1905, von Dr. Gertrud Bäumer. Bei uns in Deutschland ist man nicht sehr für den Gedanken eingenommen, erwachsene Menschen zum Zweck eines Studiums oder einer Berufsvorbildung ihrer persönlichen Selbständigkeit oder dem Leben mit ihrer Familie zu entziehen und sie in Instituten zu vereinigen. Den englischen Studenten nimmt, wenn er die Universität bezieht, die vornehme Abgeschlossenheit eines College von Oxford oder Cambridge auf, und sein ganzes Leben bestimmt fortan die Zugehörigkeit zu einer großen Gemeinschaft, die ihm für Arbeit und Erholung, Sport und Kirchgang ihre Regeln auferlegt, ihn aber auch an ihren Rechten und ihren stolzen Traditionen teilnehmen läßt. Bei uns hat man – abgesehen von den geistlichen und militärischen Anstalten – nur mit einer einzigen Art der Berufsbildung das Internatsleben verknüpft: mit der Lehrerbildung.
Und auch da hat sich seit Jahrzehnten schon eine starke gegnerische Bewegung mit Erfolg geltend gemacht. Seit 1872 hat man in Preußen fast keine neuen Internate mehr gegründet, so daß jetzt schon etwa die Hälfte der Lehrerseminare ihre Zöglinge nur für die Unterrichtsstunden aufnimmt. Man hat gefunden, daß der mit den Internatsleben notwendig verbundene Zwang keine geeignete Vorbereitung für die verantwortungsreiche Selbständigkeit sei, die der junge Lehrer sofort nach dem Austritt aus dem Seminar genießt. Dem mag nun sein, wie ihm wolle – vielleicht hat man in Deutschland die richtige Mischung von Zwang und Freiheit verfehlt – jedenfalls ist das, was für die Lehrerseminare gilt, nicht unbedingt auf die Ausbildung der Lehrerinnen anwendbar. Vielmehr scheint mir hier das Internatsleben bestimmte, ganz unzweifelhafte Vorzüge zu haben. Zunächst nämlich bedeutet das, was für den jungen Mann Freiheit ist: das Leben in der Familie oder in einer Privatpension, für das Mädchen oft die größere Gebundenheit. Die Erziehung der Familientochter folgt vielfach noch allzutreulich dem Schillerwort:
“In der Mutter bescheidener Hütte
Sind sie geblieben mit schamhafter Sitte.”
Der meist ein wenig verwöhnte Backfisch lernt in der größeren Gemeinschaft die zaghafte oder weichliche Unselbständigkeit überwinden, die so viele aus dem Elternhaus mitbringen, lernt als Glied eines Ganzen Selbstbeherrschung und die Rücksicht auf einen großen Kreis von gleichgestellten Gefährten, zu der die Familie nicht erziehen kann. Und auch in gesundheitlicher Hinsicht bietet ein Internat manche Vorzüge. Unsere Seminaristinnen haben fast alle die Neigung, sich in törichter Weise zu überarbeiten; das Machtwort der Mutter oder des Vaters versagt gegenüber dem unkontrollierbaren: “Wir müssen das aber bis morgen können” – das die jammernde Tochter allem Zureden entgegensetzt. Im Internat lernt sie, sich einer vernünftigen Zeiteinteilung unterordnen; jede tatsächliche Ueberlastung wird sofort als solche erkannt und kann abgestellt werden. Dazu fallen alle die Ansprüche weg, die törichte Mütter durch ein Uebermaß von geselligen Verpflichtungen vielfach noch an die Kräfte ihrer Töchter machen, und an die Stelle solcher häufig recht zweifelhaften Erholungen können Sport, Spaziergänge, gesundere und harmlosere Feste treten.
Es ist deshalb erfreulich, daß die preußische Regierung bei der Errichtung von Lehrerinnenseminaren mit der sie freilich nicht allzufreigebig ist – nicht das gleiche Prinzip verfolgt wie bei der Lehrerbildung, sondern auch neue Anstalten noch als Internate begründet.
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Nach allen hygienischen und ästhetischen Ansprüchen eingerichtet, mit reicher Gelegenheit zu Sport, Spaziergängen und Aufenthalt im Freien versehen und dazu in frischem, jugendlich freiem Geist geleitet, können solche Anstalten wohl Pflanzstätten eines körperlich kräftigen, geistig elastischen Lehrerinnenstandes werden.
Das Königliche Lehrerinnenseminar zu Burgsteinfurt in Westfalen, von dessen Einrichtung und Leben die beigegebenen Aufnahmen ein Bild geben, darf wohl als eine Musteranstalt in diesem Sinn bezeichnet werden.
Das stattliche Seminargebäude, das erst am 1. Oktober 1905 eingeweiht wurde, liegt vor den Toren der Stadt; jenseits seiner Turn- und Lawn-Tennisplätze, des Botanischen Gartens und der zum Seminar gehörenden Anlagen dehnt sich die charakteristische Wiesen- und Heidelandschaft des Münsterlandes; auf der einen Seite grenzt ein prachtvoller Hochwald dicht an die Seminargrundstücke und ladet zu stundenweiten Sonnnerspaziergängen ein. Das Internat für die 90 Seminaristinnen umfaßt elf Wohnzimmer und fünf große Schlafsäle mit anschließenden Badeeinrichtungen, Wasch- und Toilettenräumen; gemeinsam sind der Speisesaal und ein Besuchs- und Erholungszimmer. So sehr in der ganzen Einrichtung die preußische puritanische Einfachheit, auf die wir immer noch ein wenig stolz sind, oberstes Gesetz gewesen ist – unsere Abbildungen lassen doch hie und da erkennen, daß eine schöne künstlerische Freude an Schmuck und Farbe auch in einem staatlichen Lehrerinnenseminar grüne Zweige über kahle Mauern und schmucklose Bücherschränke spinnt. Und auch von den Wänden der Uebungsschule, in der gerade eine Lehrseminaristin eine Probelektion erteilt (Abb. S. 31), verkündet die “Kunsterziehung” mit dem prächtigen Klapperstorchbild von Fikentscher, mit Ubbelohdes humorvoller Charakterstudie vom Hühnerhof und manchen andern guten Bekannten ihr fröhliches Evangelium. Zu diesem Evangelium bekennt sich auch das Bild von dem Zeichensaal des Seminars (Abb. untenst.). Statt der noch vor kurzem üblichen Vorlagen erhebt sich vor jeder Schülerin irgendein wirklicher Gegenstand – der Zeichenunterricht soll nicht nur lehren, Linien genau und sauber nachzuziehen, er soll alle künstlerischen Kräfte des jungen Menschen heben und entfalten, die Welt der Dinge mit dem Reiz ihrer Farben und Formen erschließen, Eindrücke treu aufnehmen, aufbewahren und mit einfachen Mitteln reproduzieren lehren. In unserm modernen Zeichenunterricht steckt ein ganzes Programm, ein Stück der Weltanschauung, die auch in der Schule an die Stelle der grauen Theorie das frische, sprudelnde, unerschöpfliche Leben setzen möchte.
In solchem Geist erfaßt und ausgeübt, ist der Lehrerinnenberuf immer noch der Frauenberuf par excellence, der Beruf, von dem man – einen gesunden elastischen Menschen und einigermaßen günstige Berufsverhältnisse vorausgesetzt – immer noch am sichersten erwarten kann, daß er das weibliche Bedürfnis nach Lebenserfüllung dauernd befriedigen wird. Die Aussichten auf Anstellung sind vermutlich noch für lange hinaus gut.
Schon seit Jahren haben die Stellenvermittlungsbureaus, z B. das des Allgemeinen deutschen Lehrerinnenvereins, ein Ueberangebot an Stellen, die sie nicht besetzen können.
Das Bedürfnis nach Erzieherinnen bleibt das gleiche, und an den Schulen, privaten und öffentlichen, nimmt die Anstellung von Lehrerinnen immer noch sehr stark zu. Wir begrüßen das freudig; nicht nur im Interesse der Arbeit suchenden Frauen, sondern auch im Interesse der Schule! Denn wenn wir auch eine „Verweiblichung“ des Unterrichtswesens, wie sie die Vereinigten Staaten zeigen – dort sind in der Volksschule 12/13 aller Lehrkräfte weibliche – sicher nicht wünschen, so wäre doch die gleiche Beteiligung beider Geschlechter am Unterrichtswesen natürlich; und davon sind wir in Deutschland noch weit entfernt. Der Lehrerinnenstand hat eben bei uns erst eine kurze Geschichte, und das gibt den Berufs- und Ausbildungsverhältnissen noch vielfach ihr Gepräge. Als um die Mitte des 19. Jahrhunderts die ersten Lehrerinnenbildungsanstalten geschaffen wurden, ging man von dem Gedanken aus, all die vielen mittellosen Beamtentöchter so schnell wie möglich für irgendeine Verwendung in Schule oder Haus notdürftig zuzustutzen. An eine Berufsausrüstung, wie sie damals schon die Lehrer besaßen, dachte man gar nicht; man betrachtete die Frau von vornherein als Lehrer zweiter Klasse, eine Art Gehilfinnen, mit denen man etwaige Lücken stopfte. Die Schule aber ruhte im eigentlichen Sinn ganz auf den Schultern des Lehrers. In einem Jahr oder höchstens in zweien bereitete man die jungen Mädchen auf ein Examen vor, das, viel leichter als das Lehrerexamen, zugleich für die Volksschule und die höhere Mädchenschule berechtigte. Mit der Entwicklung des Mädchenschulwesens sind nun aber die Ansprüche an die Lehrerinnen gestiegen. Und dieser Entwicklung ist die Lehrerinnenbildung gefolgt. Aus einem oder zwei Seminarjahren sind – wie bei den Lehrern – drei geworden.
Die Altersgrenze für die Zulassung zum Examen ist auf neunzehn Jahre hinaufgeschoben. Bewerberinnen, die keine pädagogisch praktische Vorbildung nachweisen können, werden zum Examen nicht mehr zugelassen.
Natürlich sind auch die Aufnahmebedingungen in den Seminaren verschärft worden; meist galt die Bildung einer höheren Mädchenschule als Voraussetzung des Seminarbesuchs. In einzelnen Seminaren hat man, um auch Mädchen mit geringerer Schulbildung den Lehrerinnenberuf zugänglich zu machen, Vorkurse geschaffen, die den Schülerinnen vor dem Eintritt ins Seminar Gelegenheit geben, sich die nötigen Kenntnisse anzueignen.
Das Examen berechtigt freilich, wenn es zugleich in fremden Sprachen abgelegt wird, immer noch auch zum Unterricht in der höheren Mädchenschule, aber durch die Einführung des Oberlehrerinnenexamens ist diese Berechtigung tatsächlich mehr und mehr auf die unteren Klassen eingeschränkt. Auf der andern Seite hat man eingesehen, daß die künftige Volksschullehrerin in mancher Hinsicht einer besonderen Berufsausrüstung bedarf, die in ihrer Art keineswegs tiefer stehen darf oder leichter zu erwerben sein kann, als die einer Elementarlehrerin für höhere Schulen. Darum hat man hie und da besondere Volksschullehrerinnenseminare gegründet, die sich der Art nach möglichst den Lehrerseminaren anschließen. Burgsteinfurt ist ein solches.
Der Hauptgrund, weshalb die Lehrerinnenbildung noch nicht zu so geordneten, gleichmäßigen Verhältnissen gekommen ist wie die Lehrerbildung, ist die verschwindend kleine Zahl von staatlichen und städtischen Anstalten gegenüber den zahllosen, oft sehr primitiven Privatseminaren. Es gibt in Preußen nur 12 staatliche Lehrerinnenseminare gegen 125 für Lehrer; der Staat gibt annähernd 41 Millionen im Jahr für die Lehrerbildung und noch nicht 400 000 Mark für die Lehrerinnen aus, ein Defizit zuungunsten der Lehrerinnen, das nur zum Teil durch gute städtische Seminare ausgeglichen wird. Doch ist wohl mit Sicherheit zu erwarten, und die neue Musteranstalt zu Burgsteinfurt mag eine schöne Bürgschaft für diese Erwartung sein, daß auch der Staat – er ist in diesem Fall beinah gleichbedeutend mit dem Finanzminister – immer mehr dazu beitragen wird, den Lehrerinnen die gleichen Chancen für eine gute Berufsbildung zu geben wie den Lehrern.
Dieser Text erschien zuerst in Die Woche 1905.