Eine tiefe Lücke hat das 19. Jahrhundert noch in seinem letzten Jahr in die Reihen der großen Männer gerissen, von denen die Technik, nicht in ihrem gewöhnlichen Alltagstrott, aber in ihren großen und außerordentlichen Werken und Fortschritten lebt, jener Männer wie Stephenson, Brunel, List, Krupp, Siemens, Lesseps u. a. m., deren Namen, wie mit mächtigen Denksteinen, mit umwälzenden Neuerungen oder enormen Einzelwerken des technisch-industriellen Lebens unverrückbar verbunden sind.
Zu ihnen gehörte auch der Mann, dem und dessen letztem Lebenswerk die folgenden Zeilen gewidmet sind. Am 5. April 1899 starb in Zürich, wo er geboren wurde, der kühnste schweizerische Eisenbahnmagnat Guyer-Zeller (Portr.) dessen Name durch sein genial erdachtes und mit felsenfestem Zuvertrauen ins Werk gesetztes Unternehmen der Jungfraubahn weiteren Kreisen der gebildeten Welt bekannt geworden ist, als durch alle seine früheren glücklichen Spekulationen.
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Er ist auf dem Feld seiner Arbeit, zu den Füßen der gewaltigen Bergriesen gestorben, die sein Geist auch noch nach seinem bezwingen wird, wie Favre, der Bändiger des St. Gotthard, den vor der Vollendung seines Tunnels das Geschick wie Alfred Brandt, der die Vollendung des Simplontunnels ebenfalls nicht erleben sollte, wie Imfeld, der den Plan zur Gornergratbahn entwarf und dann am Montblanc ein Opfer seines gefahrvollen Berufs wurde, bevor noch zu dem erstaunlichen Werk, das sein Geist ersonnen, die erste Schwelle gelegt war.
Die Berge sind grausam, furchtbar und erbarmungslos. Wie sie den, der ihre Hochzinnen betritt, gleichgiltig abschütteln beim ersten Fehltritt, beim geringsten Schwindel, so scheint ihr Haß jeden zu verfolgen, der sich vermißt, ihnen die Fesseln des Weltverkehrs anzulegen.
Die Jungfraubahn und der Simplontunnel – beide gehören zu dem Erbe, das vom 19. Jahrhundert dem 20. zur Vollziehung hinterlassen worden ist. Keins der beiden Riesenwerke ist vor der Jahrhundertwende zur Vollendung gekommen, dennoch sind beides echte Erzeugnisse des 19. Jahrhunderts, in dem Wagemut, den sie erforderten, und in dem schweren Ringen, das notwendig ist, um heute Schwierigkeiten zu besiegen, die der vervollkommneten Technik späterer Zeiten vielleicht belanglos erscheinen werden.
Das Gelingen der Jungfraubahn stand so ganz auf zwei Augen, daß sie vielleicht in Jahrzehnten nicht begonnen worden wäre, wenn sich diese zwei Augen zwei Jahre früher geschlossen hätten, ja daß sie vielleicht, wenn auch damit die Verzinsung des bereits aufgewandten Kapitals erreicht werden kann, weit unter dem Gipfel des königlichen Ziels am Mönch ihr Ende erreichen wird! Und die Bauschwierigkeiten des andern Riesenwerks, des Simplontunnels, sind so groß, daß Alfred Brandt, der schon am Gotthard geschulte Altmeister der Tunnelbohrung, ein ganz neues Arbeitssystem erfinden mußte, um der zu erwartenden Gesteinshitze Herr zu werden.
Schenken wir heute nur einer der beiden Unternehmungen, der von der kleinen Scheideck die Eisgrate des Mönch, Eiger und ihrer stolzen Königin aufsuchenden Jungfraubahn, einen flüchtigen Blick.
Nachdem alle äußeren Schwierigkeiten der Kapitalbeschaffung, Tracenführung, Konzessionserlangung, der Ueberzeugung, daß keine schädlichen Folgen mit der Fahrt auf 4000 Meter Höhe verbunden sein würden, überwunden waren, begann im Jahr 1896 die Vorbereitung des Bahnkörpers und im nächsten Jahr die Ausführung der Jungfraubahn. Gerade auf der ersten offenen Strecke, von der Jochstation der Wengernalpbahn (2070 Meter) bis zu dem 270 Meter höheren Fuß des Cigergletschers (vergl. Bild), nahm die Arbeit, ohne große Schwierigkeiten zu bieten, doch verhältnismäßig viel Zeit in Anspruch. Wo der Schnee nur während vier Monaten soweit von den Hängen weicht, daß im Freien gearbeitet werden kann, ist kein bedeutender Fortschritt zu erwarten, zumal das Unternehmen in der ersten Zeit, als an die Möglichkeit der Ausführung eigentlich doch nur Guyer-Zeller selbst glaubte, auch noch mit finanziellen Schwierigkeiten zu kämpfen hatte.
Endlich – im Frühsommer 1898 waren 350 bis 400 Leute auf dem kurzen Stück bis zum Eigergletscher und dem bereits begonnenen Tunnel des Eiger beschäftigt – konnte die erste Sektion eröffnet werden. Statt Mitte Juli war es der 19. September geworden, als von Lauterbrunnen und Grindelwald die langen Wagenreihen der Wengernalpbahn die Menge der Festgenossen nach Klein-Scheideck, die Jungfraulokomotiven sie hinauf zum Gletscher unter der Eigerwand brachten, wo in erhabener Einsamkeit das Festspiel: „Eiger, Mönch und Jungfrau“ symbolisch den Kampf des Menschen mit den Berggewalten wieder Schöpfers erster und letzter großer Tag auf der Arbeitstätte, wo er eine Festversammlung aus allen Teilen Europas um sich versammelt hatte.
Als die Sommersonne zum zweitenmal den Schnee von den Gleisen der Hochbahn leckte, hat das Auge Guyer-Zellers sie nicht mehr gesehen. Schon jetzt konnte man übrigens den Besuchern ein hübsches Stück des Tunnels zeigen, in dem nunmehr, vom zweiten Winter an, mit verdoppelten Kräften gearbeitet werden konnte, nachdem die an der Lütschine aufgestellten Dynamomaschinen ihre Arbeit aufgenommen hatten und ihren Strom hoch in die Totenstille der Felseinsamkeit hinaufsandten. Bald wurde mit den Berliner elektrischen Bohrmaschinen und unter allnächtlichen Sprengungen dem Tunnel ein Fortschritt von 3 ½ bis 4 Meter in je 24 Stunden abgewonnen; man durfte hoffen, es täglich auf 5 Meter zu bringen, und hat dies Ziel wohl inzwischen auch erreicht. Die erste, bereits interessante Blicke in das Gebiet der Gletscher und des ewigen Eises gewährende Sektion wurde sofort nach der Einweihung eröffnet.
Mit dem Eintritt des Winters begann die klösterliche Abschließung der Arbeiter und Betriebsleiter von aller Welt, die aber keineswegs eine Unterbrechung der Arbeiten bedeutete. Mitten im tiefen Schweigen des Hochgebirgswinters, unter der ungeheuren Eis- und Schneedecke des Eiger, wühlte sich der Tunnel, stetig aufsteigend, immer tiefer und tiefer in den Berg hinein.
Es kamen verhängnisvolle Tage. Arbeitseinstellungen, mit denen die aufgehetzten Arbeiter mehrfach drohten, wurden mit Energie und Klugheit vermieden oder auf einige Tage beschränkt. Am 27. Februar 1899 nachts ereignete sich am Tunnelende jene verhängnisvolle Dynamitexplosion, der sechs Arbeiter zum Opfer fielen. Kein in der Nähe der Arbeitstätte Befindlicher blieb übrig, um über die Ursachen des schrecklichen Unglücks Aufschluß zu geben.
Am 7. März war man nicht allein an die vorher berechnete Stelle gelangt, wo sich der Haupttunnel der tief einspringenden Wand der Rotstockschlucht auf wenige Klafter nähert, sondern hatte auch bereits den acht Meter langen Querstollen geschlagen, der an dieser Stelle, wo die Station Rotstock vorgesehen war, aus der Nacht des Tunnels ans Licht führt (vegl. Bild). Das war die letzte gute Nachricht, die den Schöpfer von seinem Werk erreichen sollte; vier Wochen später schloß er die Augen auf immer.
Damit scheint das Tempo der Arbeiten bedeutend nachgelassen zu haben, denn es hätte wohl sonst möglich sein müssen, die Schienenverlegung und Fertigstellung der 1 ½ Kilometer langen Tunnelstrecke bis Rotstock rechtzeitig zu bewirken, um mit dem Saisonbeginn gleich die Strecke Klein-Scheideck-Rotstock zu eröffnen. Aber man begnügte sich einstweilen – eine Aktiengesellschaft war inzwischen glücklich zustande gebracht worden – am 13. Juni die offene Strecke bis Eigergletscher wieder in Betrieb zu nehmen und die Eröffnung des ersten Tunnelstücks auf den 10. Juli zu verschieben.
Es wurde dann doch leider der 1. August, bevor die Abnahme der zweiten Sektion erfolgte, und am 2. nachmittags rollte der erste, von 60 Personen gefüllte Waggon bis zur Rotstockgalerie; der fahrplanmäßige Betrieb, beiläufig für 3 Franken bis Eigergletscher, 5 Franken bis Rotstock, nahm damit seinen Anfang.
Diese Station bietet bereits wundervolle, von der Kleinen Scheideck nicht entfernt zu erreichende Ausblicke in die Hochgebirgswelt. Am Ausgang des Querstollens sieht man auf die Bergkette zwischen der Scheideck und Interlaken hinaus und befindet sich zwischen riesigen, senkrechten Felskulissen; ein Weg führt den Besucher auf die 100 Meter höhere Rotstockspitze mit ihrem gewaltigen Panorama vom Eiger bis zur Jungfrau.
Der Hochsommer des vergangenen Jahres wurde größtenteils durch die Erforschung und Festlegung der Streckenfortsetzung durch bewährte Fachleute ausgefüllt. Bei dem Eintritt des Winters und dem Ende der kurzen Hochgebirgssaison, die denn doch dem Anfang der Jungfraubahn noch gegen 20 000 Gäste und 70 000 Franken eingebracht hatte, ist dann die Weiterarbeit im Tunnel kräftig wieder aufgenommen worden. Was nun die Zukunft dem Unternehmen bringen wird, ob es, wie die Gesellschaft anfänglich beabsichtigte, am Mönch endigen, ob es den ersehnten Gipfel erreichen wird, darüber kann in den Anfängen der kommende Sommer, voll und ganz wohl erst das nächste Jahrzehnt uns Aufschluß geben.
Dieser Artikel von Wilhelm Berdrow erschien zuerst 1900 in Die Woche.