Ueber die Grundlagen der Flugtechnik

(Nach dem Vortrage des Hrn. Ing. Lilienthal im Architekten-Verein zu Berlin). Es giebt wohl kaum einen Menschen, der nicht hin und wieder über den Flug der Vögel nachgedacht hat und von dem Wunsche beseelt worden ist, es möge auch dem Menschen gelingen, die Luft frei wie der Vogel nach allen Richtungen hin zu durchmessen.

Bei näherer Betrachtung findet man nun, dass alle fliegenden Lebewesen sich schlagender Flügel bedienen, um sich in die Lüfte zu erheben. Es ist daher Aufgabe der Wissenschaft, eine richtige Erklärung des natürlichen Fluges zu geben, während es der Technik zufällt, Apparate zu konstruiren, die entweder die Wirkungen des natürlichen Fluges für die Menschen nutzbar nachbilden, oder auf eine andere Art mittels dynamischer Wirkungen eine Erhebung in die Luft erzielen. Diese Erkenntniss und die daraus sich ergebenden Aufgaben sind immer stärker in den Vordergrund getreten, je mehr man sich davon überzeugte, dass die Bewegung des Luftballons gegen den Wind unmöglich sei.

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Zur Lösung dieser Aufgaben hat uns aber die Wissenschaft recht lange im Stich gelassen; lange Zeit war es unmöglich, eine Erklärung der natürlichen Flugwirkungen zu geben. Die angestellten Rechnungen ergaben, dass die Vögel eigentlich gar nicht fliegen können, dass ihre Flügelschläge keineswegs ausreichend sind, den Körper durch Erzeugung von Luftwiderständen zu tragen. Der Fehler bei diesen Berechnungen lag an einer Kleinigkeit. Bis in die neueste Zeit ist nämlich angenommen worden, dass die Flügel ebene Flächen darstellen und demgemäss hatte man auch die Luftwiderstände ebener Flächen in Rechnung gestellt, trotzdem man wusste, dass die Vogelflügel nicht ganz eben sind, sondern ein etwas gekrümmtes, nach unten konkaves Profil besitzen; in der Rechnung vernachlässigte man jedoch diese schwache Wölbung als zu unwesentlich und rechnete immer nur mit den Luftwiderständen ebener Flächen. Die Folge war, dass sich keinerlei Uebereinstimmung zwischen den Ergebnissen der Rechnung und der Wirklichkeit erzielen liess.

Beispielbild, Otto Lilienthal, Quelle archive.org. Beschriftung: SI Neg. 2002-15561. Date: na…Left side view of Otto Lilienthal in flight in his 1894 glider; a small group of spectators watches from below, at base of hill…Credit: Unknown (Smithsonian Institution)

So ergab sich z. B., dass die Krähe in der Sekunde eigentlich 8mal mit den Flügeln schlagen müsse, um sich in der Luft zu halten, während sie thatsächlich nur zwei Flügelschläge ausführt. Der Storch musste nach der alten Rechnung die Luft mit seinen Flügeln förmlich peitschen und dabei eine volle Pferdekraft aufwenden, um nicht herabzusinken.

Statt dessen sehen wir den Storch seine Flügel nicht nur ganz langsam auf- und niederbewegen, sondern er und mit ihm viele andere Vögel verstehen es, ohne Flügelschlag und daher auch ohne wesentliche Arbeitsleistung in der Luft dauernd dahinzuschweben, nicht nur ohne zu sinken, sondern in schönen Windungen sogar höher und höher aufzusteigen. Unter solchen Umständen liessen sich diese Widersprüche nur entwirren, wenn man die Fundamental-Annahmen der Berechnungen vollständig umstiess und eine ganz neue Grundlage für die Berechnung zu gewinnen suchte, indem man thatsächlich die an und für sich schwache Flügelwölbung dennoch in die Rechnung einführte. So erhielt man in der That eine Grundlage, durch die sich alle Erscheinungen des natürlichen Fluges in befriedigender Weise erklären liessen. Zahlreiche Versuche haben erwiesen, dass diese unscheinbare Wölbung des Flügel-Querschnittes die beim Fluge zu leistende Arbeit auf einen geringen Bruchtheil der früher berechneten herabdrückt, besonders beim schnellen Fluge, wenn gleichzeitig die Flügel von der Luft nur unter einem spitzen Winkel (6-8 Grad) getroffen werden. Aber auch das Fliegen ohne Flügelschlag, das Schweben und Kreisen der Vögel (Segelflug) lässt sich aufgrund der Eigenschaften gekrümmter Flügel erklären.

Seitdem der Redner die durch praktische Versuche ermittelten Luftwiderstände gewölbter Flügel veröffentlicht hat, hat sich der grössere Theil der auf diesem Gebiete thätigen Forscher zur Anwendung gewölbter Flügel bekannt. Seit etwa 5 Jahren verwenden die Konstrukteure von Flugmaschinen immer häufiger gekrümmte Flügelprofile.

Die Wege jedoch, die eingeschlagen wurden, um diese Prinzipien durch mechanische Vorrichtungen zum wirklichen Fluge zu verwerthen, sind verschieden, Selbstverständlich muss die gewölbte Fläche als mechanisches Element beim Bau von Flugmaschinen möglichst rationell verwendet werden, aber über die beste Anwendung dieses wichtigsten flugtechnischen Elementes sind die Ansichten der Konstrukteure noch getheilt.

Der eine will diese Flächen als Schraubenflügel verwerthen, der andere will sie schaufelradartig benutzen. Ein dritter will die gewölbte Tragefläche geradlinig und wagrecht durch die Luft treiben, um die Wirkung eines Papierdrachens zu erhalten. Nach diesen 3 Methoden wird zumeist das Flugproblem zu lösen versucht; die gewölbte Fläche wird durchweg insofern richtig verwendet, als sie unter spitzem Winkel die Luft durchschneidet, dies aber nur so lange, als die Trageflächen sich in ruhiger oder gleichmässig bewegter Luft bewegen. Dies ist aber bei allen 3 Methoden nicht der Fall. Bei den Schrauben und Rädern, welche nothgedrungen schnell rotiren müssen, findet ein starkes Aufwühlen der umgebenden Luftmassen statt, was bedeutende Verluste in den zu erzielenden Wirkungen zurfolge hat.

Keine der 3 Methoden sehen wir von den fliegenden Thieren verwendet; vielmehr bedienen sie sich einer Methode, welche die denkbar vollkommenste Ausnutzung der gewölbten Flügelfläche zulässt. Ein mit Flügelschlägen vorwärts fliegender Vogel beschreibt mit seinen einzelnen Flügeltheilen Wege in der Luft, die die Ausnutzung der Hebewirkung gestatten, Die Flügeltheile beschreiben schlanke auf- und niedergehende Wellenlinien und schmiegen sich durch geringe Verdrehung diesen Luftwegen so an, dass sowohl beim Niederschlag als auch beim Flügalaufschlag hebende Luftdrucke aufgefangen werden, während gleichzeitig die Fluggeschwindigkeit unterhalten wird.

Letzteres geschieht dadurch, dass beim Niederschlag die Vorderkante der Flügelspitzen sich senkt, wodurch der Flügelquerschnitt eine nach vorn geneigte Stellung erhält und der entstehende Luftdruck nicht nur tragend, sondern vortreibend wirkt. Vor allen Dingen aber durchschneidet der Flügel des Vogels stets das umgebende Medium an einer neuen Stelle und nützt dadurch die Tragewirkung der Luft in vollkommenster Weise aus. Diese Eigenschaften ihrer sanft gekrümmten Flügel setzen die Vögel in den Stand, bei Aufbietung sehr geringer Arbeitsleistungen mit grosser Ausdauer zu fliegen.

Das Prinzip des Vogelfluges stellt also diejenige Fliegmethode dar, welche den geringsten Kraftverbrauch erfordert; eine Hauptbedingung ist dabei aber zu erfüllen: Die Fluggeschwindigkeit muss eine grosse sein, damit die günstigen Hebewirkungen sich einstellen. Dies gilt besonders von den grösseren und schwereren Vögeln, welche verhältnissmässig kleine Flügelflächen zu ihrem grossen Gewichte besitzen. Es gelingt diesen Vögeln daher auch nicht, in ruhiger Luft sich senkrecht zu erheben. Sie müssen vielmehr einen Anlauf, am besten gegen den Wind gerichtet, nehmen, um erst einmal in die Luft hinein zu kommen. Einige Vögel vermögen sich sogar nur dadurch in die Luft frei hinein zu bewegen, dass sie sich von Abhängen herabstürzen. Der Mensch nun ist vielmal schwerer, als die grössten fliegenden Vögel; er wird also noch mehr mit den Schwierigkeiten des ersten Auffluges zu kämpfen haben; die Erfindung des Fliegens wird dadurch nicht erleichtert.

Um aber das Fliegen zu studiren, müssen wir zunächst eben in die Luft hinein. Angenommen also, es wäre dem Menschen gelungen, mit einem dem der Vögel nachgebildeten Flugapparate etwa durch einen Absturz von der Höhe frei in der Luft zu schweben und in schnellem Fluge durch die Luft dahin zu schiessen, wer bürgt dafür, dass die Stabilität gewahrt bleibt, dass sich unser Fahrzeug nicht gegen die Erde richtet, an derselben zerschellt und uns den Tod bringt? Steuerapparate können vielleicht helfen, aber wer hat solche schon jemals dirigirt? Auf dem Wasser handelt es sich nur um ein rechts und links, in der Luft aber auch um ein oben und unten. Gesetzt nun, auch dies sei gelernt, so kommt nun der eigentlich kritische Punkt, wenn es gilt, den Flug zu beenden, also die Landung. Dabei wollen wir weder Schaden nehmen, noch soll der Apparat zerstört werden. Auf drei Dinge kommt es mithin an: Das erste Freiwerden von der Erde, die Aufrechterhaltung der Stabilität in der Luft während des Fluges und das gefahrlose Landen. Alles dies lässt sich nur durch viele Uebung, zähe Ausdauer und durch allmähliches Vorschreiten erlernen. Eine eigenartige Aufgabe, wenn man bedenkt, dass man das Fliegen nur lernen kann, wenn man es übt, dass man aber das Fliegen ohne den Hals zu brechen nur üben kann, wenn man es schon versteht. Aus diesen Gründen ist die Flugfrage auch bis heute noch nicht gelöst. Will man der Lösung des Problems dennoch näher kommen, so muss man zunächst eine erschöpfende Definition des Fliegebegriffs aufstellen. Fliegen heisst aber dreierlei:

1. sich mit einem Flugapparat nach Art des der Vögel vom Boden in die Luft erheben,

2. sich von einer Bergspitze zu einer anderen ebenso hoch gelegenen durch die Luft hinüber bewegen und

3. sich von der Spitze eines Hügels ins Thal durch die Luft herablassen.

Die beiden ersten Aufgaben können wir nicht so ohne weiteres lösen; das dritte aber können wir und indem wir dieses üben, lernen wir auch schliesslich die beiden anderen Arten, das wagrechte und das ansteigende Fliegen.

Selbstverständlich wird man die Vorsicht zu gebrauchen haben, sich nicht gleich von bedeutenden Höhen herabzustürzen; ferner empfiehlt es sich, die Apparate so einfach wie möglich zu wählen und zunächst auf jeden Bewegungs-Mechanismus zu verzichten. Daraus entsteht dann naturgemäss der schräg abwärts gerichtete Segelflug als diejenige Bewegung in der Luft, mit der die praktischen Uebungen beginnen müssen. Beobachtet man die Vögel, so bemerkt man, dass diese solche Flüge sehr häufig ausführen.

Ist die Absprungstelle hoch genug, so lassen sich auf diese Weise ziemlich weite Strecken in der Luft zurücklegen, wobei Gelegenheit geboten ist, Studien über das Abfliegen, über die Stabilität des Fluges und über das zweckmässige Landen zu machen. Ist man frei in die Luft hineingekommen, so kann man nach zwei Richtungen hin den Flug vervollkommnen, indem man seine Studien auf die Wirkungen des Windes ausdehnt, um dessen Tragfähigkeit nach Möglichkeit auszunützen; man wird versuchen, den dauernden Schwebeflug der Vögel nachzuahmen. Ferner wird man, nachdem man im Fluge mit unbeweglichen Flügeln sicher geworden ist, zu der Bewegung der Flügel übergehen und hat die beste Gelegenheit, die Wirkung von Flügelschlägen zu studiren. Wenn man dann genügende Erfahrung gesammelt haben wird und sich mit einer geeigneten motorischen Kraft ausgerüstet hat, muss es gelingen, den zunächst schräg abwärts gerichteten Flug immer mehr der Wagrechten zu nähern und dadurch das wirkliche Fliegen vollends auszubilden.

Redner schilderte nun den von ihm konstruirten und benutzten Flügelapparat, der zur Ansicht aufgestellt war. Jeder Flügel besitzt etwa eine Länge von 5 m und eine grösste Höhe von 1,5-2 m und besteht aus einem Gerippe aus starken Weidenruthen, welches mit Shirting bespannt ist. Die Krümmung wird durch zwei entsprechend ausgeschnittene Querhölzer gewahrt. Das Gewicht des Apparates beträgt rd. 20 kg. Ausserdem gab der Redner noch verschiedene Moment-Photographien herum, welche ihn in den verschiedensten Flugstellungen sehen lassen.

Zum Schluss betonte Hr. Lilienthal ganz besonders, man möge die von ihm bis jetzt erzielten Erfolge nicht für mehr nehmen, als sie in Wirklichkeit seien. Die von ihm geübten Segelflüge bedeuten für den Menschen nichts weiter, als die ersten Gehversuche für das Kind; der betretene Weg scheine aber der richtige zu sein. Zurzeit ist Hr. Lilienthal damit beschäftigt, Flügel zu konstruiren, mit denen sich auch Schlagbewegungen ausführen lassen.

An den mit grossem Beifall aufgenommenen Vortrag knüpfte sich noch eine kurze Besprechung, wobei der Wunsch laut wurde, es möge den Mitgliedern des Vereins die Gelegenheit geboten werden, Hrn. Lilienthal beim Fliegen zu beobachten, wozu sich dieser gern bereit erklärte. In Rücksicht auf die vorgeschrittene Jahreszeit wird ein Ausflug nach Lichterfelde indessen auf das Frühjahr verschoben.

Dieser Artikel erschien zuerst am 17.11.1894 in der Deutsche Bauzeitung. Er war gekennzeichnet mit “Pbg.”. Der Originalartikel ist nicht bebildert. Das Bild ist ein Beispielbild, welches von archive.org übernommen wurde.