Ozeanbummler

Wer von Bord eines Schiffs aus den Blick schweifen läßt über die unendliche Fläche, den überkommt unwillkürlich das Gefühl, daß das Meer frei wäre nach allen Richtungen hin, daß der Kiel des Schiffs den glatten Spiegel durchfurchen dürfte unbehindert und unbeengt, gerade wie der Vogel mit seinen Fittichen in unbeschränkter Freiheit die Lüfte teilt.

Dennoch aber belauern den Seemann Gefahren ringsum, er muß seine Straße genau innehalten, und wehe ihm, wenn er, durch Naturereignisse von seinem Kurs abgedrängt, in unbekanntes Fahrwasser gerät. Dann drohen dem Schiff schwere Gefahren, vielleicht der Untergang.

Schwimmender Eisberg

Aber auch die bekannten Fahrstraßen müssen auf dem Meer stets mit großer Vorsicht befahren werden; sie bergen bisweilen Hindernisse, die dem Schiff verhängnisvoll werden und dem Seemann die schwersten Schädigungen bringen können. So wie der Eisenbahnzug durch ein unvorhergesehenes Hindernis entgleisen, wie auf gewöhnlichem Landweg der Wagen umgeworfen werden kann, so entstehen dem Schiffer auf hoher See oftmals Gefahren, die ihn und sein Schiff in eine schlimme Lage bringen können.

Eine Eisgrotte auf Reisen

Denn in den Fluten der See treiben und schwimmen Hemmnisse plan- und ziellos umher, die die befahrenen Seewege kreuzen. Von den Polen her kommen gewaltige Eismassen, die sich losgelöst haben von dem ewigen Eiswall und nun in sausender Fahrt alles zertrümmern und zerstören, was sich ihnen in den Weg stellt. Gegen die Eisberge, die bisweilen tief in den Atlantischen Ozean getrieben werden, sind die größten Dampfer mit ihrem ungeheuerlichen Gewicht und der furchtbaren Stärke immer nur noch Nußschalen, bei einer Kollision würden sie zerschellen, als wären sie aus Glas erbaut. Erfahrene Eismeerfahrer behaupten, daß von einem Eisberg nur ein Siebentel seiner Höhe aus dem Wasser hervorrage, sechs Siebentel befinden sich unter der Wasserlinie. Man kann daraus ungefähr die Wucht eines solchen Kolosses ermessen und ohne weiteres begreifen, daß jedes Gebild der Menschenhand dagegen Spielwerk ist. Dem Schiffer bietet sich in dieser Beziehung nur ein Mittel zur Rettung; vorsichtiges Ausweichen und schnelle Flucht. Die Temperatur des Wassers zeigt die Nähe solcher Eismassen an: man kann sich also auch schon hieraus einen Begriff von dem Umfang schwimmender Eismassen machen. Diese natürlichen Hindernisse sind aber keineswegs die einzigen Gefahren, die die Schiffahrtsstraßen bedrohen.

Ein schwimmender Koloß

Sie sind der Natur der Sache nach selbstverständlich auf einzelne Flächen beschränkt; überall aber auf allen Meeren kann dem Schiffer Verderben drohen, wenn er auf eins jener verlassenen Geisterschiffe stößt, die unter der Bezeichnung „Wracks“ überall umhertreiben.

Wrack auf hoher See

Die Seeschiffahrt hat, seitdem der Dampfer das eigentliche Seeschiff geworden ist, mancherlei von ihrer Romantik eingebüßt. Die alten Schiffermärchen und Seegeschichten, die wir als Kinder noch mit heiliger Andacht lasen, vom fliegenden Holländer und Klabautermann, geraten immer mehr in Vergessenheit: die rasselnde und ratternde Maschine läßt keine Poesie aufkommen, und der wetterharte Mann, der sein Segelschiff steuert, leidet viel zu sehr unter der Not der Zeit, als daß er sich viel um alte Geschichten und Sagen kümmern könnte.

Aber der wilde Orkan und der undurchsichtige Nebel haben trotz aller Erfindungen nichts von ihrer Wut und Gefährlichkeit eingebüßt: alljährlich werden noch viele Schiffskörper zerschlagen, viele Mannschaften müssen ihre Schiffe verlassen, sie finden ein nasses Graben den gepeitschten Fluten – und die entmasteten Schiffe treiben herren- und planlos auf dem Meer umher und bedrohen andere Schiffe mit dem Untergang.

Treibendes Kohlenschiff

Ganz besonders bei bewegter See sind die Wracks dem Seefahrer gefährlich, weil sie dann kaum sichtbar sind, namentlich wenn sie die Masten eingebüßt haben. Bei einem Anprall sind sie fast – einem Felsen gleich zu achten, weil sie den Bug des auffahrenden Schiffes zerschmettern und ein solches Leck verursachen, daß häufig genug Rettung nicht mehr möglich ist, daß also ein Wrack das andere macht. Man kann die treibenden Wracks mit Recht als „Geisterschiffe“ bezeichnen, denn sie richten mehr Schaden an, als es die gespenstischen Nebelgebilde vermochten, die in alten Zeiten von den Schiffern gesehen wurden. Vielleicht waren das aber auch Wracks, die in Sturmesnächten bei zuckenden Blitzen gesichtet wurden, und sie gaben den Anlaß dazu, daß man sich im sicheren Hafen von dem schrecklichen Anblick erzählte, und daß so die Sagen entstanden. Der Aberglaube und die Schwarzseherei waren ja in früheren Tagen viel mehr mit der Schiffahrt verbunden als heutzutage.

Treibendes Frachtschiff

In Amerika hat man berechnet, daß infolge der letzten Stürme ungefähr 150 – 200 Wracks im Atlantischen Ozean treiben und die Fahrstraßen kreuzen. Wegen der Gefährlichkeit der Schiffahrt bei Nacht muß jedes Fahrzeug Lichter führen, deren Bedeutung international vereinbart ist. Es soll hierdurch jede Kollisionsgefahr soweit wie möglich vermieden werden. Gerade aus dem Umstand, daß Wracks in der Dunkelheit natürlich nicht gesichtet werden können, ergibt sich ihre Gefährlichkeit – Zusammenstöße sind also selbst bei größter Aufmerksamkeit nicht zu vermeiden.

Es besteht denn auch die Bestimmung, daß jeder Schiffer, der ein Wrack sichtet, der zuständigen Behörde davon Mitteilung zu machen hat. Man bestimmt dann aus verschiedenen Meldungen die ungefähre Kursrichtung und den mutmaßlichen Aufenthalt des Wracks und trifft Maßregeln, entweder es zu bergen oder zu zerstören.

Sinkender Dampfer

Am unangenehmsten sind Wracks, die mit Holzladungen treiben, die also fast niemals sinken. So wurde einmal ein Wrack mit Holzladung von einem Kriegsschiff gerammt und tatsächlich in zwei Hälften zerschnitten, die beide nicht sanken, sondern erst nach längerer Zeit strandeten. Es ist überhaupt merkwürdig, wie lange manche Wracks treiben, bevor man ihrer habhaft wird. Der amerikanische Schoner Wyer G. Sergent trieb 615 Tage und legte in dieser Zeit 5500 Seemeilen zurück. Ein anderes Schiff wurde am 31. Dezember 1891 von seiner Bemannung verlassen und wurde am 9. April 1892 zerstört. In diesem Zeitraum war es mit elf andern Schiffen zusammengestoßen, es hatte alle Masten verloren, der Rumpf war mit Wasser gefüllt, so daß das Schiff nur vier Fuß aus den Wasser heraussah. Am längsten hat ein amerikanischer Schoner „Fanny E. Walston“ getrieben. Er wurde am 14. Oktober 1901 von der Mannschaft verlassen und am 20. Februar 1904 zerstört. Manchmal werden die Schiffe auch vorzeitig von der Mannschaft aufgegeben. So fand man im Mittelmeer die Bark „Marie Celeste“, die alle Segel beigesetzt hatte, und deren Takelage vollkommen in Ordnung war, während von der Mannschaft niemals eine Spur entdeckt wurde. Soweit Wracks nicht geborgen werdenden können, müssen sie zerstört werden. Viele Staaten haben zum Aufsuchen und Zerstören der Wracks eigene Schiffe, die mit den nötigen Sprengvorrichtungen versehen sind. Gewöhnlich werden Torpedos mit 60 Pfund Dynamit verwendet.

Die Zerstörung gestaltet sich einigermaßen schwierig wenn ein Wrack kieloben treibt. Es muß dann erst von der Mannschaft erstiegen, auch müssen entsprechende Oeffnungen geschlagen werden, damit man das Dynamit in richtiger Weise anbringen kann.

Dieser Artikel erschien zuerst 1905 in Die Woche.