Ein Vorgesicht der amerikanischen „Wolkenkratzer“

Ein Vorgesicht der amerikanischen Wolkenkratzer

(Vergl. Dtsch. Bztg. 1894 No, 84 und Jahrg. 1900 No. 40.)

Wer kann was Dummes, wer was Kluges denken,
Das nicht die Vorwelt schon gedacht“.

Goethe.


Wie wenig man geneigt ist, die hohen thurmartigen Wohngebäude New-Yorks und anderer Städte Amerikas vom künstlerischen Standpunkte aus zu würdigen, bezeugt schon der Name, welchen Spottsucht für dieselben erfand. Man entschuldigt allenfalls ihre Daseinsberechtigung damit, dass die Erbauer der Noth gehorchen, nicht dem inneren Triebe; nur der denkende Techniker bewundert die Bewältigung der Schwierigkeiten der Ausführung seitens seiner Kollegen – der Rest ist Staunen.

Niemand hält es für möglich, dass ein Bauprogramm, wie es hier von der Nothwendigkeit diktirt, den Gebäuden zur Grundlage diente, auch der rein künstlerisch-schöpferischen Phantasie eines Architekten entspringen könnte – und doch ist dies der Fall bei einem jetzt gerade 300 Jahre alten Entwurf zu einem „grand excellent pauillon“ der vorstehend wiedergegeben ist.

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Der Zufall spielte mir einen seit Jahrzehnten in ungestörter Ruhe zwischen seinen Altersgenossen ausharrenen Folianten wieder in die Hände: „Des fortifications et artificis, architecture et perspective de Jaques Perret, Gentilhomme Savoysien de Chambery“; so lautet der von einem schön gegliederten und mit Figuren bekrönten Triumphbogen umrahmte Titel des Werkes. Die miniaturartige Vogelschau einer Belagerung von Paris schmückt den unteren Theil des von Verfasser erfundenen und von Thomas de Leu am 22. März 1594 im Stich vollendeten Blattes. Eine Zueignung an König Heinrich IV. in kurzen, aber überschwänglichen Worten vom 1. Juli 1601, dann der Wortlaut des erst am 4. Juli 1607 auf 10 Jahre verliehenen Privilegiums für den Vertrieb bilden die ganze Einleitung. Der Inhalt besteht aus einer Folge von Entwürfen zu kleineren, dann immer ausgedehnteren Festungsanlagen, aus einigen Blättern mit Kriegsmaschinen und architektonischen Entwürfen, je 1 Kupferstich und 1 Blatt Erläuterungen ohne Seitenzahl aneinandergereiht. Alle in Kupfer gestochenen Blätter, mit Umschriften religiösen Inhaltes ausgestattet, zeigen das Wappen Perrets, seinen Namen und die Bezeichnung Inventeur; auf einem derselben schmückt sich der gottesfürchtige Mann auch schon stolz mit der Devise: „qui craint Dieu ne craint rien autre“.

Ein Vorgesicht der amerikanischen Wolkenkratzer
Ein Vorgesicht der amerikanischen Wolkenkratzer

Zu den letzten Blättern zählt nun der inrede stehende Entwurf, dargestellt in einem geometrischen Grundrisse, einer Ansicht und einem Horizontalschnitt in Parallelprojektion. Der Maasstab ist die Toise zu 6 Fuss od. 1,95 m. Der „Erläuterungsbericht“ bewegt sich in den trockensten Aufzählungen der Räume und Maasse sodass nur die Umschrift der Blätter: „Il faut monter au plus haut pour contempler et le ciel et la terre et les choses qui y sont a fin dado‘“ und der letzte Satz jenes, es könnten bequem 500 Personen „á leur aise“ in dem Pavillon wohnen, ein Bauprogramm andeuten. Auf einer Grundfläche von 26 zu 22 Toisen (156 zu 132 Fuss) erhebt sich über einem geböschten Unterbau (für die Kellerungen) ein Septizonium von 35 Toisen (210 Fuss) Höhe bis zum Hauptgesims, darüber noch ein gallerieartiger Aufbau von 10 Toisen (60 F.).

Die grosse Stockwerkshöhe von 5 Toisen (30 F.) bietet zur Anordnung von Zwischengeschossen Gelegenheit – aber ein durch die ganze Tiefe des Gebäudes geplanter Saal von 18 zu 7 Toisen Grundfläche hat 10 Toisen Höhe erhalten: „avec deux fenestrages, l’un sur l’autre pour belle perspective et grande beauté comme un theatre”; eine ausgekragte Gallerie soll hier im Inneren herumgeführt werden, wie sie auch in ähnlicher Form im Aeusseren das Gebäude in jedem der 7 Stockwerke, wie über dem Hauptgesims umgeben. Das grosse Treppenhaus befindet sich in der Mitte der Anlage, kleinere Treppen sind zumtheil in den 12 Fuss dicken Aussenwänden, zumtheil im Inneren angeordnet. Ueber den Kellern befinden sich links die Küchenanlagen, die Bäckerei, die Wasserversorgung usw. Der stattliche Aufbau über dem Hauptgesims ist als grosse Gallerie gedacht, doch kann man diese Räume auch anders ausnutzen, „en grand varieté au plaisir du Prince qui fait faire le bastiment.“ Bronzene Feuerbecken schmücken die obere Terrasse.

Es ist anzunehmen, dass der Entwurf nicht ganz ohne den Hintergedanken einer Ausführung entstanden und ehrlich gemeint ist; nur ist auffällig, dass eine doch nothwendige und auch damals irgendwie ausführbare Aufzugsvorrichtung keine Berücksichtigung erfahren hat, während fast Alles so durchdacht ist, dass man ohne grosse Aenderungen das Gebäude heute ausführen und der Benutzung übergeben könnte, Vielleicht wird es von dieser abhängen, ob der ästhetische Zweck dieses Thurmwohnhauses, wie er dem Verfasser wohl vorschwebte: die Bewohner in gehobener Stimmung zu erhalten, erreichbar ist, wie es dem Erbauer des Eiffelthurmes geglückt ist, oder nicht, Vielleicht ist er aber auch in vielen Fällen erreicht – ich kann darüber aus eigener Erfahrung nicht urtheilen -, dann wird man versuchen müssen, die „Wolkenkratzer“ mit etwas günstigeren Blicken zu betrachten, als es bisher der Fall war.

Dieser Artikel erschien zuerst am 08.06.1901 in der Deutsche Bauzeitung, er war gekennzeichnet mit „E. J.“.