Die Pariser „Tante“

Augenblicksbilder aus dem Pariser Leihamt. Von Karl Eugen Schmidt.
Es giebt Augenblicke im Journalistenleben, wo man sich die Haare ausraufen möchte, um so an die Ideen zu gelangen, die ohne Zweifel irgendwo in der Nähe der Haarwurzeln geboren werden.

Zum Beispiel, wenn es sich darum handelt, über die intimen Lebensgewohnheiten des Rajah von Mareputschunn oder über die Religion der Aschantis zu schreiben. In diesem Fall befinde ich mich heute nicht. Ich soll von „meiner Tante“ erzählen, von der lieben guten Tante, die mehr Neffen und Nichten hat als irgendeine Tante von Fleisch und Blut. „Ma Tante“ sagen die Franzosen, wenn sie sich nicht des Ausdrucks „Clou“ bedienen, ein Wort, das alle möglichen Bedeutungen hat, von der ursprünglichen eines Nagels bis zu den übertragenen eines Kulminationspunktes des Interesses, eines Gefängnisses oder eines Leihhauses. In meinem Fall handelt es sich um das Leihhaus, und das freut mich, denn auf diesem Gebiet bin ich Autorität. Viele Jahre bin ich, wie die Erde um die Sonne, im Bogen um ein Pariser Leihhaus herumgezogen, habe zwei Jahre lang keine drei Häuser davon gewohnt, bin ein gerngesehener Stammgast gewesen und habe andere Stammgäste oder gelegentliche Besucher beobachtet und studiert.

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Infolgedessen könnte ich mit Leichtigkeit ein dickes Buch über den „Mont de Piété“ schreiben. Mont de Piété ist der amtliche Name, Clou und Tante sagen die Kunden. Der amtliche Name aber bedeutet nicht Berg des Mitleids, wie ich früher glaubte, sondern Monte nannten die Italiener im Mittelalter die in den Kirchen zu wohlthätigen Zwecken veranstalteten Kollekten, und von den Italienern haben die Nordeuropäer das gesamte Bankwesen übernommen. Damit will ich aber nicht sagen, daß ähnliche Sachen nicht schon lange vorher bestanden: in Freysing im Bayernland gab es schon im Jahr 1198 ein Leihhaus, und damals wußte man da noch nichts von den Finanzkünsten der Lombarden. Die ordentliche Einrichtung dieser Leihanstalten aber ist von Italien nach Frankreich gekommen, und deshalb wurde aus dem Monte di Pietà einfach der Mont de Piété.

Allerhand Silbersachen
Versetzte Uhren, Bronzen und Statuetten

Natürlich besorgten die Lombarden und die Juden, denen man im vierzehnten Jahrhundert die Erlaubnis gab, sich in Frankreich niederzulassen und auf Pfänder Geld zu leihen, dieses Geschäft nicht aus purer Nächstenliebe. Man gestattete ihnen vielmehr den gesetzlichen Zins von vier Hellern auf die Livre für die Woche, was auf das Jahr gerade 86 Prozent ausmacht. Mit Piété hatten diese Monts de Piété also sehr wenig zu thun – und leider steht es damit auch heute noch sehr schlecht. Es giebt allerdings einige Monts de Piété in Frankreich, die ihren Namen verdienen, aber leider erfreut sich die Hauptstadt keines derartigen Etablissements. In Aix, Angers, Lille, Grenoble, Nizza, Montpellier und Toulouse giebt es Pfandhäuser, die unentgeltlich und nur an Bedürftige Geld verleihen, in Paris aber werden die dreißig oder vierzig „Wohlthätigkeitsberge“ nach strengen Geschäftsprinzipien geleitet, und es handelt sich hier nicht sowohl darum, armen Teufeln unter die Arme zu greifen, als profitliche Geschäfte zu machen.

Immerhin werden die Pariser von ihrer lieben Tante noch nicht so grausam behandelt, wie zum Beispiel die Bewohner von Calais. Diese müssen nämlich nicht weniger als 12 ¼ Prozent für das vorgestreckte Geld zahlen, ein Zinsfuß, der dem Wucher bedenklich nahekommt. Die Pariser Tanten dagegen nehmen ihren unglücklichen Nichten und Neffen nur 7 Prozent ab, was schließlich angesichts der durch die Pfänder geleisteten Sicherheit der Rückzahlung immer noch ein sehr hoher Satz ist, besonders, da die Tante ihrem liebevollen Besucher kaum halb so viel vorstreckt, wie sein Pfand wert ist. Für ein wunderschönes Zweirad, das ich allerdings nicht der Not gehorchend, sondern dem eigenen Triebe folgend, im Clou unterbrachte und für das ich wenige Monate vorher 550 bare Frank auf den Tisch gelegt hatte, pumpte mir die Tante ganze 50 Frank, was ich sehr schäbig fand.

Lagerraum für Matratzen und Betten
Lagerraum für Matratzen und Betten

Ich sagte eben: nicht der Not gehorchend, und das muß ich Ihnen erklären. Unschuldige Gemüter bilden sich nämlich ein, nur vertraute Freunde und Bankgenossen des Küchenmeisters Schmalhans gehören zu den Kunden der Tante. Das ist ein Irrtum. In Paris geben viele Leute im März oder April ihren Winterpelz dem Mont de Piété in Verwahrung: da wird er fein säuberlich eingepackt und aufgehoben, die Motten kommen nicht hinein, und er füllt nicht die Schublade und Schränke des Besitzers, was angesichts der Beschränktheit der Pariser Wohnungen ein nicht zu unterschätzender Vorteil ist.

Photographische Apparate

Und außerdem bekommt der Pelzbesitzer noch ein Sümmchen Geld in die Hand. Je weniger es ist, desto billiger wird für ihn der Aufbewahrungspreis. Im Herbst, wenn das Wetter den Aufenthalt im Freien unangenehm macht, nimmt der Radfahrer seine Maschine und bringt sie zur Tante. Die Tante läßt die Sache gehörig einölen und sorgt für treffliche Aufbewahrung, während zu Hause so ein Ding überall im Wege ist, Staub und Schmutz annimmt und den ganzen Winter über seinen Besitzer nur ärgert und gar nicht erfreut.

Auf diese Weise gelangen eine Menge Dinge in den Mont de Piété, ohne daß die Not ihren Besitzer dazu zwänge. Ich habe sogar einen deutschen Künstler gekannt, der die ganze Einrichtung einer Wohnung und Werkstatt ins Pfandhaus schickte, weil ihn das nur wenig mehr kostete, als man im Garde-meuble oder Möbelmagazin für die Aufbewahrung verlangt. Der Mann ging auf ein Jahr nach Italien und wollte während dieser seit die Pariser Wohnungsmiete sparen.

Fahrräder in Pension

Aber im Grunde sind das doch Ausnahmen, und die besten Kunden der Tante sind Leute, die nicht viel zu brechen und zu beißen haben. Das sieht man nicht nur bei einem Besuch im Leihhaus selbst, sondern es geht auch aus den alljährlich veröffentlichten Statistiken hervor, die darthun, daß die allermeisten versetzten Pfänder weniger als zwanzig Frank wert sind. Die geringste Summe, die der Mont de Piéts vorstreckt, ist drei Frank, oben giebt es keine Grenze. In den letzten zehn Jahren haben die verschiedenen Pariser Leihanstalten, die unter einer gemeinsamen Oberleitung stehen und deren offizieller Charakter durch ein Schilderhaus gekennzeichnet wird, vor dem ein Pariser Bürgergardist mit dem Wappen der Stadt auf dem Schako spazieren geht, durchschnittlich sechzig Millionen Frank im Jahr ausgeliehen und dafür 2 ¼ Millionen Gegenstände erhalten. Durchschnittlich beträgt also das geleistete Darlehn 25 Frank. Am stärksten blüht das Geschäft der Tante in den Monaten Januar, April, Juli und Oktober, im übrigen macht die Jahreszeit wenig Unterschied.

Blick ins Leihamt

Zum Schluß noch ein Wort über die im Pariser Leihamt versetzten Gegenstände. An der Spitze stehen der Zahl nach die Kleidungsstücke, wovon jährlich rund 30 000 Pakete zur Tante gebracht werden; dann kommen die Taschenuhren mit 40 000, sonstige Juwelen mit 34 000, Bett- und sonstige Leinentücher mit 30 000, Silberzeug mit 9000, Trauringe mit beinah 8000, Wanduhren mit 4500 und diamantenbesetzte Juwelen mit über 5000 Nummern. Gemälde bringen es nicht sehr hoch und haben die Zahl hundert noch in keinem Jahr erreicht: vermutlich, weil sie keinen festen Marktwert besitzen, der sich mit einiger Bestimmtheit festsetzen ließe, und dann, weil die Arbeiter und Handwerker, die die Hauptkundschaft der Leihhäuser stellen, selten Besitzer von Gemäldegalerien sind. Mehr als zehn Frank leiht die liebe Tante ungern für ein Bild her. Befremdend ist, daß so wenige Klaviere versetzt werden: nur einige fünfzig im Jahr, auf die im Durchschnitt 200 Frank vorgestreckt werden. Andere Musikinstrumente werden etwa 500 an der Zahl für durchschnittlich 8 Frank versetzt; Regenschirme und Spazierstöcke bringen es auf 600 und auf durchschnittlich 4 Frank. Dem Wert nach stehen die auch in der Zahl so bedeutenden Taschenuhren an der Spitze. sie holen jährlich beinah 1 ½ Millionen aus den Taschen der Tante, während die zahlreichen Kleiderpakete nicht ganz 500 000 Frank realisieren. Bronzestatuetten werden jährlich etwa 500 für durchschnittlich 20 Frank versetzt, Fahrräder beinah 2000 für durchschnittlich 35 Frank, und in den letzten Jahren, wo jedermann mit dem Kodak spazieren geht, ist die Zahl der versetzten photographischen Apparate auf rund 700 gestiegen zu durchschnittlich 25 Frank. Am besten aber sind diejenigen Neffen angeschrieben, die der Tante Diamanten und andere Edelsteine bringen. Dafür giebt sie durchschnittlich 500 Frank, und wer Geschäfte mit der Dame machen will, versieht sich also am besten mit Brillanten und ähnlichen glitzernden Dingen.

Dieser Artikel erschien zuerst am 11.10.1902 in Die Woche.