Die russische Polizei

Der Stadthauptmann von St. Petersburg, General Kleigels, mit den höheren Polizeioffizieren

Man pflegt neuerdings gern zu sagen, jedes Land habe derartige Institutionen, wie es sie verdient. Nun, Rußland, speziell die nordische Zarenstadt, hat eine Polizei nicht nur, wie sie es verdient – das wissen die Leser ja aus manchem Bericht über Unruhen und Krawalle – sondern auch, wie sie ihrer als Welt- und Residenzstadt bedarf! Das ist viel, wird man sagen, aber es kann dreist behauptet werden, daß nicht einmal London eine so vorzüglich organisierte und disziplinierte Polizeimacht besitzt, wie Petersburg.

Von der höheren Organisation der Staatspolizei, der früheren gefürchteten „III. Abteilung“, die jetzt als Polizeidepartement dem Ministerium des Innern angegliedert ist, und dessen Chef, den früheren Stadthauptmann von Petersburg und späteren Gouverneur von Wilna, von Wahl, man auch im Ausland kennt, soll hier nicht die Rede sein: dieses Kapitel gehört in Rußland schon zur Politik! Ebensowenig sei hier von Kosaken und deren Taten gesprochen, wenn sie im Polizeidienst verwandt werden, oder auch von den Hausknechten (Dwornik), mit dem „Starschi“, dem medaillengeschmückten Oberhausknecht an der Spitze, die für jedes Haus gewissermaßen ein kleines Polizeikommando bilden, das auf jeden Pfiff des Schutzmanns zur Stelle sein kann. Wenn man von „Polizei“ spricht, so meint man doch ausschließlich die Schutzmannschaft, die Sicherheitswächter der Stadt, und was die betrifft, so ist man sich weder im Ausland, noch auch hier ganz bewußt, in welch gut disziplinierten und zweckmäßig geschulten Händen des Petersburgers Wohl und Wehe, Leibes- und Lebenssicherheit ruht. Früher ist dem nicht so gewesen. Der jetzige Stadthauptmann, Generaladjutant Kleigels, dessen martialische Erscheinung man so häufig spähenden Blicks durch die Straßen jagen sieht, die Polizeimeister, die der gewöhnliche Sterbliche leicht in den Vergnügungsetablissements, dem „Krestowskigarten“, in den „Bouffes“, in der „Arkadia“ oder dem „Aquarium“, wo sie täglich Dienst haben, zu Gesicht bekommt, vor allem aber der Chef der Polizeireserve, Rittmeister Galle, haben die Petersburger Polizei zu der vorzüglichen Elitemannschaft gemacht, die sie jetzt ist.

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Viel geschmäht und verdammt, weil er ja nur genannt wird, wenn Regierung und Volk was miteinander zu verhandeln haben, und er als Wächter des Gesetzes den Willen der Regierung durchsetzen muß, wobei natürlich Ursache und Wirkung, die Zuchtlosigkeit eines ungebändigten, noch wenig entwickelten Volkes und das Auftreten der Schutzleute einander entsprechen, ist der Petersburger Schutzmann, wie man ihn tatsächlich an jeder Straßenecke stehen sieht, wirklich nichts weniger als gering zu schätzen. Stets adrett und sauber gekleidet, weiße Handschuhe an den Händen, über alles aufs beste unterrichtet, zu jeder Auskunft, aber auch zu jeder Hilfeleistung mit schweigsamer Liebenswürdigkeit bereit, kann er wohl als Musterbild seines bei Petersburger Wetter- und Volksstimmungen doppelt schweren Berufes betrachtet werden. Nie hat jemand unsern einfachen „Gorodowoi“ (Wächter) betrunken gesehen. Man darf sich nicht wundern, daß dieser Umstand besonders hervorgehoben wird, denn Petersburg ist ein kaltes, mit dem denkbar schlechtesten Klima versehenes Sumpfloch; um sich bloß einigermaßen zu konservieren und vor langsamem Verschimmeln zu bewahren, muß der Mensch sich hier unter Spiritus setzen. Wie leicht dabei zu viel des Guten geschieht, kann man an den torkelnden Gestalten des Straßenbildes unschwer ermessen; es gibt keinen Gesellschaftskreis, der darunter nicht auch seine Vertreter fände.

Da man also viel Duldung für diese Schwäche in dem „nordischen Palmyra“ haben muß, so verdient der „Gorodowoi“ wohl rühmlichst genannt zu werden. Wenn man nun aber fragt, wie sich diese staunenerregende Enthaltsamkeit erklärt, so lassen sich dafür recht interessante Gründe anführen. Unser gewöhnlicher Polizist, der Gorodowoi, ist fast ohne Ausnahme Weißrusse, aus der litauischen Gegend, wo die Bevölkerung durch grenzenlose Armut an Enthaltsamkeit gewöhnt ist; kommt er also nach Petersburg in die Polizistenschule, so sind ihm die 25 Rubel Gage – an und für sich ein gutes Geld bei freier Verpflegung und Kleidung – ein Heiligtum, das nicht verjubelt wird und zum großen Teil in das dürftige heimische Dorf wandert. Ein zweiter und bedeutsamerer Grund ist aber die Schulung und Disziplin, die die „Gorodowois“ in der von Rittmeister Galle neuorganisierten, dem Kasernement der Polizeireserve angegliederten Polizeischule erhalten.

Aus dem Polizeimuseum - Hellebadier aus der Gründungszeit Petersburgs, und moderner reitender Polizist
Aus dem Polizeimuseum – Hellebadier aus der Gründungszeit Petersburgs, und moderner reitender Polizist
Gorodowoi (Schutzmann)
Gorodowoi (Schutzmann)
Aus dem Polizeimuseum - falsche Münzen
Aus dem Polizeimuseum – falsche Münzen

Diese Schule, die in einem großen und lehrreichen Museum ihre Ergänzung findet, ist nun wirklich etwas sehr Sehenswertes.

Die Polizeireserve, aus der der Bedarf an Polizisten gedeckt wird, rekrutiert sich aus ganz makellosen Elementen, die aufs beste verpflegt, bezahlt, geschult, amüsiert und überwacht werden, um sie vor Versuchungen zu bewahren. Für die freien Stunden haben sie in der hinter dem Nikolaibahnhof gelegenen Kaserne prächtige Erholungsräume mit Billard, Turngerätschaften und Bibliothek zur Verfügung. Außerdem steht ihnen der Aufenthalt in der – man möchte sagen – allerliebsten Kantine zu, wo ihnen neben trefflichem Essen sogar Alkoholika (ohne das geht’s in dieser Frost und Regenwüste schon nicht) verabreicht werden. Das bescheidene Quantum von zwei „Schnäpsen“ für den Tag, zwei nicht allzugeräumigen Gläsern „Wodka“, ist allerdings das Höchstmaß. Der größte Teil des Tages wird, falls nicht Extrakrawalle irgendwelcher Art vorliegen und die Polizeireserve heran muß, auf die Schulstunden verwandt.

Die Polizeirevieraufseher (Okolototschni) erhalten Instruktion von ihrem Chef, dem Stadtteilpolizeimeister Brandt
Die Polizeirevieraufseher (Okolototschni) erhalten Instruktion von ihrem Chef, dem Stadtteilpolizeimeister Brandt
Gorodowoischule - Belehrung der Gorodowois über die Geheimnisse des Einbruchs
Gorodowoischule – Belehrung der Gorodowois über die Geheimnisse des Einbruchs

Der Schulraum ist, wie das Bild es zeigt, geräumig und hell. Die verschiedenen Abzeichen der Häuser, der Bediensteten, der Schüler und der Militär-, wie das bunte Straßenleben sie zeigt, ferner die Bilder verschiedener zu beachtender oder zu verfolgender Typen, Photographien von Straßenszenen, bei denen einzugreifen sei Sammlungen von Einbrecherinstrumenten, von falschen Maßen und Gewichten usw. schmücken die Wände. Dort haben nun die Aspiranten ihre Instruktionsstunde, und man muß sagen, es ist ein trefflicher Anschauungsunterricht. Neben rein theoretischen Fächern, Schrift, Sprache, Rechnen, Dienstordnung u. a. m. lernen die Gorodowois auch vieles Praktische. So z. B. den Transport von Kranken und Betrunkenen. Zu einer wahren Kunst sind die Handgriffe entwickelt, durch die der Schutzmann sich selbst gegen einen Angriff zu wehren und gleichzeitig den Ruhestörer dingfest zu machen imstande ist. Der bekannte Athlet und Ringer Pytlosinski hat all die Handgriffe in ein System gebracht und auf Anregung Rittmeister Galles in photographischen Aufnahmen speziell für die Polizeischule festhalten lassen. Seit ich diese Bilder gesehen habe, bin ich bereit, es mit dem Riesen Machnow, selbst wenn er einen Riesenrausch hat (oder kann er gar keinen andern habend), gern aufzunehmen und ihn in einen Hühnerstall zu sperren!

In einem andern Klassenraum werden die besonders tauglichen Polizisten in den höheren Wissenschaften zur Erlangung der ersten Offizierscharge. der des „Okolototschni“ oder Revieraufsehers, unterwiesen. Auch diesen Raum schmücken die verschiedensten Sammlungen. Da kann man Serien falschen Geldes sehen, gefälschte Unterschriften im Gegensatz zu den echten; das ganze Arsenal der Falschspieler ist vorhanden, gezeichnete Karten, Münzen mit zwei gleichen Seiten; die Art des Waffen und Feilenschmuggels in die Gefängnisse ist durch Gefäße mit doppeltem Boden, gehöhlte Seifenstücke und Brote illustriert. Das Interessanteste in diesem Raum aber sind die Modelle von falsch konstruierten Wohn- und andern Gebäuden, schlechten Schornsteinen u. a. Das Vorhanden sein dieser Lehrmittel erklärt sich aus der einfachen Tatsache, daß die Polizei in Rußland auch die ganze Wohnungsfrage in der Hand hat und jeglichen Bau beaufsichtigt. Jeder höhere Polizeioffizier muß diese Schule passiert haben, und man wird gestehen müssen, daß das sehr zweckmäßig ist.

Reitende Gendarmerie, das Publikum auf dazu geschulten Pferden zurückdrängend. Die erste Reihe bilden Starschije Dworniki (Oberhausknechte)
Reitende Gendarmerie, das Publikum auf dazu geschulten Pferden zurückdrängend. Die erste Reihe bilden Starschije Dworniki (Oberhausknechte)
Der Stadthauptmann von St. Petersburg, General Kleigels, mit den höheren Polizeioffizieren
Der Stadthauptmann von St. Petersburg, General Kleigels, mit den höheren Polizeioffizieren

Bei weitem das Bemerkenswerteste von all den Sammlungen, die die Polizeischule besitzt, ist im Museum aufgestellt Man könnte beinah sagen – aufgespeichert, so eng ist der Raum, und so viel steht darin. Es spiegelt in vollkommener Weise die Entwicklung der Stadt St. Petersburg durch die zwei Jahrhunderte ihres Bestehens, nicht sowohl durch die Trachten und Waffensammlungen der Polizei, die ja mehr spezielle Bedeutung haben, als durch die Skizzen, Stiche, Bilder und Photographien, die Straßenszenen aus fast allen Jahren darstellen. Da sieht man den kübelhelmigen Polizisten aus dem Gründungsjahr der Polizei 1718, den Nachfolger des Hellebardenträgers mit den Bastschuhen an den lappenumwickelten Füßen (auch heute noch die Fußbekleidung der einfachen Russen), im Kampf mit längst entschwundenen Gestalten. Und dann durch die Reihe der Jahre die sonderbarsten Volksszenen und Bilder, die die Tätigkeit der Polizei vergegenwärtigen, darunter Stiche von Le Prince und Geißler. Ein kleiner zeitgenössischer Stich trägt die Unterschrift: „Johann Reinhold Patkiel fühlet das heis Eysen.“ Es wäre unerfreulich, ihn zu beschreiben. Ungemein interessant ist ihrerseits die Sammlung von den falschen Goldmünzen, die England während des Türkenkriegs massenweise nach Rußland importiert hat. Herrliches Material zu kulturgeschichtlichen Studien. Man kann dort sehen, daß der Polizist auch eine andere Bedeutung für das Volk hat, als bloß die eines „Straßensperrlings“. Freilich in dieser Beziehung haben die russischen Polizisten nicht wenig zu leisten. Doch selbst wenn in einem solchen Fall eine derbe „Vastawlenije“ (Belehrung) nötig wird; Ritsch-Ratsch! kann man sie höflichst sagen hören: „Da was wedj Tschestju ugowariwajut!“ „Man überredet Sie doch in allen Ehren!“ – RitschRatsch!

Dieser Artikel erschien zuerst in Die Woche 42/1903, er war gekennzeichnet mit „H. Rast.“.