Die Pariser Polizei

La Rousse, die Rote, heißt die Polizei in der französischen Gaunersprache. Warum weiß niemand und ich auch nicht. Wenn Sie mir also einen Gefallen thun wollen, so gestatten Sie mir, dieses wichtige Geheimnis in seinem Dunkel zu lassen.

Jahrelang lebte ich in der Meinung, die Pariser Polizisten seien nur dazu auf der Welt: um je zwei und zwei mit langsamen und schweren Schritten spazieren zu gehen und sich gegenseitig ihre Erfahrungen, die Neuigkeiten des Tages und die Erinnerungen ihrer Jugend zu erzählen; um die Volksmenge zu stoßen und zu schieben, wenn Zola begraben wird, oder wenn die Burengeneräle ankommen; um hilflose Betrunkene aufzugreifen, zu prügeln, ihnen die Kleider zu zerreißen und die Opfer auf die Polizeistation zu bringen; um schnell wegzulaufen, wenn irgendwo ein Lärm entsteht, dessen Urheber möglicherweise Messer oder Schießeisen in der Tasche haben und damit ihren Angreifern übel zusetzen könnten, um immer anderswo zu sein, als wo sich irgendetwas gegen die Gesetze und die öffentliche Sicherheit zuträgt.

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Dies nun hielt ich für die professionelle Pflicht der Pariser Polizei, aber wie schon oft in meinem Leben habe ich mich geirrt. Gestern bin ich auf der Polizeipräfektur selbst eines Bessern belehrt worden. Da habe ich mit meinen eigenen Ohren gehört, wie ein höherer Beamter den wie Jünger und Schüler versammelten Polizisten sagte: „Die Pflicht der Friedenswächter – gardien de la paix ist der offizielle Name der Pariser Schutzleute – besteht darin, das Publikum auf der Straße in Schutz zu nehmen, den in Verlegenheit befindlichen Personen Auskunft zu erteilen, die Greise, Frauen und Kinder beim Ueberschreiten der belebten Straßen zu unterstützen, den Verletzten zu Hilfe zu eilen und im allgemeinen die Anordnungen der Polizei auszuführen. Auch müssen sie Vergehen verhindern und die Uebelthäter verhaften und dann auf die Polizeistation bringen.“

Die Hauptsache also ist ein energisches aber freundliches Verhalten gegen das Publikum …
Auf der Polizeiwache

Also sprach der Lehrer der „Sergots“, die man in Paris auch „Flics“ und, wenn einem an heiler Haut und ganzen Knochen nichts gelegen ist, „Vaches“ nennt. Der Lehrer? Jawohl, der Lehrer.

Denn die Friedenswächter von Paris haben in der Präfektur ihre eigene Schule, in der sie mit den Pflichten und Kunstgriffen ihres Metiers bekannt gemacht werden. Die Präfektur der Polizei liegt, wie es sich gehört, im Herzen der Stadt, auf der Seineinsel, die vor zwei- oder dreitausend Jahren die ersten Häuser der späteren Lutetia getragen hat. Die wichtigsten Bauten von Paris stehen hier: die Kathedrale Unserer Lieben Frauen von Paris, die Morgue, das Spital Hótel-Dieu, der Justizpalast, die Polizeipräfektur und das Restaurant zum Behenden Hasen, wo ich mein erstes Mittagessen in Paris eingenommen habe. Die Polizeipräfektur war bis vor fünfundzwanzig Jahren eine Kaserne der republikanischen Garde, und heute noch ist der Generalstab dieser kleinen Armee der Stadt Paris in dem Gebäude untergebracht. Das ist der Grund, daß man vor den Thoren die Uniformen der Gardisten sieht, die im übrigen mit der eigentlichen Polizei nichts zu thun haben, wenn sie auch oft mit den Sergots zusammen die neugierige Volksmenge ärgern müssen.

Bei solchen Gelegenheiten bekommt das Publikum dann auch die Befehlshaber der Schutzleute zu sehn, die sich sonst nicht zeigen und deren Titel Friedensoffizier, Officier de lu paix, ist. In jedem Arrondissement steht ein Friedensoffizier an der Spitze der Friedenswächter. Das ist ein Mann, der nur bei besonderen Gelegenheiten in Uniform und mit seiner Schärpe um den Leib auftritt, und deshalb sieht er auch immer nett und sauber aus, wenn er es einmal thut. Ich habe deshalb früher immer gestaunt, wieso es komme, daß die Friedensoffiziere immer so schöne und neue Uniformen anhätten. Jetzt weiß ich, daß sie zwar schön, aber nicht neu, sondern nur ungebraucht sind.

Die Friedenswächter selbst sehn nicht gar so sauber aus, obgleich sie es ausgezeichnet verstehn, sich gegen die Unbilden des Wetters an geschützten Orten zu sichern.

Das Interessanteste in der Polizeipräfektur sind aber weder die Sergots, noch die Friedensoffiziere, noch die städtischen Gardisten. So viel ich weiß, hat man in Frankreich zuerst den sogenannten anthropometrischen Dienst eingeführt, was, wenn ich alter Tertianer mich nicht irre, auf deutsch ungefähr Menschenmeßdienst heißt. Die Menschen, die hier gemessen werden, sind natürlich solche, die mit der verehrten Obrigkeit in Konflikt gekommen sind. Wer den Pariser Häschern in die Netze gerät, wird zunächst von vorn und von der Seite photographiert, dann beschmiert man ihm die Ballen des Daumens, Zeige-, Mittel-, und Ringfingers der rechten Hand mit Tusche und nimmt einen Abdruck auf einem Blatt weißen Papiers. Diese beiden Erkennungszeichen sind schon ziemlich alt: der Fingerabdruck wird seit Jahrtausenden von den Chinesen nicht nur zur Wiedererkennung, sondern auch als Unterschrift benutzt, denn, wie es scheint, stimmen niemals die Linien in der Haut der Handfläche bei zwei Individuen vollkommen überein, und dann ändern sich diese Linien, außer durch Unglücksfälle, Verletzungen u. s. w., niemals. Die Photographie wird schon seit ihrer Erfindung steckbrieflich benutzt.

In der Schule der Polizeipräfektur
Die Messung
Eine anthropometische Sitzung

Neu aber sind die Körpermessungen, die aus den folgenden Einzelmaßen bestehn: die gesamte Höhe bei nackten Füßen, der Brustumfang, die Länge der ausgestreckten Arme, die mit einem besonders dazu hergerichteten Zirkel festgestellte Länge und Breite des Schädels, die Länge und Breite des rechten Ohres, die Länge des linken, platt auf den Boden gestellten und das ganze Körpergewicht tragenden Fußes, die Länge des Mittelfingers und des kleinen Fingers der rechten Hand und die Länge des linken Unterarms vom Ellbogen bis zur Spitze des Mittelfingers. Herr Bertillon, der dieses komplizierte Messungssystem erfunden hat, hält es für unfehlbar zur Wiedererkennung eines Uebelthäters, und als unverständiger Laie beuge ich mich gern seiner maßgebenden Ansicht. Aber ich hätte doch fast Lust, zu fragen, ob es seit der Einführung dieses viel gerühmten und bewunderten Systems weniger Spitzbuben in Paris giebt, als vorher. Ich fürchte sehr, daß die Anthropometrie, so fürchterlich das Wort auch klingt, den Herren Spitzbuben nur außerordentlich wenig Angst macht.

Dieser Artikel erschien zuerst am 15.11.1902 in Die Woche, er war gekennzeichnet mit „Karl Eugen Schmidt, Paris.“.