Von Dr. med. Jenny Springer.
Unter der Fülle heiß umstrittener Fragen aus dem Gebiet der Frauenbestrebungen gibt es bereits wenigstens eine, die zur endgültigen Klärung gelangt ist, nämlich die Frage nach der Notwendigkeit eines Berufs für die Frauen. Immer mehr bricht sich die Erkenntnis Bahn, daß nicht nur der Mann zum rauhen Lebenskampf ausersehen ist, sondern daß die modernen wirtschaftlichen Verhältnisse auch der Frau das gleiche Schicksal auferlegen, und daß infolgedessen die Beherrschung eines Berufszweiges für beide gleicherweise unerläßlich ist.
Es nun recht interessant, zu beobachten, in welcher diese Erkenntnis in jüngster Zeit in die Praxis umgesetzt wird. Daß gerade die gelehrten Berufe auf strebsame, innerlich gereifte Frauen mit unwiderstehlichem Reiz wirken, ist mehr als begreiflich, wenn man bedenkt, wie schmal und almosenhaft die geistige Nahrung ist, die der weiblichen Jugend in den offiziellen Bildungsanstalten geboten wird. Die reine Hungerkur! Darum ist es kein Wunder, wenn denkende Frauen mit Wissenshunger sich in die ihnen so lange verschlossenen Gebiete wissenschaftlicher Erkenntnis hinein vergraben und die darin aufgespeicherten Schätze sich zu eigen zu machen suchen. Aber ganz anders sieht die Sache aus, wenn über ganz junge Kinder bereits von den Eltern entschieden wird, welchen Beruf sie ergreifen sollen. Ueberraschend oft hört man heutzutage den Ausspruch: unsere Tochter soll Medizin studieren! Sieht man sich dann daraufhin das Töchterlein an, so findet man gewoöhnlich einen von folgenden drei Typen; entweder ein harmloses, unbedeutendes Wesen, das keine Ahnung von der Tragweite der über seine Person verhängten Bestimmung hat und nichts von einer besonderen Veranlagung aufweist. Oder ein gewecktes Kind mit irgendeinem körperlichen Mangel, dem man in der einstmaligen Betätigung als Aerztin einen Ersatz für anderes Glück verschaffen will (der sympathischste Typ) – oder ein naseweises, altkluges, von der Familie als Wunderkind angestauntes Mädchen, dem man schon heute die leidige Eitelkeit auf die medizinischen Vorschußlorbeeren anmerkt.
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Es ist ein schwerer Mißgriff, Kinder in einen Beruf hineinzupressen, der wie kein anderer vollste Hingabe an Geist und Körper von dem verlangt, der sich ihm widmet. Der Einwand, daß ja auch Knaben von ihren Eltern oftmals zu ihrem Lebensberuf bessinmt werden ist leicht dahin zu beantworten, daß es nicht im Interesse der vorwärtsstrebenden Frauen liegen kann, gelehrte Berufe für Durchschnittsmaterial freizugeben. Zur Wahl des ärztlichen Berufs gehört eine Altersstufe, in der wenigstens eine gewisse geistige Selbständigkeit vorhanden ist, die sich darüber klar wird, welche Anforderungen an das Individuum gestellt werden.
Die Frage: wie wird man Aerztin? kann für uns deutsche Frauen heute anders beantwortet werden, als dies noch vor einigen Jahren der Fall war. Im Gegensatz zu Amerika, das längst seine Frauen zum medizinischen Studium anstandslos zugelassen, ebenso wie die Schweiz, Frankreich, England, Italien und die nordischen Länder, hatte Deutschland alle Frauen hermetisch von seinen Universitäten abgeschlossen und sie gezwungen, in jene vorurtreilsfreien Länder, besonders nach der Schweiz, zu gehen, um ihren Wissenshunger zu befriedigen und eine gründliche Fachausbildung zu erlangen. Jetzt endlich hat sich eine Reihe deutscher Universitäten entschlossen, ihre Pforten auch den Frauen zu öffnen, mit denen nicht der schlechteste Teil der Studenten in die Hallen der Wissenschaft eingezogen ist.
Der Entwicklungsgang der Medizinerin ist, abgerechnet die Schulbildung, genau der gleiche wie der des männlichen Kollegen. Seit der Gründung von Mädchengymnasien, die der berechtigten Forderung nach einer vernünftigen Vorbildung entspringen, wird auch die Mangelhaftigkeit des bisher für Mädchen für genügend erachteten Entwicklungsganges beseitigt, der dazu führte, daß man, um die notwendige Abiturientenprüfung zu bestehn, unter ungeheuren Opfern an Geld, Zeit und Arbeit sich nachträglich die Kenntnisse aneignen mußte die die bevorzugte männliche Jugend ohne sonderlich Anstrengung in zehn Jahren erwirbt. Hatte man dann endlich diesen früher schwersten Teil der Grundlage zum Studium überwunden, so ging es mit frischem Mut in die eigentliche Studienzeit. Welche unvergeßliche Stunden, wenn man mit heißen Wangen und schauerndem Staunen sich in die Wunder der Schöpfung vertieft, wo aber auch die Bitterkeit sich regt, daß diese unvergleichlichen Geistesschätze den Frauen nur darum so lange verschlossen wurden, weil sie Frauen sind.
Nun, diese Zeiten sind glücklich vorüber und der Studiengang ein ganz regulärer. Die Grundlage der Medizin bilden die Naturwissenschaflen, und dementsprechend nehmen einen breiten Raum des ersten Semesters Physik, Chemie, Botanik, Zoologie und vergleichende Anatomie ein. Mit Recht wird eine gründliche Einführung in die Chemie verlangt – beruht doch auf ihr jeder innerhalb des Organismus sich abspielende Vorgang, ebenso wie die ganze Arzneimittellehre. Oftmals wurde früher den Medizinern der Vorwurf gemacht, daß sie infolge ihres mangelhaften Verständnisses für die Chemie Verordnungen träfen, die ihre Wirkungen entweder verfehlten oder sich gar geneseitig aufhöben. Diesem Mangel wird nun abgeholfen durch die praktische Arbeit im chemischen Laboratorium, die für jeden Mediner obligatorisch ist. Wie aus obenstehendem Bild ersichtlich, unterziehen sich auch die künftigen Aerztinnen diesen Arbeiten mit großem Eifer und großer Sorgfalt.
Diesen naturwissenschaftlichen Fächern parallel laufen die Vorlesungen über Anatomie, Physiologie sowie die praktische Arbeit an der Leiche, die gewissermaßen den Anschauungsunterricht als Ergänzung zum gesprochenen Wort repräsentiert. Es ist wunderbar, daß diese anfangs etwas nervenangreifende Beschäftigung viel seltener Frauen zum Aufgeben des Medizinstudiums bringt, als Männer. Es wiederholt sich hier die gleiche Erscheinung, die von Augenzeugen aus Kriegslazaretten berichtet wird, daß nämlich bei schweren Verwundungen und Operationen die weiblichen Krankenpfleger oft viel standhaftere Nerven bewiesen, als die männlichen. Zweifellos erfordert das Präparieren, das heißt das systematische Zergliedern des toten Körpers, in der ersten Zeit eine nicht geringe Selbstüberwindung, aber die Erfahrung hat gelehrt, daß die Frauen die dazu nötige Willenskraft in vollem Umfang besitzen. Je weiter das Studium fortschreitet, desto größer werden die Anforderungen, die nicht nur an die körperlichen Kräfte, sondern auch an das ästhetische Empfinden der Frauen gestellt werden. Nicht etwa, daß die Gegenwart der männlichen Kollegen als Störung empfunden wird – dazu ist das fachliche und rein sachliche Interesse der Medizinerinnen viel zu groß, als daß der Geschlechtsunterschied ihnen in der Klinik zum Bewußtsein kommen sollte. Aber das angeborene feinere Empfinden, das den Frauen doch unleugbar von der Natur gegeben, und das ihnen durchaus nicht, wie manche Gegner des Frauenstudiums behaupten, durch das Studium verloren geht, dieses Empfinden wird oft unsanft berührt. Nicht für sich selbst, sondern für die leidenden Frauen empfindet man die Verletzung des Schamgefühls. Man wende nicht ein, daß durch Errichtung von Frauenuniversitäten diesem Uebelstand abgeholfen werden könne, wie es heute von mancher Seite verlangt wird. Erstlich würde das Wesentliche an der Sache, die leider so häufig zu beobachtende geringe Schonung des natürlichen Schamgefühls, dadurch nicht aus der Welt geschafft, und zweitens würde bei der eigentümlichen Beschaffenheit der öffentlichen Meinung in bezug auf Frauenangelegenheiten, eine solche Institution sehr bald dem Odium einer Minderbewertung anheimfallen. Ganz zu schweigen von dem großen Schaden, den die Sachlichkeit und die durch Geschlechtsunterschiede beschränkte Ausbildung im Beruf erleiden müßten. Es kommen in der Praxis der Aerztin nicht wenige Fälle vor, in denen Knaben von jeder Altersstufe und oft genug auch Männer ihren Rat einholen. Wo bliebe da ihr Können, wenn ihr nur eine rein weibliche Medizin zugängig gemacht würde? Will man sich denn noch immer nicht zu der Einsicht herbeilassen, daß jede künstliche Schranke ein Unding ist? So wenig man den männlichen Medizinern weibliche Kranke vorenthält, so wenig darf man studierenden Frauen das männliche Krankenmaterial entziehen. Und was das gemeinsame Arbeiten von Männern und Frauen in Kliniken und sonstigen Lehranstalten betrifft, so is die so oft geäußerte Befürchtung einer Gefährdung der Sittlichkeit ein bloßes Schemen geblieben, in seiner Haltlosigkeit von allen erkannt, die Gelegenheit hatten, die einschlägigen Verhältnisse zu studieren.
Neben der unaufhörlichen praktischen Arbeit in den verschiedensten Krankenhäusern – für innere Krankheiten, Chirurgie Frauenkrankheiten, Geburtshilfe, Augenheilkunde und Geistes und Nervenkrankheiten – geht eine streng wissenschaftliche Ausbildung in theoretischen Fächern einher. Einen großen Teil der Zeit nimmt die pathologische Anatomie ein, diese von Virchow so glorreich begründete Disziplin, vielleicht das interessanteste Gebiet der Medizin. Mit Seziermesser und Mikroskop versucht man hier dem Tod sein Geheimnis zu entreißen, wie er die Menschen dahinrafft, und dieser Wege sind sehr viele.
Einen für die spätere Praxis überaus wichtigen Teil der klinischen Semester bilden die zahlreichen praktischen Kurse, in denen man die verschiedenen Untersuchungmethoden kennen lernt, sowohl physikalischer wie chemischer Natur, die Aufschluß geben über die Erkrankungen innerer Organe. Dazu gesellen sich Verband, Augenspiegel-und Operationskurse – kurz, eine Fülle praktischen Wissens und technischen Könnens wird hier erworben.
Die rein physische Leistung, die das Studium der Medizin erfordert, ist eine außerordentlich große, denn in den letzten Semestern sind zehn Stunden Vorlesungen bezw. Kliniken und praktische Kurse fast die regelmähige Ausfüllung des Tages. Dazu kommt noch die Nacharbeit zu Hause, so daß man schon einen widerstandsfähigen Körper besitzen muß, um diesen Anforderungen gerecht werden zu können. Man kann bei dieser Sachlage nicht eindringlich genug darauf hinweisen, einer wie sorgfältigen Prüfung auf Körper und Geist es bedarf, wenn ein Mädchen zum Studium der Medizin bestimmt wird. Das Endziel ist ein begeisterndes und wohl geeignet, alle Kräfte eines Menschen wachzurufen, aber der Weg ist mühsam und schwer.
Dieser Artikel erschien zuerst in Die Woche 50/1903.