Aus dem „Goldenen Westen“

In aller Mund war in den fünfziger und sechziger Jahren das Land Kalifornien. Reiche Goldfunde waren gemacht worden, in kürzester Zeit gelangten Vermögenslose zu märchenhaftem Reichtum; man brauche nur das Gold von der Erde aufzunehmen, hieß es, und daran war etwas Wahres.

Tausende und Abertausende strömten nach dem Zauberland, vielen glückte ihr Vorhaben, andere verloren ihr Erworbenes wieder und nicht selten auch das Leben, denn es waren wilde Gesellen, die ins Land kamen, und ein Menschenleben stand nicht hoch im Wert.

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Nach und nach traten geordnetere Zustände ein, den einzelnen Goldgräber verdrängten die Gesellschaften, die Maschine trat in ihr Recht, und heute sind wohl alle leicht erreichbaren Fundorte des edlen Metalls so erschöpft, daß ein Einzelner mit „Goldsuchen“ nicht mehr seinen notdürftigsten Unterhalt gewinnen dürfte. Mit ausgezeichnetem Maschinenmaterial und möglichster Ersparnis der sehr teuren Handarbeit werden heutzutage auch noch arme Golderze mit Gewinn verarbeitet, und Kalifornien produziert immer noch jährlich Gold im Wert von über sechzig Millionen Mark.

Eine Riesenhotel in San Francisco
Die berühmte Licksternwarte auf dem Mount Hamilton bei San José

Aber ein anderes Wunder ist geschehen. Das ehemals wüste, unfruchtbare Land ist auf weite strecken in ein wogendes Aehrenfeld und üppige Obstgärten umgewandelt worden. Menschlicher Fleiß hat dem trockenen Boden durch großartigste Bewässerungsanlagen das notwendige Wasser zugeführt, und nun blüht und gedeiht es, wie kaum in einem andern Land. Eine wunderbare gleichmäßige Temperatur ohne übermäßige Hitze, wie sie so oft im Osten Amerikas auftritt, monatelange Fehlen jeden Regens und dabei Wasser im Ueberfluß, fruchtbarer Boden – das alles sind ideale Faktoren für eine nutzbringende Landwirtschaft. Das Resultat waren beispielsweise im Jahr 1900 eine Ausfuhr von 20 Millionen Zentnern Weizen (neben großen Mengen andern Getreides) und 10,6 Millionen Zentner gleich 5 000 Waggons Früchte aller Art, frische, getrocknete und eingemachte.

Riesige Landstrecken sind zu Fruchtgärten umgewandelt so das Thal des San Joaquin River, wo der Himmel im Jahr an 240 bis 250 Tagen wolkenlos ist. Auch Vieh wird viel betrieben, vorzügliche Pferde , Rinder und Schafe werden in großen Massen gezogen.

Blick auf die Market Street in San Francisco

Mit dem allgemeinen Aufschwung des Landes gelangten naturgemäß auch die Städte zur Blüte.Die Hauptstadt im handelspolitischen Sinn, San Francisco, war im Jahr 1850 ein Dorf von 500 Einwohnern, heute ist es eine prächtige Stadt von über 350 000; Los Angeles, die Stadt der Orangen und Zitronen, besitzt über 200 000 Einwohner. San Francisco liegt an der Sacramentobucht unweit des „Goldenen Thores“, das den Ausgang der Bucht nach dem stillen Ozean zu bildet. Bei der Anlage der Stadt war mit großen Schwierigkeiten zu kämpfen, Hügel wechselten mit Thälern ab, ebene, leicht bebaubare Strecken waren kaum vorhanden. Es wurde viel planiert, bedeutende Sprengungen vorgenommen, aber trotzdem ist das Aussehen der Stadt noch sehr eigentümlich. Lange Straßen führen z. B. über drei bis vier Hügel und durch ebensoviele Thäler, wobei es ohne oft recht bedeutende Steigungen nicht abgeht. Die Stadt besitzt zur Zeit riesige Bauten. Namentlich die Zeitungsgebäude und Hotels zeichnen sich durch ihre Mächtigkeit aus. Das Straßenbahnsystem von San Francisco ist berühmt. Mit Neid kann der Berliner auf das außerordentlich schnelle Fahren, die schnelle Aufeinanderfolge der Wagen und ihre gute Ausstattung schauen. Der Betrieb ist teils elektrisch mit Oberleitung, teils mit unterirdischer Stromzuführung, teils nach dem Kabelsystem eingerichtet. Die Hauptstraße, Market-street besitzt vier, an einzelnen Stellen auch fünf Geleise, auf denen die „Cars“ in größter Eile dahinsausen.

Panorama von San Francisco

Sonderbare Verhältnisse haben sich durch den Umstand herausgebildet, daß alle Rohprodukte, Nahrungsmittel außerordentlich billig, menschliche Arbeit dagegen sehr teuer ist. Ein gewöhnlicher Arbeiter verdient 2,50 Dollars (10,50 Mark) auf den Tag, ein Vorarbeiter bis zu 10 Dollars (42 Mark). Ein rentables Unternehmen kann nur entstehen, wenn nach Möglichkeit mit Handarbeit sparsam umgegangen wird, dagegen überall Maschinen verwendet werden. In der Stadt hat die Straßenbahn ganz die Stelle der Droschken anderer Großstädte eingenommen. Kutscher können nur sehr reiche Leute bezahlen; oft ist es aber angenehm und notwendig, einen Wagen zu benutzen. Wagen und recht gute Pferde sind billig zu haben, und so kutschiert man eben selbst und bindet, während man seine Geschäfte besorgt, das Pferd an einen der dazu bestimmten Ringe in der Bordschwelle oder an besonderen eisernen Anbindepfählen. Man sieht fortwährend einzelne Damen, Kinder in ihrem flinken „Buggy“ durch die Stadt fahren und in allen Straßen unbeaufsichtigte Fuhrwerke.

Der große Reichtum des Landes zeigt sich in dem luxuriösen Leben eines großen Teils der Bewohner und vorübergehenden Gäste von San Francisco, in den prächtigen öffentlichen Anlagen, wie Parks von riesiger Ausdehnung, Bädern u. s. w. Einzelne Kalifornier sind bekannt geworden durch ihre riesigen Stiftungen, die sie zum Besten der Allgemeinheit für wissenschaftliche Zwecke gemacht haben. Dem Legat eines hochsinnigen Mannes verdankt zum Beispiel die berühmte Lick-Sternwarte auf dem Mt. Hamilton nahe San José ihr Dasein. Mit dem dortigen 36 zölligen Fernrohr einem der größten der Welt – sind eine Reihe sehr wichtiger astronomischer Entdeckungen gemacht worden.

Die Bohrtürme zur Oelgewinnung in Los Angeles (Kalifornien)

Reiche Erze, die Erzeugnisse des Ackerbaus und der Viehzucht haben Kalifornien groß gemacht, trotzdem eins fehlte: billiges Brennmaterial. Die Kohlen müssen weit her vom Ort ihrer Gewinnung gebracht werden und haben daher einen hohen Preis In den letzten Jahren ist nun im Land selbst Brennmaterial aufgefunden worden, das der Kohle in vieler Beziehung überlegen ist: das Petroleum. Reiche Lager finden sich in der Grafschaft Kern bei Bakersfield, ferner nahe Los Angeles u. f. f. und gestatten einen so niedrigen Preis für das Rohpetroleum zu stellen, daß eine große Anzahl namentlich kleinerer Betriebe die Feuerung mit Kohlen verlassen hat und dabei bis zu 50 Prozent Ersparnis erzielt.

Dieser Artikel von Dr. Karl Wiegand erschien zuerst am 09.08.1902 in Die Woche.