Charlotte Wiehe

Es war im Sommer 1897, in Klampenborg. Nicht weit davon war ein Vergnügungszug entgleist, an hundert Menschen waren umgekommen. Prinzessin Marie von Dänemark, Kopenhagens guter Engel, hatte ihr „gelbes Palais“ verlassen, als erste Hilfe ein Wohlthätigkeitskonzert in Klampenborg arrangiert.

Es war vom guten Zweck abgesehen, für Fremde ein zweifelhaftes Vergnügen, da viel dänische Deklamation auf dem Programm stand. Hermann Bang sprach den Prolog, ein Kopenhagener Schauspieler deklamierte etwas – da huschte als Nummer drei ein blondes, zierliches, elfenhaftes Wesen auf die Bühne, es sprach, sang, tanzte ich weiß weder was, noch in welchem fremden Idiom, nach unbekannten Melodien. Rhythmen; ich weiß nur, daß ein Genie in seinen ureigensten Lauten seine eigene Sprache redete, jene Sprache, die noch jeder verstanden, die stets zu Herzen geht, weil sie von Herzen kommt! Ich erinnere mich heute noch, welch ein Beifallssturm das Haus durchbrauste, wie die königliche Familie das süße Geschöpf bejubelte, das nun ein schwermütiges dänisches Volkslied mit Thränen in der Stimme sang, um wenige Minuten später mit den „Cloches de Corneville“ zu entzücken, und schließlich ein Andersensches Märchen vortrug: die dänische Muse selbst schien ihrem größten Sohn stimme zu leihen! Das war Charlotte Wiehe!

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Vier Jahre später sah ich sie in Monte Carlo im „Palais des beaux arts“ wieder. Eine vom internationalen Ruhm gekrönte Frau! Im „théatre des Capucines in Paris war ihr Stern aufgegangen. Bereny, ihr Gatte, hatte „la main“ geschrieben, die Wiehe in dieser Rolle ein Meisterwerk geschaffen! Man muß die Herzensangst sehen, mit der sie wie ein verirrtes Vögelchen über die Bühne flattert, wie sie mit zitternder Hand sich an den Hals greift, als wolle sie die Angst beschwichtigen, die ihr die Kehle zuschnürt, und man muß dann die Wiehe stumm lachen, jubeln sehen, um sie für die erste lebende Mimikerin anzuerkennen! Und in der Doppelrolle des „l’homme aux poupées“, wo die Gattin auf die Puppe eifersüchtig ist, wo sie auf der Schwelle die Rolle wechselt, aus der lebensfreudigen Frau die tote Puppe wird – hier erreicht die Wiehe den Moment höchster, größter Kunst, den ihr kleines Genre bietet. Und es ist jammerschade, daß Frau Wiehe sich hauptsächlich auf die Pantomimen verlegt; wer so im stummen Spiel entzücken, ergreifen kann, dem müßte das Wort, der Ton zu unerreichten Siegen helfen! Ich weiß die Gründe nicht, weshalb diese große Künstlerin sich ein so kleines Feld in letzter Zeit erwählt.

Charlotte Wiehe

Charlotte Wiehe ist in Kopenhagen geboren und gehörte dem Ballett der dänischen Hofoper an, trat dann in Salonkomödien Operetten auf, bis sie in Paris unter Cherès Leitung sich auf die Pantomime verlegte.

Ist die Wiehe in ihrem Genre durch den Ruhm hors de concours, so ist sie im Leben, im Salon eine der entzückendsten. anmutigsten Erscheinungen die graziöseste Verquickung der rosig blonden Frauenschönheit ihrer Heimat mit dem raffinierten Boulevardgeschmack ihres zweiten Vaterlandes; seit drei Jahren hat die „dänische Pariserin“ die Seinestadt zum ständigen Aufenthalt erwählt, die sie nun verläßt, um auf einem neuen Siegeszug neue Lorberen auf ihr blondes Köpfchen zu häufen.

Dieser Artikel erschien zuerst am 13.09.1902 in Die Woche, er war gekennzeichnet mit „Truth“.