Rettung aus Lebensgefahr auf See

Von Kapitän zur See a. D. von Pustau. Jedermann, der eine Seereise gemacht hat, weiß, wie sich unter den an Bord eines Fahrzeugs Eingeschifften eine Art von Kameradschaft herausbildet.

Es ist zunächst die sonst nirgendwo in gleichem Umfang vorhandene Gleichartigkeit der Lebensweise und der äußeren Umgebung, die die Passagiere der ersten oder der zweiten Kajüte, die Zwischendecker, die Heizer usw. so rasch zusammenführt, zunächst also einen klassenweisen Zusammenschluß hervorruft. Darüber hinaus aber gibt es ein einigendes Element, das keine Klassenunterschiede anerkennt und den Kreis der Gemeinschaft auf alle an Bord eines Schiffes befindlichen Personen erweitert: das ist das Bewußtsein der gemeinsamen Gefahr. Wenn der tosende Sturm das Fahrzeug zum Spielball der riesigen Wellen macht oder im dichten Nebel von rechts und von links her die Sirenen der entgegenkommenden oder den Kurs kreuzenden Dampfer unheimliche Antwort auf die eigenen Warnungssignale erteilen, dann erfüllt den millionenreichen Mieter der Staatskabinen nicht geringere Besorgnis als den armen Auswanderer aus dem Zwischendeck, und beide blicken mit der gleichen Spannung auf den letzten Seemann an Bord, um aus dessen Mienen Beruhigung zu schöpfen oder die Größe der drohenden Gefahr herauszulesen. In gleicher Weise macht sich auch das Gemeinsamkeitsgefuhl aller geltend, wenn es sich nur um das Schicksal eines einzelnen handelt und der Ruf ertönt „Mann über Bord“. Da eilt sofort alles an Deck und Drängt sich an der Reling; voll angstvollen Mitgefühls wird hier jedermann gewahr, ein wie winziges, unbedeutendes und hilfloses Geschöpf der einzelne Mensch gegenüber der Unermeßlichkeit des grenzenlosen Ozeans ist, und auch Leute, die sich sonst um ihre Mitmenschen nicht einen Pfifferling zu kümmern gewohnt sind, fühlen sich jetzt heißen Wunsch erfüllt, daß der Unglückliche gerettet werden möchte. Heute, wo die Dampfschiffe der Zahl nach bei weitem überwiegen, kommt es glücklicherweise sehr viel seltener vor, daß Leute über Bord fallen, als in der Segelschiffsperiode. Trotzdem aber gehört es mit zu den ersten Pflichten eines Schiffsführers, alle Maßnahmen auf das sorgfältigste vorzubereiten, die beim Eintreten eines solchen Unglücksfalls erforderlich werden können.

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Ueberall auf Oberdeck müssen die bekannten rot oder weißgestrichenen Korkrettungsbojen so aufgehängt sein, daß sie in jedem Augenblick abgenommen werden können.

Hüten muß man sich beim Nachwerfen dieser Rettungsboje nur davor, daß man den über Bord Gefallenen nicht direkt damit auf den Kopf trifft, was schon öfter vorgekommen ist. Um bei Nacht für den Verunglückten die Boje und zugleich für das Schiff den Ort des Unglücksfalls kenntlich zu machen, befindet sich auf jedem größeren Fahrzeug am Heck die Nachtrettungsboje, d. h. ein Bojenapparat, der mit Phosphorkalzium oder einer ähnlichen im Wasser brennenden Masse gefüllt, nach dem Fallenlassen wenigstens eine halbe Stunde oder noch länger eine weithin über die Wellen leuchtende Flamme zeigt (Abb. nebenstehend).

Brennende Nachrettungsboje

Sobald der Ruf erschallt „Mann über Bord“, stellt der wachthabende Offizier auf der Brücke die Maschinentelegraphen sofort auf „äußerste Kraft zurück“ oder bringt beim Segelschiff durch Anluven in den Wind die Fahrt aus dem Schiff und läßt die Rettungsboote klar machen.

Dieses letztere Manöver erfordert die allergrößte Aufmerksamkeit, wenn es schnell und sicher ausgeführt werden soll. Wenn nämlich das Schiff noch Fahrt voraus macht und der vordere der beiden Flaschenzüge (Taljen), in denen das Seitenboot hängt, vor dem hinteren losgeworfen wird, so drängt das an der Schiffsseite entlangfließende Wasser den Bug des Kutters ab, und da dessen Heck festgehalten wird, so schlägt das Boot quer, und oft genug ist es vorgekommen, daß es in dieser Lage gekentert ist. Speziell in der Kriegsmarine gehört deshalb das Manöver „Mann über Bord“ zu den häufigst geübten Exerzitien (Abb.), das die Aufmerksamkeit des wachthabenden Offiziers und die Fixigkeit und Tüchtigkeit des seemännischen Personals in hervorragendem Maß erkennen läßt. In der Flotte gibt öfters der Admiral einen nur den Kommandanten bekanntgegebenen Befehl aus, daß jeder zu einer genau bestimmten Uhrzeit eine Boje über Bord wirft, ohne dem Wachtpersonal vorher davon Bescheid zu sagen. Es gewährt dann einen hochinteressanten Anblick, wenn auf allen Schiffen zugleich der Warnschuß abgefeuert wird und der weiße Wimpel mit dem roten Kreuz hochgeht, während die krausen, weißen Wasserwirbel am Heck der Schiffe künden, daß die mächtigen Schrauben mit aller Kraft zurückarbeiten. Die Kutter, mit Mannschaften voll besetzt, werden dicht über das Wasser gefiert und im geeigneten Moment losgeworfen. Mit roten, grünen und weißen Winkflaggen zeigen die Ausguckleute in den Marsen den Bootssteurern an, in welcher Richtung die Boje vor ihnen liegt. Keine zwei Minuten dauert es, da heißt das erste Schiff das Signal: „Boje ist gefischt!“ und noch einige Minuten später, so sind sämtliche Boote wieder geheißt, und das Geschwader setzt seinen Kurs mit der alten Geschwindigkeit fort. Der steten Wiederholung solcher nützlicher Uebungen ist es zu verdanken, daß auch im Ernstfall Verluste an Menschenleben infolge von über Bord Fallen verhältnismäßig selten sind.

Glückliche Rettung – Außer Gefahr

Aber oft genug kommt es auch heute noch vor, bei Tage sowohl wie bei Nacht, daß die Rettungsboote nach stundenlangem Suchen an der Unglücksstelle unverrichteter Sache an Bord zurückkehren müssen. Eine knappe Eintragung in das Logbuch und eine kurze Andacht am nächsten Morgen, bei der es heißt: „Der Verunglückte starb den Tod eines wackeren Seemanns“.

Dann tritt nach diesem eindrucksvollen „Memento mori“ alles allmählich wieder in seine alten Gleise auf dem Schiff, das die Ueberlebenden mit ihren Wünschen und Hoffnungen weiterführt über die schimmernden Weiten des mächtigen Ozeans.

Dieser Artikel erschien zuerst 1905 in Die Woche.