Die Vorgeschichte und wunderbare Verwirklichung des Plans – Witte-Alexander III – Die Inangriffnahme des Baus in Europa und in Asien – Unterbrechung am Baikal. – Die Einteiling der Strecken und der Nebenstrecken – Russische Absichten – Die wirtschaftliche Bedeutung der Bahn für Rußland und Sibirien. – Bodenreichtum und Ansiedlungen – Leiden und Freuden der Kolonisten – Landwirtschaft, Fischerei, Jagd, Pelzwerk und allerlei Handel – Reichtum an Gold und sonstigen Mineral – Steinkohle – Das wahre Gold Sibiriens.
Schon vor vierzig Jahren beschäftigte man sich in St. Petersburg lebhaft mit dem Gedanken, Sibirien durch eine Eisenbahn mit Rußland zu verbinden. Aber die damaligen Projektemacher wagten sich nur an Teilstrecken heran. Vor dem riesenhaften Gedanken, in einem Zug einen Schienenstrang bis an den Stillen Ozean zu legen, schreckten sie zurück. Und selbst diese bescheidenen Entwürfe, über die, nebenbei gesagt, eine Einigung nie erzielt werden konnte, wurden nach und nach wieder ad acta gelegt.
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Es kamen bewegte Zeiten, erst für Mitteleuropa, dann für Rußland. Der letzte russisch-türkische Krieg verursachte eine ebenso trostlose wie andauernde Ebbe in den Kassen des jeweiligen russischen Finanzministers, und jeder Versuch, durch eine Anleihe zu mäßigem Zinsfuß die nötigen Geldmittel für eine sibirische Eisenbahn im Ausland zu beschaffen, wäre von vornherein ganz aussichtslos gewesen. Wußte man doch in Berlin und London sehr genau, daß Rußland bereits Anleihen zur Tilgung seiner Schuldenzinsen kontrahiert hatte! In Börsenkreisen betrachtete man deshalb Rußland als halb bankrott und hielt krampfhaft die Taschen zu, sobald von einer neuen russischen Anleihe die Rede war. Ohne Geld aber keine Eisenbahn. Als die Not nun bis zum Gipfel gestiegen und der Rubel bis auf 1,68 Mark gefallen war, entschloß man sich in Petersburg zu einem schweren Schritt;, zur Annäherung an das republikanische Frankreich. Jedermann weiß, wie mit der Zeit aus dem Freundschaftsverhältnis eine Allianz und das Zarenreich in den Stand gesetzt wurde, mit Hilfe französischen Geldes alle früheren Anleihen zu konvertieren, die Goldwährung einzuführen und den Bau der sibirischen Bahn zu vollenden. Rußland spielte während dieser Zeit mit außerordentlichem Geschick die Rolle des armen Mannes, der voller Kniffe sein muß. Nur mit dem Unterschied, daß der sinnbethörten Frau Marianne die Augen nicht aufgingen, wie in dem Calderonschen Lustspiel der Donna Clara. Sie gab willig ihre goldenen Sparpfennige her und stärkte damit Rußlands Macht und Einfluß in ungeahntem Maß. Der Bau der sibirischen Eisenbahn, die Rußland zum Herrn von Asien macht oder machen wird, wäre ohne das Bündnis mit Frankkreich nicht möglich gewesen, mindestens in so kurzer Zeit nicht.
Um den Bahnbau selbst hat sich in erster Linie der Finanzminister Witte verdient gemacht. Er ist ein aller Eisenbahner, war früher Direktor der russischen Südwestbahnen, dann Chef des Eisenbahndepartements im Finanzministerium und 1892 sogar Minister der Verkehrswege. 1893 wurde er Finanzminister und nahm dann als solcher den Bau in die eigene Hand. Mit den Vorarbeiten zum Bahnbau war indessen schon im Jahr 1886, unter dem Zaren Alexander III., begonnen worden.
In Europa baute man die Strecken aus, an die die sibirische Bahn Anschluß finden sollte. So entstand die Verlängerung der Moskau – Samarabahn, zunächst bis nach Ufá, und dann weiter, durch den Ural, über Slatoust bis an die sibirische Grenze. Bereits 1890 konnte diese Strecke dem Verkehr übergeben werden. Ein Jahr später legte der damals von seiner Weltreise heimkehrende Großfürstthronfolger, jetzige Kaiser, den Grundstein für das Stationsgebäude in Wladiwostok und that den ersten Spatenstich zum Bau der „Großen sibirischen Eisenbahn“. Von allen Seiten begannen nun die Arbeiten gleichzeitig, und heute ist das Schienengleis fertig durch ganz Sibirien bis nach Wladiwostok. Nur auf der sogenannten Baikalumgehungsbahn, von Station Baikal bis nach Myssowaja, ist man im Rückstand geblieben. Doch wird an dieser bloß 292 Werst langen Strecke, nachdem man eingesehen hat, daß es unmöglich ist, den Winterverkehr über den mächtigen See durch Eisbrecher zu erzwingen, eifrig gearbeitet.
Die ganze sibirische Eisenbahn zerfällt in drei Hauptstrecken: die westsibirische, von Tscheljabinsk bis zum Ob, die mittelsibirische bis Irkutsk und die ostsibirische (Transbaikalbahn) bis Wladiwostok. Als angegliederte Strecken kommen hinzu: die Uralbahn, mit einem Ausläufer nach Tjumen, die Zweigbahn von Taiga nach Tomsk, die plötzlich unterbrochene Strecke von Kaidalowo nach Srjetensk (über welchen Punkt hinaus man ursprünglich die Bahn, anstatt durch chinesisches, durch russisches Gebiet, längs des Amur, nach Chabarowsk weiter führen wollte) und die Ussuribahn, von Chabarowsk nach Wladiostok. Später würde wohl auch noch die Verbindungshahn zum Gelben Meer, nach Port Arthur hinzuzurechnen sein. Denn es liegt auf der Hand, daß Rußland sich in Nord- und Ostchina mit großen Plänen trägt, die es früher oder später durchzusetzen versuchen wird.
Die Hauptbedeutung der Bahn liegt aber auf wirtschaftlichem Gebiet. Sibirien, ein Land eineinhalbmal größer als Rußland und das übrige Europa zusammen genommen, lag eigentlich bis jetzt noch völlig brach. Selbst in Rußland war die Kenntnis des weiten Gebiets nur beschränkt. Heute ist allgemein bekannt, daß auf Erden für den Ackerbau keine fruchtbareren Landstriche existieren, als in West- und Mittelsibirien, im Bereich der Einflußsphäre der Eisenbahnlinie. Denn darüber hinaus ist man noch nicht weit vorgedrungen, namentlich nach Norden nicht, wo dichte Wälder (Tundren) Halt gebieten. Die Bahn soll Ansiedler aus allen Gegenden Rußlands herausführen, damit Menschenhände die unermeßlichen Schätze heben.
Schon sind längs der ganzen Bahnlinie neue Niederlassungen entstanden, zwischen Tscheljabinsk und dem Tobol, im Kurgangebiet, bei Petropawlowsk, Omskt, Kainsk, Tomsk, Marünsk, Atschinsk, Krasnojarsk und fast an allen Zwischenstationen: bis nach Ostsibirien hinein haben sich mit amerikanischer Geschwindigkeit Dörfer und Ortschaften gebildet, deren Bewohner zufrieden sind und es mit der Zeit vielleicht zu einem Wohlstand bringen werden. Die Regierung thut alles, um diese Leute zu unterstützen. Auf allen wichtigen Stationen sind Unterkunftsräume für Einwanderer erbaut, Verpflegungs- und Sanitätsstationen errichtet. Für wenige Rubel befördert die Bahn ganze Familien von Kolonisten aus dem Süden Rußlands bis nach Ostsibirien. Freilich ein Vergnügen ist das Reisen für sie trotzdem nicht. Oft werden sie wochenlang auf Stationen zurückgehalten, weil es an rollendem Material mangelt, und im Winter pfercht man sie häufig in ungeheizte Viehwagen hinein, eine Behandlung, wie sie nur ein russischer Muschik schadlos zu überdauern vermag. Die sibirische Schwarzerde entschädigt sie dann aber reichlich für die ausgestandenen Leiden, denn der Boden bringt, fast ohne menschliches Zuthun, Hafer, Weizen, Roggen, Buchweizen, Gerste u.s.w. in hundertfältiger Frucht hervor. In zahlreichen Strömen, größeren und kleineren Flüssen wimmeln unglaubliche Mengen der schmackhaftesten Fische, und auch die Jagd ist, weil noch wenig Konkurrenz auf diesem Gebiet vorhanden, verhältnismäßig ergiebig. Wer von Pelzwerk etwas versteht, die Jagd auf Pelztiere kennt und sich ihren allerdings nicht geringen Mühen unterziehen will, der kann es vielleicht noch in kürzerer Zeit zum Wohlstand bringen, als der Landbebauer.
Auf der letzten Auktion in London wurden beispielsweise die edelsten sibirischen Zobel mit 62 Pfund Sterling für das Fell bezahlt. Hundert solcher Felle, und Michail Iwanowitsch könnte sich in Moskau oder Petersburg zur Ruhe setzen. Leider ist die Sache etwas schwieriger, als man denkt; solche teuren Felle sind sehr selten, und das Hauptgeschäft macht nie der Jäger, sondern stets der Händler.
Sehr viele Bauern handeln übrigens nebenbei mit in den Wäldern massenhaft vorhandenem Wildgeflügel (Hasel-, Birk. und Auerhühnern); auch soll das Sammeln von Zedernüssen (die Zeder ist stark vertreten in Sibirien) eine gute Nebeneinnahme abwerfen.
Das unsicherste Gewerbe aber ist das der Goldgräberei. Weder die Krone noch die Privatgesellschaften konnten ihre Rechnung dabei finden, denn die Ausbeute wurde meist ganz primitiv betrieben (durch einfaches Waschen) und von dem bißchen gewonnenen Gold dann noch regelmäßig die Hälfte gestohlen. Jetzt, nachdem die Eisenbahn fertig ist, hat sich zu rationellerem Betrieb eine Privatgesellschaft gebildet, an deren Spitze das Bankhaus Günzburg steht. Die Regierung hat dieser Kompagnie vier Millionen Rubel vorgeschossen, die nach und nach aus den Erträgnissen zurückgezahlt werden sollen. Wenn ich recht unterrichtet bin, hat diese Gesellschaft im Lenagebiet augenblicklich 23 Gruben im Betrieb. Man muß sich aber vergegenwärtigen, daß allein im Gouvernement Jenisseisk über 300 bekannte Goldfundorte existieren, daß das Jakutskische Gebiet noch bei weitem reicher an Goldfundstellen ist, und daß das Amurgebiet dem Jakutskischen an Goldreichtum nur wenig nachsteht. Die meisten sibirischen Flüsse führen Gold mit sich. An der Naja, der Kija, im Gebiet des Tschulym, des Ob, des Jenissei, der Lena, bis hin zum Amur und in das Gebiet des Ussuri – überall wird Gold gefunden. Vorläufig hat man allerdings, im allgemeinen gesprochen, noch nicht viel Freude daran erlebt. Es ist aber sehr möglich, daß die Vollendung der Bahn, die Möglichkeit, nun größere Maschinen heranzuschaffen, auch hierin Wandel schafft. Alles Gold muß in die kaiserlichen Goldschmelzereien in Tomsk und Irkutsk abgeliefert werden. Die Goldgräber erhalten dann, je nach dem Reingewicht und nach Abzug eines gewissen Prozentsatzes, Anweisungen auf die Regierungkassen, die ihnen den Wert in bar auszahlen. Außer Gold kommen Silber, Blei, Kupfer, Eisen (letzteres besonders am Baikalsee) fast überall in Sibirien vor. Aber besonders wichtig (namentlich für Bahn und Industrie) ist die Auffindung reicher Steinkohlenlagen die in großen Mengen vorhanden zu sein scheinen und denen nur die am linken Ufer des Irtysch im Pawlodar entdeckten, erwähnt werden sollen deren Gehalt auf etwa 500 Milliarden Pud ( Pud etwa 16 Kilogramm) geschätzt wird. Die Qualität der Kohle läßt aber zu wünschen übrig, und die Eisenbahnverwaltung ist von ihr durchaus nicht erbaut. Damit soll aber keineswegs gesagt werden, daß mit der Zeit nicht Flötze mit tadelloser Kohle erschlossen werden könnten. Denn alles ist ja noch neu in Sibirien, noch im Werden, und gründliche Untersuchungen konnten erst an wenigen Stellen vorgenommen werden. Zweifellos aber wird das Vorhandensein so mächtiger Kohlenlager der Entwicklung einer sibirischen Industrie sehr zu statten kommen, und man darf gespannt sein, wie sich die Zukunft dieses neuen Wunderlandes binnen wenigen Jahren gestalten wird. Doch Menschenhände müssen herbei! Vor allen Dingen die Hände ehrlich schaffender Bauern. Nicht solche, die nur vom Raubbau leben, wie das bisher in ganz Rußland der Fall gewesen ist. Der einst so reiche Boden Südrußlands ist durch bäuerliche Mißwirtschaft fast ganz ruiniert worden.
Die Regierung hat eine bittere Erfahrung mit der dortigen Landwirtschaft gemacht und wird hoffentlich Vorkehrungen treffen, daß das System des Raubbaus, das völlige Aussaugen des Ackerlandes, nicht auch auf Sibirien übertragen wird. Denn das wahre Gold Sibiriens liegt in der Pflugschar, in der schwarzen Erde.
Und ohne ernst schaffende menschliche Arbeitskräfte lassen sich auch die kostbarsten Schätze des Bodens nicht heben und erhalten.
Dieser Artikel von Woldemar Horst erschien zuerst in Die Woche 50/1902.