristokratische Pariser Gesellschaftsmasse so regen Anteil nimmt, oder gehört Paris als Gesellschaft-und Vergnügungszentrum wirklich der Geschichte an?

Tatsache ist, daß es hier sehr still und ruhig her geht, daß wenig große Empfänge, noch weniger Bälle und sonstige Gesellschaften stattfinden, daß die Geschäftsleute über das Absterben der einst so glänzenden, Pariser Saison wahre Jeremiaden anstimmen, und daß die Zeitungen, deren Spezialität die Aufzeichnung der gesellschaftlichen Ereignisse und der Taten des „High Life“ ist, kaum etwas anderes in den der weltlichen Chronik gewidmeten Spalten bringen als Familienanzeigen und Klagelieder über das Ausscheiden der traditionellen Vergnügungstadt aus dem Reigen elegant-vornehmer Geselligkeit.

Dies ist ein historischer Text, welcher nicht geändert wurde, um seine Authentizität nicht zu gefährden. Bitte beachten Sie, dass z. B. technische, wissenschaftliche oder juristische Aussagen überholt sein können. Farbige Bilder sind i. d. R. Beispielbilder oder nachcolorierte Bilder, welche ursprünglich in schwarz/weiß vorlagen. Bei diesen Bildern kann nicht von einer historisch korrekten Farbechtheit ausgegangen werden. Darüber hinaus gibt der Artikel die Sprache seiner Zeit wieder, unabhängig davon, ob diese heute als politisch oder inhaltlich korrekt eingestuft würde. Lokalgeschichte.de gibt die Texte (zu denen i. d. R. auch die Bildunterschriften gehören) unverändert wieder. Das bedeutet jedoch nicht, dass die darin erklärten Aussagen oder Ausdruckweisen von Lokalgeschichte.de inhaltlich geteilt werden.

Jetzt nun, wo Fastnacht ohne Sang und Klang vorübergegangen ist, und wo die in der Zeit bis Mittfasten und an diesem letzten weltlicher Lust geweihten Tag stattfindenden Vergnügungen ausschließlich fürs Volk geeignet und geplant sind, sucht die elegante Welt mehr denn je Ersatz für die zu Grabe getragene Pariser Saison an der Riviera. Bis weit in die Fastenzeit hinein, solange es dort unten noch nicht zu heiß ist, findet sich hier alles zusammen, was Blasiertheit, Ueberdruß und allgemeine schlechte Laune noch an Heiterkeit übrig gelassen haben. Viele Leute behaupten zwar, es sei mit dem Vergnügen jetzt überhaupt nicht mehr so schön bestellt wie in der guten alten Zeit, als sie jung waren; und die Franzosen, besonders wieder alle die, die sich hier zu der exklusiven Partei jener rechnen, die man die »bien pensants« nennt, sind ganz und gar absprechend gegen das, was die Republik ihren Kindern und ihren Gästen an Amüsement dar bietet: sie beklagen den geistigen Bankrott Frankreichs und werfen dem, was heute unter der Bezeichnung Vergnügen und Geselligkeit auftritt, krasse, platte Torheit, Geistlosigkeit, Vulgarität, Mangel an altem gallischem Esprit, Langweile vor. Inwieweit sie recht haben – und ganz falsch können die, die wie ich Paris schon jahrelang im Abstieg von seiner früher eingenommenen geistig-amüsanten Höhe beobachtet haben, das pessimistische Urteil der Epigonen nicht finden – soll hier nicht erschöpfend untersucht werden.

1. Teekleid aus weissem Mull mit Bolero und schleppendem Rock. Atelier Huet & Chéruit. Phot. Reutlinger
1. Teekleid aus weissem Mull mit Bolero und schleppendem Rock. Atelier Huet & Chéruit. Phot. Reutlinger
2. Mantelmodell aus Chinchilla. Kostüm aus mattgelbem Tuch. Atelier Mar. Phot. Reutlinger
2. Mantelmodell aus Chinchilla. Kostüm aus mattgelbem Tuch. Atelier Mar. Phot. Reutlinger
3. Gesellschaftkleid aus mattrotem Musselin über weißer Seide. Atelier Martial & Armand. - Phot. Reutlinger
3. Gesellschaftkleid aus mattrotem Musselin über weißer Seide. Atelier Martial & Armand. – Phot. Reutlinger

Man kann aber nicht leugnen, daß Paris allwinterlich stiller wird, daß soziales Leben und Geselligkeit immer mehr an die Mittelmeerküste verlegt werden. Wenn dort jedoch die traditionelle, geist- und lustsprühende Lebhaftigkeit früherer Epochen nicht mehr herrscht, so tritt jedenfalls ein wichtiger Faktor internationaler Verkehrseleganz hervor, der sich alljährlich erneuert, verbessert und verteuert, und das ist der Toilettenfaktor. Nicht zu den üppigsten Epochen der so viel des törichten Luxus und der Verschwendung angeklagten zweiten Kaiserzeit ist die Toilette hier luxuriöser, kostspieliger und durch die ihr anhaftende Komplikation der Machart und der Garnierung reicher und mannigfaltiger gewesen als gerade jetzt.

Die Kleiderfrage, die hier niemals, selbst nicht während des „Schreckensjahres“, merklich an Wichtigkeit einbüßte und sich niemals bescheiden hinter andere Interessen zurückzog, ist in den beiden letzten Dekaden des vorigen Jahrhunderts, wohl um sich von dem nach 1870/71 eingetretenen verhältnismäßigen Stillstand zu erholen und sich ausgiebig dafür zu entschädigen, auf ungeahnte Höhen phantastischer Pracht gestiegen; im Jahr der großen Ausstellung erreichte die Modebewegung schon durch das internationale „Frottement das auf dem Riesenweltmarkt stattfand, den Gipfelpunkt erfindungsreicher Schöpfungslust. Wenn sich seither Grundformen und Allgemeinlinien auch wenig veränderten, ist doch Unglaubliches in Schaffung von Zutaten, in Veränderung und Vermehrung von Beiwerk, in immer neuer Fixierung dessen geleistet worden, was neuerdings hochwichtig als „Linie“ bezeichnet wird.

5. Toilette aus weißem Mull mit Handstickerei. Aermellose Schoßjacke aus mattgrünem Seidenmusselin. Atelier Huet und Chéruit. Phot. Reutlinger
5. Toilette aus weißem Mull mit Handstickerei. Aermellose Schoßjacke aus mattgrünem Seidenmusselin. Atelier Huet und Chéruit. Phot. Reutlinger
4. Ballkleid aus hellila Seidengaze mit Gold- und Silberplattchen und schwarzen Chantillyeinsätzen. Aelier Beer. - Phot Reutlinger
4. Ballkleid aus hellila Seidengaze mit Gold- und Silberplattchen und schwarzen Chantillyeinsätzen. Aelier Beer. – Phot Reutlinger

Daß wir heute hier in der Modebewegung nicht stillstehen, und daß dazu sehr Hübsches, Geschmackvolles und wirklich Anmutiges, „Modernes“ im wahren Sinn des Wortes geschaffen wird, das zeigen die uns vorliegenden fünf Abbildungen von Toiletten, die soeben ihre Ateliers an der Seine verlassen haben und dort unten an der blauen, warmen, besonnten Küste verkünden, daß Paris vielleicht langweiliger, jedenfalls aber nicht weniger kompetent und tonangebend für die großen Fragen der Mode geworden ist.

Von den fünf Toiletten, die alle speziell für glückliche, in Nizza weilende Elegante geschaffen wurden und das Neuste des Neuen darstellen, sind drei abendliche Kasinotoiletten. Die Toilette auf Abb. 3, in dem Atelier von Martial und Armand fertiggestellt, ist mustergültig für das Genre und von dem bei geselligen Abendvereinigungen unumgänglich notwendigen Hut begleitet. Hier ist die Coiffure aus feinem, festgeflochtenem schwarzem Roßhaar mit Stutz und weißer Feder geschmückt und dem leicht gewellten Haar kleidsam aufliegend. Die Kasinotoilette ist aus feinstem mattrotem (die neue Johannisbeerfarbe) Seidenmusselin, der Rock fällt in einem äußerst kunstvollen Arrangement aus zahllosen Falten, mit Spitzeneinsatz und dreiteilig eingekraustem Hüftenpiecedment gearbeitet, langschleppig über weiße Seide. Die Spitzenmedaillons der Einsätze wiederholen sich an dem leicht gekrausten, mit halblangen Aermeln versehenen, mäßig dekolletierten Mieder. Einreihige Perlenschnur.

Die Robe in Abb. 5, aus dem bekannten Haus von Huet und Chéruit, besteht aus feinstem weichem weißem Mull, mit wunderschöner Handstickerei um den Rockrand geziert. Die originelle ärmellose Schoßjacke, Louis XV.“ aus mattgrünem Seidenmusselin ist in großem, erhabenem Pompadourmuster (aus Chenille und Goldplättchen) gestickt. Das weiße Mulluntermieder ist mäßig viereckig ausgeschnitten und zeigt weite, leicht fallende Ellbogenärmel.

Auf dem Ballkleid in Abb. 4 aus hellila Seidengaze flimmern Gold- und Silberplättchen in den verschiedensten Figuren. Schwarze Chantillyeinsätze liegen der zarten lila Gaze in Medaillons auf, um die sich irische Gipüre, Stickerei und Spitzenpikots in großen, weitangelegten Mustern ziehen, und lila Seidenband bildet Schleifen mit herabhängenden Enden, Genre Louis’ XVI. Dreiecke aus lila Gaze verhüllen halb den Oberarm.

Die Toilette in Abb. 1, aus weißem Mull, ist ein in einem Stück gearbeitetes Teekleid, eine schon ganz sommerlich anmutende, da unten an der Riviera beliebte robe d`intérieur. Reiche Spitzengarnierung ziert den um die Hüften in schmale Fältchen gelegten und mit Quersäumen versehenen schleppenden Rock und bildet einen kurzen Bolero, dessen epaulettenartige Aermel über lange, mit hohen Bündchen geschlossene Mullpuffen fallen.

Der herannahende Frühling verbannt die Pelze nicht in die Truhen und mottensicheren Aufbewahrungsorte, sondern wirft im Gegenteil neue Modelle der früher als ausschließlich winterlich angesehenen Hüllen auf die Promenaden. Es steht heute fest, daß man das ganze Jahr hindurch Pelze tragen wird, und das auf Abb. 2 sichtbare, sehr hübsche Mantelmodell aus Chinchilla wurde vor kurzem nagelneu und als dernier eri der Frühjahrsmode nach Nizza abgeschickt. Der halblange weite Mantel besteht nur aus den gestreiften Teilen des amerikanischen Wollmausfells, die möglichst regelmäßig in ihrer silbergrauen und schwarzen Abwechslung aneinandergesetzt sind. Epaulettengarnierung aus schweren, grauen Seidenfransen mit breitem, geflochtenem Ansatz. Ebenso starke, silbergraue Seidenpassementerie bildet den Vorderschluß.

Der mit cremefarbenem, weichem, schwerem Atlas gefütterte Mantel öffnet sich über einem Demisaisonkostüm aus mattgelbem Tuch. Hut aus schwarzem Roßhaar mit langer, weißer Straußenfeder, breitem, schwarzem Samtband und großer, silberner Schnalle geziert. Das ganze Kostüm macht einen ebenso einfachen und gediegenen wie vornehmen Eindruck.

Dieser Artikel erschien zuerst in Die Woche 14/1904, er war gekennzeichnet mit „Clementine“.