Unsere Handelskapitäne

1905, von Kapitän zur See a. D. von Pustau. In den letzten Jahrzehnten hat unsere Handelsmarine sich in einer geradezu staunenswerten Weise entwickelt. Nach der Gesamtanzahl und dem Tonnengehalt der Schiffe folgt sie zwar erst in weiten Abstand hinter der englischen Handelsflotte, aber wir können uns rühmen, in der mächtig vorwärtsstrebenden Hamburg-Amerika-Linie und dem Norddeutschen Lloyd die stärksten und leistungsfähigsten Reedereien der ganzen Welt und außerdem bei weitem die größte Anzahl der schnellsten, in jeder Beziehung den allerhöchsten Anforderungen entsprechenden Ozeanriesen zu besitzen.

Wenn wir heute auf bestimmten Hauptrouten zur See, insbesondere auf der Fahrt von und nach Neuyork und Ostasien, die Führung genommen haben, so verdanken wir das in erster Linie der genialen Tatkraft und der geschäftskundigen Umsicht der Leiter, die an der Spitze unserer Schiffahrtsgesellschaften stehen, sowie zum Teil der hohen Leistungsfähigkeit der deutschen Bauwerften. Daß wir aber so weit gekommen sind, daß die erfahrenen Reisenden, ja öfters selbst englische Gouverneure und deren hohe auswärtige Beamte die Fahrt auf den prächtigen deutschen Schiffen der unter jeder andern Flagge vorziehen, ist ein besonderes Verdienst, das wir nicht zum geringsten Teil unseren trefflichen Kapitänen zuzuschreiben haben, die, was Berufskenntnisse, Pflichttreue und absolute Zuverlässigkeit angeht, von niemand übertroffen, in bezug auf die verständige, liebenswürdige und aufmerksame Behandlung der Passagiere aber von seinem ihrer ausländischen Berufskollegen auch nur annähernd erreicht werden.

Im Kartenhaus

Schon ihre äußere Erscheinung, die kräftigen gedrungenen Gestalten, der energische Ausdruck ihrer wettergebräunten Gesichter, die ruhige Sicherheit und Gemessenheit des Auftretens sind meistens geeignet, Respekt und Zutrauen einzuflößen.

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Und beides, Respekt und Vertrauen, brauchen sie unbedingt, wenn sie der außerordentlichen Verantwortung voll gerecht werden wollen, die ihr ernster und schwieriger Beruf mit sich bringt. Einem Donnerwetter des „Alten“ an Bord setzt sich vom jüngsten Schiffsjungen bis zur ältesten Stewardeß niemand von der Besatzung gern aus; besitzt er doch nach den gesetzlichen Bestimmungen eine fast unbeschränkte Disziplinargewalt über sie zur Aufrechterhaltung der unbedingten Ordnung auf dem Schiff, und von seinem Zeugnis hängt das weitere Avancement der Schiffsoffiziere ganz wesentlich ab.

Der Vorsitz an der Kajüttafel

Der Kapitän trägt die Verantwortung für so ziemlich alles, was an Bord passieren kann; und wenn auch selbstverständlich für jeden einzelnen Dienstzweig, die Verwaltung des Materials, des Inventars und Proviants, den inneren Sicherheits- und Sanitätsdienst für das Einnehmen und Löschen der Ladung, für das Postwesen u. dgl. m., besondere Aufsichtsorgane mit ihren Untergebenen abgeteilt sind, so ist es doch der Kapitän, der seine Augen überall haben, überall die Oberaufsicht ausüben muß, denn ihm wird es schließlich bestimmt in die Schuhe geschoben, wenn einmal nicht alles so tadellos wie gewöhnlich klappen sollte. Wichtiger als jede andere seiner Pflichten ist indessen die sichere Navigierung des Schiffes über See, in der ihn meistens der erste Offizier speziell zu unterstützen hat. Schon vor Beginn der Reise muß die Abweichung des Kompasses auf den verschiedenen Kursen von der magnetischen Nord-Süd-Linie festgestellt und während der weiteren Fahrt nach Peilungen der Himmelsgestirne dauernd kontrolliert werden (vergl. Abb. S. 1052).

Land voraus in Sicht

Der Schiffsort wird in der Nähe der Küste, wo der Kapitän bestimmungsgemäß stets selbst auf der Brücke sein soll, nach den sichtbaren Landobjekten, Leuchttürmen, Feuerschiffen, Bojen usw. bestimmt; auf hoher See dagegen ergibt er sich lediglich aus den Beobachtungen der Gestirne, und ein besonders wichtiger Moment ist die Zeit, wo die Schiffsoffiziere mit den Sextanten Aufstellung nehmen, um die Mittagshöhe der Sonne zu messen oder, wie man sagt, sie “zu schießen”, weil die Fernrohre der Meßinstrumente hierbei mit jener Genauigkeit auf die Sonne und den Horizont einvisiert werden, als ob man sie faktisch zur Strecke bringen wollte (siehe Abb. S. 1032).

Schießen der Sonne zur Bestimmung der Mittagsbreite

Aus dem gemessenen Höhenstand der Sonne ergibt sich die geographische Breite des Schiffsorts, dann braucht nur noch die geographische Länge entsprechend reduziert zu werden, die meistens schon in den Vormittagsstunden durch eine andere Observation ermittelt wurde, und kaum eine Viertelstunde nach 12 Uhr ist auf besonderen Tafeln “das Besteck” abzulesen, d. h. der heutige und der gestrige Schiffsort und die im Lauf der 24 Stunden zurückgelegte Distanz oder, wie der seemännische Ausdruck lautet, „das Etmal”. Da dies trotz des gleich bleibenden Ganges der Maschine fast jeden Tag verschieden groß ist, je nachdem man nämlich den Strom mit oder gegen oder gar keinen Strom hatte, ist es ein beliebter Sport der Passagiere, vormittags auf die Größe des Etmals zu wetten. Im Kartenzimmer, das im allgemeinen von dem gewöhnlichen Sterblichen nie betreten werden darf, ruht auch das Schiffsjournal oder Logbuch (Abb. S. 1032), das eine höchst wichtige Urkunde darstellt, und dessen vorschriftsmäßige Führung der Kapitän persönlich zu überwachen hat.

Prüfung des Schiffslogbuchs

Alle Eintragungen sind richtig, sicher steuert das Schiff seinen Kurs unter der Obhut des wachhabenden Offiziers auf der Brücke: nun ist die Zeit gekommen, sich um das Wohl und Wehe der Passagiere zu kümmern. Auf dem Rundgang, den der Kapitän zusammen mit dem Arzt jeden Tag durch sämtliche Räume machen muß, hat jeder einzelne Passagier das Recht, seine Wünsche oder Beschwerden vorzutragen. Er kann sicher sein daß diesen entweder sofort Rechnung getragen wird, oder daß er, wenn sie unerfüllbar oder unberechtigt sind, in liebenswürdigster und sachlicher Form die nötige Aufklärung erhalten wird.

Kompassregulierung

Ganz besondere Aufmerksamkeit und Sorgfalt haben die alleinreisenden Passagiere des weiblichen Geschlechts zu gewärtigen. Mit Argusaugen lässt der Kapitän darüber wachen, daß sie von niemaund in irgendeiner Weise belästigt werden, wie eine Art höchst feuergefährlicher Ladung werden sie mit allerlei – Extravorsichtmaßnahmen umgeben, ja es soll schon manche unter diesen Frauen und Jungfrauen recht herbe Enttäuschung darüber empfunden haben, wie schwer es ihnen unter Umständen gemacht wurde, auf der Reise zu einem ernstlichen und herzstärkenden Flirt zu gelangen.

Derartige Klagen kommen bei den Kindern gottlob nicht vor, im Gegenteil ist der Kapitän für sie fast ausnahmslos der Gegenstand zuerst der scheuen, furchtsamen Verehrung und später der Zärtlichsten Liebe.

In der Tat ist es ganz erstaunlich, wie schnell und mit wie einfachen Mitteln die alten wetterfesten Seebären sich das unbegrenzte Zutrauen und die Sympathie der kleinen, ihrer Obhut anvertrauten Geschöpfe zu erringen wissen.

Ein guter Familienvater

Man sieht es ihnen auf unserm Bild Seite 1034 an, wie sie und nicht minder ihre Mütter vor Freude darüber strahlen, daß sie mit ihrem geliebten Kapitän zusammen auf dem Bild vereinigt werden sollen.

Der Kapitän probiert das Essen der Zwischendecker

Vom Essen der Zwischendecker erhält der Kapitän täglich eine Kostprobe, das Essen der Kajütpassagiere aber unterzieht er einer erheblich gründlicheren Probe, insofern al an den Mahlzeiten dort, soweit nicht dienstlich verhindert ist, regelmäßig teilnimmt (Abb. obenst.)

Der Kapitän wiegt seine Passagiere

Kein Wunder, daß unsere Schiffsführer dabei meistens zu einer sehr ansehnlichen Rundung und Fülle des Körpers gelangen, denn wohl nirgends in der Welt wird so luxuriös und reichlich gespeist wie auf unsern Passagierdampfern, und beim Wiegen der Passagiere, einem Sport, dem sich viele unter ihnen mit großer Leidenschaft hinzugeben pflegen – sind auf längere Fahrten manchmal Gewichtszunahmen zu konstatieren, die eine sofortige Fortsetzung der Reise von Hamburg oder Bremen direkt nach Karlsbad oder einem ander der Entfettung dienenden Badeort dringend ratsam erscheinen lassen.

Mit dem Lotsen beim Ansteuern des Hafens

“Land in Sicht!” läßt der Wachhabende von der Brücke melden (Abb. S. 1035), und schon eilt alles an Deck, um sich das Ansteuern der Küste anzusehen. Nicht lange dauerts so kommt der Lotse an Bord und unterstützt mit seinen Lokalkenntnissen beim Einfahren in den Hafen den Kapitän, ohne daß dieser jedoch dadurch von der Verantwortung für die Sicherheit des Schiffs befreit wird. Dumpf tönt die Dampfpfeife, die Maschinentelegraphen klirren, mächtig erzittert das Schiff unter dem Rückwärtsgang der Schrauben, dann steht es und wird mit Vertolleinen und durch Schlepper auf seinen Platz am Kai gebracht. Alles, was von Bord muß, drängt sich eifrig und besorgt um die Fallreepe, aber doch finden viele noch die Zeit, dem Kapitän noch einmal die Hand zu drücken, und auch unter den übrigen ist wohl selten jemand, der nicht mit Dankbarkeit des Mannes gedenkt, der ihn so sicher und fürsorglich übers Meer geführt hat, und ihm nicht eine weitere glückliche Fortsetzung seiner verantwortlichen Tätigkeit wünscht, die wie kaum eine andere geeignet ist, den Ruf deutscher Tüchtigkeit und Zuverlässigkeit bis in die fernsten Zonen und Länder hinauszutragen.

Dieser Artikel erschien zuerst 1905 in Die Woche.