Mimi Pinson

In der Tanzstunde

Gustave Charpentier, einer der namhaftesten jüngeren Tonsetzer in Paris, der Komponist der auch in Deutschland schon in verschiedenen Städten mit Erfolg aufgeführten Oper „Louise“, ist unlängst dazu geschritten, eine originelle Idee zu verwirklichen: er hat eine Art Konservatorium gegründet, in dem die Pariser Arbeiterinnen in verschiedenen Zweigen der musikalischen Kunst unter seiner eigenen Oberleitung unterwiesen werden sollen.

Für die Schicksale der Pariser Arbeiterin, der „Mimi Pinson“, wie ihr Kollektivname lautet, hat Charpentier schon immer starkes Interesse besessen; er hat dieses Interesse bisher aber nur in künstlerischer Form zum Ausdruck gebracht. Die Titelheldin seiner Oper „Louise“ ist eine Pariser Arbeiterin. Sie stammt aus der engen Mansardenwohnung im fünften Stock und verdient sich ihr Brot in der Nähstube. Im II. Akt der Oper läßt Charpentier uns einen Blick thun in das Leben und Treiben der Mädchen im Schneideratelier, wie sie emsig hantieren mit Nadel und Schere, wie sie schwatzen und lachen, sich ihre Freuden und Leiden erzählen, betrübliche Erlebnisse und lustige Abenteuer schildern wie aber Schwatzen und Lachen verstummt, wie die Füße im Takt sich zu regen beginnen, wenn durch das Fenster die Klänge der Straßenmusik hereintönen.

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Die armseligen Klänge einer Drehorgel, einer Guitarre! Sie schon sind imstande, die fleißigen Hände geschwinder zu bewegen, die Herzen höher schlagen zu machen!

Charpentier kannte die Liebe der „Mimi Pinson“ zur Musik ganz genau, und sein erster Gedanke war daher, einen großen Chor zu gründen, in dem die jungen Mädchen ihre gesanglichen Fähigkeiten pflegen und verfeinern sollten. Er selbst übernahm es, sie dazu anzuleiten. Und wie es scheint, hat Charpentier mit dem Schritt vom künstlerischen Idealismus zum werkthätigen Realismus keine Enttäuschung erlebt. „Als ich euch näher kennen lernte,“ so äußerte er sich unlängst zur Schar seiner Schülerinnen, „wurde aus meiner Bewunderung Verehrung. Während meine Familie sich zerstreut, und während das Schicksal jedes Jahr in mein Lebensbuch ein schmerzliches Kreuz zeichnet, scheint es mir, als sähe ich in euch erwählte Schwestern, deren junge Freundschaft die Gräber verlorener Zuneigung überdeckt. Der Gedanke an euer Glück ist unlösbar geworden von meinen Kunstträumen.“

Im Pariser Koservatorium Mimi Pinson; Gustave Charpentier (X) in der Gesangstunde
Im Pariser Koservatorium Mimi Pinson; Gustave Charpentier (X) in der Gesangstunde

Wie eine Stelle aus einem Roman klingt das, und man würde es auch für eine romanhafte Phrase halten, wenn nicht Charpentiers reale That im Hintergrund stände. Es ist ihm ernst um die Sache. Der Gründung des Gesangchors folgte alsbald die Einrichtung von Kursen für Instrumentalspiel – und zwar ist es die Harfe, nicht das Klavier, die hier bevorzugt wird und für die Tanzkunst. Nicht die konventionelle Grazie der Ballettschülerinnen will Charpentier der „Mimi Pinson“ anerziehen, er will durch den Tanzunterricht jene weiche Geschmeidigkeit, jene Harmonie der Bewegung heranbilden, die selbst das im bescheidensten Gewand einherschreitende Mädchen mit einem Hauch von Anmut umgiebt. In der Tanzstunde sollen gleichzeitig auch die Elemente aus dem Keim entwickelt werden, die für Charpentiers weitere Pläne notwendig sind, für die Gründung und Unterhaltung eines Volkstheaters, eines Theaters von und für Arbeiterinnen.

Harfenunterricht
Harfenunterricht

Neben der Liebe zur Musik ist „Mimi Pinson“ erfüllt von glühendster Schwärmerei für das Theater. Aber ihr geringer Verdienst verbietet ihr die hohen Ausgaben für das theatralische Vergnügen. Charpentier wußte Rat. Er ging zu Direktoren, zu Schriftstellern und bat um Billets für seine Schützlinge; er ging zu den reichen Damen: „Gebt mir! Ich bitte um ein wenig Freude für die kleinen Feen mit den fleißigen Fingern, die euch eure hübschen Kleider, euren kostbaren Putz in emsiger Arbeit anfertigen.“ Und man legte manche Gabe in die Hand des interessanten Mannes und geistvollen Künstlers.

Aber Charpentier fand, daß es damit nicht gethan sei. Die Arbeiterin sollte sich selbst ein Theater schaffen, ein Theater „heiter wie ihr Lachen, sonnig wie ihr Blick, dramatisch wie ihr Schicksal“; das Theater der Arbeiterin, das Theater des Volks, wie es Michelet vorgeschwebt, sollte erstehen als das „Werk der Mimi Pinson“.

In der Tanzstunde
In der Tanzstunde

Mit Begeisterung ging der Künstler ans Werk; Mitte dieses Monats begannen im Saal Pleyel die Uebungen und Proben für das Theater. Natürlich hat es nicht an Skeptikern gefehlt, die das alles mit Mißtrauen ansahen und es für gefahrvoll erachteten, daß die einfache Arbeiterin sich gar zu eifrig dem „Komödiantentum“ widmete. Aber Charpentier ließ sich dadurch nicht beirren. „Der Traum, in den sie die Beschäftigung mit der Kunst versenkt,“ meint er, „wird keine von ihrer bescheidenen Arbeit abziehen. Sie werden nur noch mutiger zur Arbeit werden, denn ihr Herz hat, was es braucht: Poesie und Ideale.“

Möchte der liebenswürdige Künstlerphilanthrop in diesem seinem Glauben nicht getäuscht werden!

Dieser Artikel erschien zuerst in Die Woche 52/1902, er war gekennzeichnet mit „W. K.“.