Zeichen der Zeit

1905, von Dr. Fr. Ranzow. Je mehr die gewerbliche und kommerzielle Entwicklung unseres Vaterlandes fortschreitet, um so mehr betont sich und in um so schnellerem Tempo verläuft ein bedeutsamer volkswirtschaftlicher Prozeß, den man am kürzesten als „Entpersönlichung der Großbetriebe“ bezeichnen wird. Eine nach der andern verwandeln sich die großen Gewerbs- und Handelsunternehmungen, die als Privasbesitz, als Schöpfungen der großen „Captains of the Industrys“ sich selbst und das ganze Deutschland zu Macht und Reichtum geführt haben, in Kapitalsgesellschaften, zumeist unter der Form der Aktiengesellschaft. Das gilt für alle Zweige der Volkswirtschaft.

Die großen Bankiers verschwinden einer nach dem andern, lassen ihre berühmten alten Firmen in Großaktienbanken untergehen, deren Aufsichtsräte sie – zunächst – werden: Seit Rothschild und Warschauer ihre Kontors geschlossen haben, zeugt nur noch eine hohe Säule, die Riesenfirma Mendelssohn, von der versunkenen Pracht der alten, vornehmen Privatbanken. Aehnlich liegt es in der Reederei; auch hier schlucken die großen Walfische die kleinen Heringe dutzendweise, und in der Großindustrie setzen sich ähnliche Tendenzen durch; hier sind sie freilich noch vielfach maskiert durch die Bildung der Ringe und Syndikate, die den einzelnen angegliederten Werken den eigenen Namen und einen größeren oder geringeren Teil ihrer Selbständigkeit lassen aber alle Zeichen deuten darauf hin, daß die Entwicklung zum Trust auch bei uns, wie in Nordamerika, unaufhaltsam sein wird, zum Trust, in den die einzelnen Firmen und Werke eintreten als dienende Glieder eines riesenhaften Gesamtorganismus, und in dem sie verschwinden.

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Der Gründe für diese Entpersönlichung der Großbetriebe gibt es mehrere, die, sich gegenseitig verstärkend, sämtlich in einer Richtung vorwärtstreiben.

Der eine Grund liegt in dem durch die Konkurrenz den Werken aufgezwungenen Kapitalsbedarf. Der Kampf um Dasein ist in der Großindustrie unerbittlich hart: wer stehen bleibt, fällt, wer fällt, wird niedergetreten. Es heißt, rastlos vorwärtsschreiten, jeden Vorteil sich aneignen, den der Konkurrent besitzt. Da sind Maschinen veraltet, lange ehe sie abgenutzt sind: man muß sie fortwerfen und die neusten Typen anschaffen, koste es, was es wolle, sei auch ein Umbau oder Neubau der Fabrikationsstätten unvermeidlich.

Da zieht ein konkurrierendes Unternehmen bedeutende Vorteile aus der Tatsache, daß es den Rohstoff oder das Halbfabrikat oder beides in eigenen Betrieben gewinnt: man muß das gleiche tun, um nicht durch die billigen Preise des Wettbewerbers aus dem Markt geworfen zu werden. Zu alledem gehört sehr viel Geld, oft viel mehr, als selbst ein blühender Betrieb aus seinen Ueberschüssen zurücklegen kann, und der Bankkredit ist begrenzt und verhältnismäßig teuer. Und wäre er selbst billig genug: der Zins für das Leihkapital schwankt in nicht vorauszusehender Weise und wird – in Zeiten der Depression – gerade dann am höchsten und drückendsten, wenn der Werkbesitzer bei sinkenden Preisen und stockendem Absatz am wenigsten in der Lage ist, große Opfer zu bringen. Noch schlimmer: gerade in solchen Zeiten sehen sich die Banken oft genug gezwungen, den Kredit ganz zu kündigen, und dann steht der Werkbesitzer vor Schwierigkeiten, denen er oft genug nicht gewachsen ist.

Ganz große, weltberühmte Unternehmer können wenigstens einen Teil dieser Schwierigkeiten dadurch überwinden, daß sie Anleihen aufnehmen, fest verzinsliche Obligationen ausgeben, ganz wie Staaten und Kommunen. So hat seinerzeit Krupp, so hat Graf Tiele-Winckler handeln können. Sie belasten auf diese Weise ihr Einkommen mit einer festen Zins- und Tilgungslast, die auch in schlechten Zeiten geleistet werden muß, bewahren aber dadurch auch ihre Selbständigkeit und erhalten sich alle Gewinnaussichten. Dies stolze Mittel steht aber nur den Fürsten der Industrie zu Gebote; die kleineren erfreuen sich keines so leichten und billigen Kredits und sind auch nicht stark genug, um auch in schlechten Zeiten eine feste Zins- und Tilgungslast tragen zu können. Ihnen bleibt nichts anderes übrig, als fremdes Kapital herein zunehmen, das zwar in guten Zeiten am Gewinn, aber auch in schlechten am Verlust teilnimmt: und dies fremde Kapital wird je mehr, je seltener Privatkapital eines mitarbeitenden oder „stillen“ Sozius sein; denn – wir sprechen hier nur von Großbetrieben – je länger, je mehr werden die jeweils nötigen Summen größer und größer, so daß sie fast nur noch auf dem Weg der Aktienausgabe zu erhalten sind. Und damit ist der Verlust der „Persönlichkeit“ der Firma gegeben.

Der einstige Chef wird bestenfalls Direktor, und die industrielle Dynastie ist mediatisiert.

In der gleichen Richtung wirkt die Schwierigkeit, ein immer wachsendes Unternehmen von einer Stelle aus zu übersehen und zu leiten. Je größer und verzweigter die Betriebe werden, um so seltener werden die administrativen Genies, die ihnen mit Erfolg vorstehen können. Vielleicht gibt es eine Grenze der Größe, jenseits deren überhaupt keine menschliche Intelligenz und Energie das Werk der Leitung mehr leisten kann. Demgegenüber bildet das in der Aktiengesellschaft naturgemäße Kollegialsystem koordinierter, in ihren Ressort nahezu unabhängiger Direktoren unter der Kontrolle eines gleichfalls kollegialen Aufsichtsrats trotz seiner großen Schwerfälligkeit und der vielen Reibungsflächen denn doch ein leichter zu beschaffendes und auch von Nichtgenies zu bewältigendes System der Verwaltung. Und das ist der zweite Grund, warum so viele Betriebe der Entpersönlichung verfallen. Entweder werden sie dem Inhaber zu groß und unübersichtlich selbst für seine erprobte und ungeschwächte Kraft, oder er fühlt mit dem Alter seine Kraft nachlassen und hat in seiner nächsten Familie keinen Jüngeren, dem er die Last auf die Schultern legen könnte: auch in den Industriedynastien ist ja das Genie selten erblich!

Wenn der Prozeß der Entpersönlichung des Kapitals aber gerade in dem letzten Jahrzehnt einen immer schnelleren Schritt einschlägt, so hat man den Grund dafür auch noch in dem stets sich verschärfenden Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit und vor allem in der veränderten Stellung zu suchen, die die Gesellschaft und neuerdings auch der Staat zu diesem sozialen Gegensatz einnehmen.

Das patriarchalische Verhältnis zwischen Unternehmer und Arbeiter ist unwiederbringlich dahin. Man mag das beklagen oder begrüßen, aber man wird es nicht ändern können. Ueber die kleine gesellschaftliche Kluft, die noch vor einem halben Jahrhundert den kleinkapitalistischen Unternehmer, der sich selbst noch „Meister“ nannte und als Meister empfand von seinen Arbeitern trennte, zumeist gelernten und auf ihre gehobene soziale Stellung sehr stolzen Gesellen, reichten noch die Stimmen und beinah noch die Hände; aber über den Abgrund, der heute zwischen einem Industriemagnaten mit seinem Millioneneinkommen und seinen Lohnproletariern klafft, reicht kaum noch der Blick.

Nun steht ja zwar die Arbeiterschaft theoretisch auf dem Standpunkt, daß ihr Klassenkampf nur den Einrichtungen, aber nie den Personen gelte; aber in der Praxis sieht das doch ganz anders aus. Da appelliert man an das Gefühl der Person, an sein Mitleid, seine Gerechtigkeit usw., und der Haß und Grimm, der z. B. während eines langen Streiks in den Augen flammt, gilt der Person, die das verhaßte System repräsentiert.

Das ist für niemand angenehm; ein jeder sieht sich lieber von Freunden als von Feinden, lieber von heiteren als von haßverzerrten Gesichtern umgeben. Solange aber das öffentliche Bewußtsein und vor allem sie Staatsgewalt entschlossen auf seiten der Unternehmer gegen die Arbeiter standen, ließ es sich ertragen; ja, ekstatischere Naturen konnten sich sehr wohl in der Rolle des Erzengels fühlen, der den Drachen bekämpft.

Hier hat sich allmählich eine Umgestaltung vollzogen, die der eine tief beklagt, der andere jubelnd begrüßt, und die der Sozialforscher einfach feststellt; die öffentliche Meinung steht durchaus nicht mehr ohne weiteres und überall hinter dem Unternehmer, der mit seinen Arbeitern in Konflikt gerät; sie ist im Gegenteil sehr stark geneigt, sich ohne lange Untersuchung auf die andere Seite zu stellen; nur etwa bei ganz frivolen Arbeitseinstellungen wendet sich die öffentliche Meinung in der bürgerlichen Presse gegen die Arbeiter. Was man heute „soziales Gewissen“ zu nennen pflegt, ist in Deutschland stark geworden; der Anspruch der arbeitenden Klasse auf menschenwürdige Existenz ist grundsätzlich anerkannt, und da kann es leicht vorkommen, daß die öffentliche Meinung die Großindustriellen nicht bloß zu solchen Zugeständnissen drängt, die sie machen können, sondern auch zu solchen, die sich zurzeit wirklich noch aus Konkurrenzgründen usw. verbieten. Und wenn dann der Unternehmer sich weigert und die Schlacht gewinnt, so kann er, trotzdem er selbst ein sehr gut entwickeltes soziales Gewissen haben mag, vor seiner Arbeiterschaft und der gesamten Oeffentlichkeit als ein schauderhafter Tyrann und „Ausbeuter“ erscheinen.

Man wird zugeben, daß das nicht gerade eine behagliche Situation genannt werden kann, und so ist es kein Wunder, wenn viele Unternehmer sich beeilen, einen so ausgesetzten Posten zu verlassen, auf dem nicht einmal mehr sehr viel Ehre, aber dafür um so mehr Angriffe und Püffe zu holen sind. Lieber ziehen sie sich ins schützende Dunkel des Großaktionärs zurück und überlassen es ihren Direktoren, sich mit den Arbeitern abzufinden. So ein Direktor hat es viel leichter; er wird achselzuckend sagen, daß seine Machtvollkommenheit die kleinste sei, wird alle Verantwortung auf die Generalversammlung der Aktionäre schieben – und eine Generalversammlung ist keine Persönlichkeit, ist daher dem Haß und der Verachtung entzogen!

Diese Flucht der Großunternehmer aus der Oeffentlichkeit nimmt noch einen ganz andern Umfang an, seitdem auch der Staat von dem „sozialen Gewissen“ beeinflußt worden ist.

War man früher im Konfliktsfall nicht nur des materiellen Schutzes, sondern auch der herzlichen Uebereinstimmung mit den Behörden ganz sicher, so hat man jetzt doch schon oft mit einer allerdings nur bedingten Anteilnahme der Behörden für die Arbeiter zu rechnen. Es gibt zum wenigsten Vermittlungsversuche, gutes Zureden von hohen Stellen Appelle an Herz und Gemüt und andere derartige Dinge, die gerade einer Kampfnatur die Position gründlich verleiden können.

Und wenn dann der Staat, wie es in seltenen Fällen ja vorkommt, geradezu gegen die Betriebsleiter Partei nimmt; wenn er, wie mit der letzten Bergarbeiternovelle einen Teil der heiß umstrittenen Arbeiterforderungen – anbeflehlt, dann ist für den Unternehmer wieder ein sehr starkes Motiv gegeben, um sich mit seiner Persönlichkeit aus dem Kampf zu ziehen und nur noch sein unpersönliches Kapital weiter kämpfen zu lassen. Mag dann der Herr Oberpräsident oder der Minister oder sonst ein hoher Würdenträger sich mit der Generalversammlung auseinandersetzen: schon die Vorstellung ist unmöglich, daß jemand an das Mitleid oder das Gerechtigkeitsgefühl einer Generalversammlung zu appellieren versucht. Hier sitzen ja nicht Menschen, sondern Aktien.

Wie stark alle diese Gründe für die Entpersönlichung des Kapitals sind, erhellt am deutlichsten aus der Tatsache, daß neuerdings auch in der Welt des alt gefestigten, historischen Besitzes, in der Großlandwirtschaft , sich die gleiche Tendenz immer häufiger durchsetzt. Schon die kolossalen Ringbildungen für landwirtschaftliche Produkte, voran die erfolgreichste und größte, die Zentrale für Spiritusverwertung, sind Zeichen davon; und noch mehr zeigt das unaufhaltsame Wachstum einiger gewaltiger Aktienunternehmen für Rübenbau und Rübenzuckererzeugung, wohin die Reise geht. Das klarste Zeichen der Zeit aber ist die jüngst erfolgte Entpersönlichung des großen Berg- und Hütteneigentums einiger schlesischer Magnaten. Hier handelte es sich um mehr als um halbfürstliche Feudalrechte, um direkte Abkömmlinge des alten, dem fast souveränen „Landesherrn“ zustehenden Bergregals: und dennoch wird auch dieses uralte Gebilde im Feuer der wirtschaftlichen Entwicklung flüssig, ganz wie die jungen Schöpfungen des allermodernsten Industrieadels: nur daß die „Dynastie“, die hier mediatisiert wird, Fürsten im wirklichen und nicht nur im übertragenen Sinn sind.

Wer die Wirtschaftsgeschichte kennt, wird nicht darüber staunen. Ueberall drängen die gleichen Kräfte zu gleicher Entwicklung, wo die Wirtschaft auf den gleichen Grundlagen ruht: und diese oberschlesischen Magnatenherrschaften ruhen auf gleichen Grundlagen wie der britische Feudalbesitz und folgen daher dem Beispiel, das er ihnen gab. Auch die britischen Herzöge, Marquis und Lords sind wohl oder übel Begründer, Aufsichtsräte und sogar Direktoren von Aktiengesellschaften für Bergbau, Hüttenwesen, Industrie und Reederei geworden und haben ihre eigenen, noch aus der Feudalzeit stammenden Betriebe modernisiert und entpersönlicht.

Trotzdem wäre es verfehlt, wollte man daraus schließen, daß der ganze preußische Adel in einiger Zeit die gleiche Stellung zu Handel und Industrie einnehmen werde, die heute der britische hat. Denn nur ganz wenige der preußischen Geschlechter sind mit dem Maß des Inselreichs zu messen, eben nur die großen Magnaten. Weitaus die überwiegende Zahl unserer alten Familien aber hat nur einen im Verhältnis sehr bescheidenen Grundbesitz, dessen Erträge ihnen nicht gestatten, sich erfolgreich an Industrie und Handel zu beteiligen; und deshalb werden sie, im Gegensatz zu ihren britischen, viel reicheren und entsprechend viel weniger zahlreichen Standesgenossen, immer in Agrikultur und Viehzucht das Rückgrat ihrer wirtschaftlichen Existenz erblicken müssen.

Dieser Artikel erschien zuerst 1905 in Die Woche. Der Originalartikel war nicht bebildert, das Bild ist ein Beispielbild von anncapictures auf Pixabay.